Anne Rabe - Die Möglichkeit von Glück (ist in dem Buch leider vertan)

  • Meine Bewertung: 4 Sterne


    Familiengeheimnisse – da denkt jeder sofort an alte Gemäuer, versteckte Dinge über die lieber geschwiegen werden soll. In der Regel spannende Unterhaltung. In Anne Rabes Buch „Die Möglichkeit von Glück“ ist das anders. Es geht nicht um alte Gemäuer, aber um Dinge, über die geschwiegen wird und das Buch liest sich nicht leicht. Rabe springt zwischen den Perspektiven hin und her, wechselt permanent das Genre; mal Essay, mal Bericht, mal Sachbuch und dann wieder erzählende Fiktion. Wer sich darauf nicht einlassen will, sollte die Finger von dem Buch lassen.


    Die Protagonistin ist Stine, das Alte Ego der Autorin, geboren 1986 in einer Stadt, von der nur bekannt ist, dass sie an der Ostsee liegt. Mit einer Akribie, die an manchen Stellen schon Züge des Stalkings trägt, dringt sie vom Heute aus in das vergangene Leben ihrer Eltern und ihres Großvaters Paul ein. Sie will die Ursachen der Gewalttätigkeit ihrer Mutter, zu der sie keinen Kontakt mehr hat, gegenüber ihr und ihrem jüngeren Bruder Tim während ihrer Kindheit in den 1990ern herausfinden. Ein typischer Mutter-Tochter-Konflikt, denn Tim hat überhaupt kein Interesse, die Gewalt, die auch ihm widerfuhr, zu hinterfragen. So weit so gut; das Thema ist nicht unbedingt so neu, als dass es auf die Shortliste des Deutschen Buchpreises kommen muss. Das Narrativ muss etwas haben, was in den Zeitgeist passt und das Thema interessant macht.


    Rabe bedient sich der Methode der Suche nach Sündenböcken. Selbstreflexion scheint ihr fremd. Sie verortet die soziale Herkunft ihrer Mutter in einem düsteren Land, die ihres Großvaters Paul in einem noch düsterem Land. Als beide Länder abhanden gekommen sind, extrahiert sie aus dem Verlust der Düsternis die Ursache der Gewalt ihrer Mutter. Rabe erklärt das Düstere, in Bezug auf ihre Mutter, die im pädagogischen Bereich tätig war, mit schwarzer Pädagogik, bei der man den Eindruck gewinnt, Rabe hat in diesem Moment The Wall von Pink Floyd gehört. Der Hass gegen ihre Mutter wirkt beängstigend; bei Großvater Paul ist Rabe milder gestimmt – vielleicht weil sich dieser nach dem Verlust des ersten, düsteren Landes „Nie wieder Düsternis!“ auf die Fahnen geschrieben hat.

    Würde Rabe nur im Privaten bleiben, wäre die Story nachvollziehbar, aber sie verlässt diesen Bereich und verallgemeinert ins Gesellschaftliche. Sie bedient fast jedes Klischee, das heute über das düstere Land existiert. Sie schlussfolgert, dass die Opportunität ihrer Mutter und deren Generation aus dem düsterem Land, die Ursache heutiger Gewalt im Land ist. Sie sieht sich als eine moralische Instanz, die beliebig urteilen, exakter verurteilen darf, verallgemeinern darf und wundert sich, dass ihre Verurteilten schweigen. Warum sollten sie auch reden? Sie sind verurteilt und Rabe erwartet danach, dass die Verurteilten sich demütig rechtfertigen. Der, der sich rechtfertigen muss, ist unten, nicht auf Augenhöhe mit dem, der Rechtfertigung einfordert, der ist oben. Rabes Text ist nicht darauf ausgerichtet, zu hinterfragen, er kommt der Position Rabes Großvaters sehe nahe – „Nie wieder…!“. Sie löst die Spirale des Schweigens nicht auf, sie dreht sie weiter.


    Der Grund, warum das Buch trotzdem 4 Sterne erhält, es beschreibt sehr exakt, wie Diktaturen nicht erklärt, nicht erkannt und nicht verhindert werden können.