Charlotte Gneuß - Gittersee

  • Gittersee - ein unbedeutender Stadtteil im Südwesten Dresdens. Nichts was Touris faszinieren könnte. Es gab dort mal Bergwerke, zuerst eines für Steinkohle und dann für Uran. Nur einmal machte Gittersee Schlagzeilen, 1989, ein Reinstsiliziumwerk sollte gebaut werden und der Transport der dafür benötigten Chemikalien auf dem Straßenweg ließ die Menschen aufstehen.

    Gittersee – Charlotte Gneuß’ Debütroman und ein Roman, der von einer Autorin geschrieben wurde, die den Osten nie selbst erlebt hat; Gneuß ist Jahrgang 1992. Er stand auf der Longlist des deutschen Buchpreises. Darf sie darüber schreiben? Ist das schon kulturelle Aneignung? Hieß es im Osten Plastik oder Plaste? Ist das wichtig? Für manche und manchmal schon.


    Schon nach wenigen Seiten wird klar, die Handlung ist von Beliebigkeit gekennzeichnet. Das Rezept ist simpel, man nehme irgendeinen Ort im Osten, irgendein Jahr der 40 Jahre DDR, irgendwelche Personen, die dort gelebt haben, lässt sich irgendwas mit Stasi einfallen, aber nicht allzu komplex, packe noch etwas anekdotisches Wissen hinzu – und schon steht man auf der Longlist des deutschen Buchpreises. So einfach ist das!

    Das Problem solche Bücher ist, damit wird im Westen der Osten erfunden – ja, so muss das dort wohl gewesen sein. Dirk Oschmann lässt grüßen. Der Osten muss ein monolithischer Klotz aus SED-Diktatur, Unrechtsstaat, Unfreiheit, Mauer und Stasi gewesen sein. Allein die Sprache der Protagonistin Karin ist primitiv, ich kann mich schon auf dieser Ebene nicht wiedererkennen. Ich hätte sie, ohne Wissen ihres Alters, auf 12 geschätzt. Ist es wirklich so schwer, herauszufinden, wie sich Jugendliche in den 1970ern im Osten unterhalten haben? War Schule wirklich so ein Gruselkabinett? Zufällig war ich 1976 im selben Alter wie Karin und kann das sehr genau einschätzen. Hatte der S. Fischer Verlag keinen Lektor frei und Gneuß keine Zeit, Görlichs Wolkenbuch oder „Eine Anzeige in der Zeitung“ zu lesen? Mit diesen beiden Büchern bekommt man ein Gefühl für die Sprache meiner Jugendzeit und wie Schule war.


    Die Handlung bleibt bis zum Schluss im Unverbindlichen, stellt keinen Kontext ins Jahr 1976 her. Ich hatte am Anfang den Eindruck, die Handlung ist Mitte bis Ende der 1980er zu verorten. Die düsterliche Atmosphäre passt eher zur Endzeitstimmung der 1980er, aber nicht zu den 1970ern. Der Beginn der 1970er war kulturell durch eine Aufbruchstimmung gekennzeichnet, die einen ihre Höhepunkte 1973 durch das „Woodstock des Ostens“ hatte und abrupt im November 1976 durch die Biermann-Ausbürgerung einen Tiefschlag erlitt. Aber der Geist war aus der Flasche und ließ sich nicht mehr einfangen.


    Die Familie; heute würde man sagen prekär. Mutter, Köchin im Bergwerk, fühlt sich zu Höherem berufen; ihr fehlt nur noch der Berg, den sie versetzen kann. Den sucht sie in einer Auszeit und außerhalb der Familie. Vater, scheint zwei linke Hände zu haben und flüchtet in den Alkohol. Die kleine Schwester Karins, ein Nachzügler, hängt wie eine Klette an Karin. Letztendlich noch die Oma, die die Zeit als Blitzmädel im WK II nachtrauert und ihrem pazifistischen Mann, der im Krieg blieb, verachtet. Eine Konstellation die Konfliktpotential bietet, aber nicht im Geringsten ausgenutzt wird. Karin findet Halt in ihrem Freund Paul und der Mitschülerin Marie. Paul flüchtet in den Westen, Karin versteht das nicht. In der Realität hätte an dieser Stelle das Jugendamt in der Tür gestanden, in der Fiktion taucht der Stasimann Wickwalz auf.

    Er nimmt sie ernst, gibt Karin eine Art Vaterersatz, ohne dass sie merkt, was für ein Spiel er spielt. Sie soll berichten, über Paul, Schule und Rühe, Pauls Freund.

    Die Personenkonstellation wirkt gekünstelt. Für mich bleibt der Eindruck, die Handlung bestimmt die Personen und nicht umgekehrt. Die Personen wirken für mich zu klischeehaft, als hätte Gneuß sie für die Handlung konstruiert.


    Das grundlegende Problem der Handlung besteht darin, dass es für jemanden, der in dieser Zeit und in diesem Land gelebt hat, wenig bis gar keine Indentifikationspunkte gibt. Die Figuren leben in ihrer privaten Blase. Es wird kein gesellschaftlicher Kontext hergestellt, der eine zeitliche Verortung zulässt. Da helfen auch die Puhdys-Songs ‚Jodelkuh-Lotte‘ und ‚Steine‘ nicht weiter; beide auf dem 2. Album, erschienen 1974. 1976 wurden ganz andere Songs der Puhdys gespielt und die sollte man kennen, wenn man der Meinung ist, über die DDR und dem damaligen Zeitgeist etwas zu schreiben.

    Gerade die Biermann-Ausbürgerung im November 1976 hätte Stoff hergegeben, um über die anekdotische Erzählung hinaus tiefer in das Wesen meiner Generation einzudringen. Die Konstellation, Paul findet DDR scheiße, flüchtet in den Westen, Karin hat keine Ahnung, die Stasi kommt und wickelt Minderjährige als potentielle IM ein, lockt im Osten keinen mehr hinter den Ofen hervor.


    Meine Generation könnte erzählen, zu spät geboren, um Deutschland noch ohne Mauer bewusst zu erleben und zu früh geboren um Deutschland mit Mauer nicht mehr bewusst zu erleben. Aber meine Generation schweigt, es ist die „schweigende Generation“, die sich in den 1990ern lieber vom Westen ihr Leben erklären ließ, heute von ihren Kindern und in beiden Fällen gefälligst devot zuhören soll. Wenn diese Generation nicht bald laut wird, hat sie es nicht besser verdient!


    PS(1): Der Anfang und das Ende des Buches erinnern mich an einen Edgar Wallace-Krimi.

    PS(2): Die nächste Interpretation meiner Generation ist schon auf dem E-Bookreader und zur Hälfte gelesen - Anne Rabe "Die Möglichkeit von Glück"


    ASIN/ISBN: 3103970889