Emily St. John Mandel: Station Eleven / Das Licht der letzten Tage

  • Emily St. John Mandel: Station Eleven, in der schönen Ausgabe von Picador Collection.

    London 2014.

    Auf Deutsch als Das Licht der letzten Tage.

    Die kanadische Autorin war mir durch einen Vortrag zu einem älteren Werk, Sea of Tranquility, auf der FinnCon 2023 aufgefallen, worin verschiedene Raumzeit-Ebenen erzählt werden sollen, ohne konkret Zeitreisen zu verwenden. Tom hat den Roman hier besprochen.


    In Station Eleven geht es im Intro um Kirsten, ein kleines Mädchen, die Statistin bei einer King Lear-Aufführung ist und zusehen muss, wie der Hauptdarsteller Arthur auf der Bühne stirbt (Herzinfarkt). Der eigentliche Roman spielt 20 Jahre später, nachdem eine Schweinegrippe die Menschheit nahezu ausgerottet hat. Kirsten hat als junge Erwachsene kaum noch Erinnerungen an die Zeit vor der Pandemie, sie zieht mit einer Schauspieltruppe durchs Land (Region Great Lakes) und führt in der Tradition eines Wanderzirkus' Dramen von Shakespeare auf. Soweit, so gut, aber dann nimmt der Roman einfach immer neue Fäden auf, viele davon in der Vergangenheit vor der Pandemie und diese Schauspielsache wird dann auch nahezu ganz fallengelassen.


    Nebenbei geht es um eine von drei jungen Ehefrauen Arthurs, die ein mehrbändiges Comic mit dem Titel 'Station Eleven' zeichnet, und das im Laufe des Buches auf verschiedenen Umwegen in die Hände verschiedener Protagonisten gelangt.


    Mir war - auch als eifrige Phantastik- und SF-Leserin - bis zum Ende völlig schleierhaft, was Mandel in dem Roman eigentlich erzählen will, und warum so viele Figuren vorkommen müssen bzw. sehe ich zudem keinen triftigen Grund für diese extrem achronologische Struktur. Abgesehen von der Art der Pandemie ( = dezente social science fiction) ist auch nix Spekulatives daran. Der Klappentext, dass es um dieses 'traveling theatre' geht, stimmt letztlich so gar nicht, weil tausend andere Sub-Stories angerissen werden und diese Geschichten ließen sich gut ohne diesen ganzen Teil erzählen - eigentlich ist das nur ein Motor, Protas von A nach B zu bringen, ohne sich dafür speziellere Gründe ausdenken zu müssen.


    Zwei Punkte fand ich sehr gut, daraus wird aber nix gemacht, beides wird aufgebaut und ohne weitere Erwähnung fallengelassen: Das "Geister"-Flugzeug am Ende des Runways (irre gruselige Idee!) und der Strang um den Flughafen / das Museum der Zivilisation.


    Noch etwas Positives: Was mich beim Reinlesen zum Kauf verleitete und was so alle 10 Seiten mal aufblitzt, zumindest bis zum letzten Viertel: Ihre auktoriale Erzählstimme gefällt mir enorm gut. Wenn es mal nicht um Figur / Prota X geht, sondern um die reine, neutrale Erzählstimme, die etwas zum Setting sagt oder bisschen rumphilosophiert. Da sind einige Sätze (leider mehr als ganze Passagen), die ich gleich zwei-, dreimal gelesen hab, davon ein ganzer Roman ... wow. Das ist aber - zumindest in diesem Buch - ganz offensichtlich nicht ihr Interesse.


    Meine Kritik im Einzelnen:

    - Mega character soup, viel zu viele Protagonisten bzw. zu wenig Trennung von Prota vs Nebenfiguren, zumal keine einzige von denen irgendeine Entwicklung durchmacht.

    - Damit auch headhopping: Kaum wird jemand erwähnt, steckt man auch in deren Köpfen - die letzte Figur wird sogar 30 oder 20 Seiten vor Ende eingeführt. Beides sind einfach handwerkliche Fehler.


    - Ich hatte gehofft, der Roman wäre quasi bipolar-genial, dass Mandel da mit allen Teilen gekonnt jongliert - es ist aber eher ADHS, ein unkontrolliertes und zu stark detailliertes Herumspringen zwischen viel zu gleich gewichteten Figuren und viel zu kleinteiligen Aspekten. Es geht episch in die Breite und Länge, aber nicht in die Tiefe.


    - Der Erzählung fehlt imA jeglicher rote Faden auf Konzeptionsebene (das mit dem Comic zählt für mich nicht, weil es nicht tatsächlich mit dem Plot verbunden wird, es taucht nur als Kleister auf). Vor allem aber: Es gibt keine literarischen Konflikte und vor allem keine Konsequenzen - alles passiert wie es passiert und dann hört es irgendwann einfach auf. (Gut, wir wissen, wer die Comix wohin weitergereicht hat und woher die Ideen darin kommen, aber das ist imA völlig arbiträr.)


    - Es sieht für mich so aus, als gäbe es das Comic um Station Eleven nur, weil sich damit Figuren & Storylines reim-dich-oder-ich-schlag-dich verbinden lassen, die eigentlich nix miteinander zu tun haben würden. Dito das Herumreiten auf Shakespeare und bes. King Lear, das zumindest imA nicht thematisch/motivisch mit der Erzählung verbunden ist. (Arthur hat drei jüngere Frauen und Lear hat drei Töchter, aber keine der Frauen verrät ihn und keine behandelt ihn schlecht, das passt also nicht.)


    - Generische Protas, nicht nur Miranda und Kirsten sind zum Verwechseln ähnlich, auch die jeweils älteren und jüngeren Männer. Keine der Figuren zeigt irgendwelche Emotionen, außer Langeweile, Eifersucht, vage Enttäuschungen, Gleichgültigkeit. Zum Setting / Plot nötige wären: Angst, Panik, Hoffnungen und ganz vor allem Trauer, aber Fehlanzeige. Ich soll mich engagieren, wenn jemand für seinen gelähmten Bruder wagenweise Lebensmittel ranschafft, dann aber stirbt der Bruder und der Prota sagt: "Klar gings mir nicht gut, aber anderen wird es noch schlechter gehen". Like, really?! That's it?


    - Der Treck der Theaterleute, das Comic, der Prophet und sogar die gesamte Pandemie erscheinen mir eigentlich nur wie ein auf künstlich interessant gebürsteter Backdrop, vor dem sich - großenteils durch Rückblenden / Erinnerungen eh sozialrealistisch - Szenen und (Beziehungs-)Probleme abspielen, für die man überhaupt keinen spekulativen Rahmen benötigt hätte: Flirts, Trennungen, Jobs, der Jet-Set, Paparazzi undundund ... Weil es klar langweilig klingt, wenn man sagt: "Ich stand auf und putzte mir die Zähne", aber wie dramatisch-spannend ist es zu sagen: "Als ich mir am letzten Tag der Menschheit die Zähne putzte".


    - Alles wird über Figuren erzählt, es gibt trotz auktorialer (bzw. auktorial/personaler) Erzählperspektive so gut wie keine übergeordneten Beschreibungen der Schauplätze, von Entwicklungen, mal bissl rausgezoomt, das nicht direkt aus Figurensicht extrem persönlich gesehen wird. Dieser wirklich extreme Menschen-Fokus ging mir im Buch vielleicht sogar am meisten auf den Keks.


    - Logiklöcher: Wo sind all die Milliarden Toten, was passiert mit der Industrie, Atomkraftwerken, Biowaffen oder nur Kühlschränken - wieso ist alles auf Anhieb so naturverbunden rural?


    [Spoiler alert]

    Meine Idee, dass die Personen bzw. die Realität und das Comic irgendwie spekulativ verbunden wären, hat sich nicht bestätigt. Ebenso wenig mein Eindruck, Miranda und Kirsten und vielleicht sogar der Captain aus dem Comic wären in parallelen Universen dieselbe Person - was sogar im Buch selbst ganz explizit thematisiert / geteasert wird. Sogar dieses "Verschwinden" der Symphoniker und die Sache mit dem 'dreifach auftauchenden' Hund erklären sich ganz banal.


    Vielleicht übersehe ich einen total genialen Schachzug hier, wäre echt auf andere Sichtweisen gespannt.

    Mich stört auch etwas, das ich als extrem häufigen Fehler in Dystopien oder SF generell sehe: Es gibt das Jetzt im Sinne der Erzählzeit und es gibt Referenzen / Erinnerungen auf das Jetzt im Sinne unserer Realität heute. Dazwischen existiert nichts, es gibt keine neuen Traditionen, keine erzählenswerten Geschichten aus dieser Zwischenzeit.

    Solche Autoren kommen mir immer bissl faul vor: Klar, die jetzige Realität kennen die Leser, das ist ein einfacher Bezugspunkt. Und dann ist Tag XY zwanzig oder zweitausend Jahre in der Zukunft und das ist ein singulärer Punkt, über den erzählt wird. Überlegt man, was allein zwischen 1900 und 2000 passierte, erscheint mir das total unrealistisch. Es bedeutet eben, dass man sich nicht nur eine spekulative Welt zu einem gewählten Zeitpunkt (z.B. in Station Eleven: 20 Jahre nach einer Pandemie / human extinction) ausdenken muss, sondern auch die Welt in den 20 Jahren von jetzt bis dahin.


    Positives Gegenbeispiel: Metro 2033 entwirft eine überzeugende Welt, die ohne ständige Erinnerungen oder Referenzen aufs reale Hier & Heute auskommt, das Buch wird selbstbewusst in der Zukunft erzählt, in der es spielt. Mandel dagegen lässt noch 20 Jahre after the fact Leute an Klimaanlagen denken, aber nicht an etwas, das ihnen in der neuen Zeit gefallen würde: ein klarer, kalter See zum Abkühlen etc.


    Das Ganze bedeutet, dass ich es mit keinem weiteren Roman der Autorin versuchen werde.


    Station Eleven.jpg