Jonathan Franzen: Crossroads

  • Baldrian in Buchform


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    Wenn man 832 Seiten als Ouvertüre einer über mehrere Jahrzehnte gespannten und auf drei Bände ausgelegten Familiensaga gereicht bekommt, darf man nicht erwarten, dass man vor Thrill und Action atemlos weiterblättert. Tatsächlich aber erreicht die Lektüre von „Crossroads“ den gegenteiligen Effekt. Es ist meistens ziemlich ermüdend.


    Der Großmeister einer Erzählform, die viele inzwischen für anachronistisch halten, arbeitet sich mit diesem Roman an seiner eigenen Kindheit ab. Er erzählt von der sechsköpfigen Familie Hildebrand und spielt in den frühen Siebzigern. Russ Hildebrand, der Papa, ist Pfarrer in einer kleinen protestantischen Gemeinde, in der ein junger, mit Hildebrand konkurrierender Pfarrer das extrem erfolgreiche (und etwas diffuse) „Crossroads“-Projekt ins Leben gerufen hat, um Jugendliche an die Kirche, vor allem aber an sich selbst zu binden. Hildebrands hübsche Tochter Becky schließt sich dem Projekt an, um an den coolen Tanner zu kommen, aber auch der dreizehnjährige Perry, hochbegabt, extrem clever und schwer drogensüchtig, nimmt an der Bewegung teil, die unter anderem regelmäßig in ein Navajo-Reservat fährt, um an den Indigenen, die seinerzeit noch als „Indianer“ gehandelt wurden (was Franzen nicht daran hindert, hier und auch an anderen Stellen eine vorsorgliche Sprachaktualisierung vorzunehmen und seinen Figuren Jetztzeit-Denke unterzujubeln), eine Art Wiedergutmachung zu leisten. Aber Hildebrand, der diese Idee eigentlich entwickelt hatte, ist vom Konkurrenten geschasst worden. Dann gibt es noch das jüngste Kind, für das sich keiner so richtig interessiert, und den beinahe erwachsenen Clemt, den einzigen aktiven Atheisten der Familie. Perry zählt eher als Agnostiker.


    Franzen erzählt aus verschiedenen Perspektiven ein Stück Geschichte dieser Familie, beginnend in der Weihnachtszeit 1971, aber er kommt auf den gut achthundert Seiten nicht besonders weit. Leider wird auch bis zum Ende dieses ersten Bandes nicht wirklich klar, worauf er mit dieser Geschichte überhaupt hinauswill. Es geht sehr um Gottesfürchtigkeit, es geht um Ehrlichkeit, es geht um Freundschaft, Liebe, Konkurrenz, Selbstüberschätzung usw. usf., aber die Story nimmt keine Richtung, findet abseits der omnipräsenten und kaum nachvollziehbaren, daherbehaupteten Gläubigkeit, die oft eher zufällig in Erscheinung tritt, keinen gemeinsamen Faden. Die Mehrdeutigkeit des Titels legt nahe, dass es langfristig u.a. darum geht, wie sich all die Schicksale gegenseitig beeinflussen, was allerdings das Fundament fast sämtlicher Erzählungen ist. So oder so ist es schwierig, Interesse für die Familie Hildebrand zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Franzens großartiger, manchmal allerdings unnötig komplizierter Erzählstil vermag das auch nicht auszugleichen - das Personal wirkt holzschnittartig, gleichsam blutleer, obwohl oder vielleicht auch gerade weil es über sehr originelle Eigenschaften verfügt, ohne diese jedoch zu unterfüttern, in ihrer Einzigartigkeit mit Bedeutung auszustatten. Nur Perry, das drogensüchtige Genie, weckt anfangs etwas Interesse, während man den Entwicklungen der anderen Figuren bei ihren teilweise extrem dramatischen, aber willkürlichen Erlebnissen zuschaut, ohne dass irgendwas davon naheginge. Dafür ist die Erzählung zu akademisch, zu sehr darauf fixiert, liefern zu wollen, und dieses Krampfhafte, Überladene wirkt einschläfernd.


    Wie viele Fortsetzungen auch immer geplant sind (bei dieser Erzählgeschwindigkeit halte ich ein gutes Dutzend für möglich) - ich werde mich mit ihnen nicht befassen. Dann lieber gleich Baldrian.


    ASIN/ISBN: 3499275740