Das neueste Technik-Gadget kommt in ganz und gar altmodischer, harmloser und zudem technisch längst etablierter Gestalt daher: Kentukis sehen aus wie ganz gewöhnliche Plüschtiere, Modell Panda, Kaninchen, Drache, Krähe, Maulwurf und einige mehr. Bloß, dass sie auf Räder montiert sind. Bloß, dass in ihrem Inneren eine Kamera steckt mit einer WLAN-Verbindung zu einem anderen Menschen. Ein Kentuki hat nämlich immer mindestens zwei Besitzer: den mit dem Plüschtier (der Herr/die Herrin) und den mit dem Zugangscode (das Kentuki oder das Wesen). Den, der sich zeigt, und den, der beobachtet. Am Anfang sind sie sich fremd. Sie können Kontinente voneinander getrennt sein. Wer mit wem verbunden wird, entscheidet die Herstellerfirma. Die Stimme des Herrn oder der Herrin, und nur diese, werden dem Wesen übersetzt. Das Kentuki kann nicht sprechen, aber Wege, miteinander zu kommunizieren, gibt es viele, so werden sich Herr/in und Kentuki zumindest einseitig mit der Zeit immer vertrauter.
Was sich zunächst nur wie ein übergeschnapptes Spiel anhören mag, hat viele Tücken. Aber daran denken die meisten Käufer am Anfang entweder nicht - oder gerade das macht für sie den Reiz aus.
Warum setzt sich einer - potentiell - ständiger Überwachung aus?
Zum Spaß. Für den Kick. Aus Langeweile. Aus Berechnung. Aus Einsamkeit. Aus schierer Verzweiflung.
Da sind die zwei Kaninchen-Kentukis, die der Betreiber eines Pflegeheims für die Bewohner gekauft hat: Läuft der Akku eines Kentukis leer, bricht die Verbindung unabänderlich ab. Ein Kentuki kann nicht wieder in Betrieb genommen werden - ein Kentuki, ein Leben. Oder aber wenn der am anderen Ende die Verbindung kappt. Zum Teufel mit dem Kaufpreis: Niemand möchte Kentuki in einem Pflegeheim sein!
Da ist Alina, die ihrem Lebensgefährten Sven in eine Künstlerkolonie gefolgt ist, der Junge Marvin aus schwerreichem Haus, der nach dem Tod seiner Mutter so verzweifelt gerne Schnee sehen möchte, Emilia aus Lima, der die Firma ein Kentuki zugeteilt hat, das in der Wohnung einer Frau in Erfurt steht, die ihre Tochter sein könnte, da ist Enzo, dessen Ex-Frau ihm auf Anraten einer Psychologin einen Kentuki für ihren gemeinsamen Sohn „verordnet“ hat, da ist Grigor, der weder Herr noch Wesen sein will, aber wittert, wie die Wünsche Anderer ihn und seinen Vater aus ihrer prekären finanziellen Lage heraushelfen könnten.
Beziehungen zwischen Kentuki und Herr können tragisch verlaufen, denn sie sind anfällig für Missverständnisse, einseitig aufkommende Wünsche, entstehende Abhängigkeiten. Was, wenn ein Wesen - Mann, Frau, Kind - mehr zu sehen bekommt, als es sehen möchte? Und manchmal stirbt der/die Herr/in eines Wesens, was dann?
Schweblin hat eine fesselnde Geschichte geschrieben, mit Motiven, die in Form von Tamagotchi, Cayla, Paro, Alexa, Hikikomori, Big Brother … längst Realität sind. Dabei ist es aber nicht in erster Linie eine Geschichte über ein technisches Gimmick, sondern über (fehlende oder scheiternde) zwischenmenschliche Beziehungen, innerhalb Partnerschaften, Familien, mit Fremden. Es ist eine Geschichte über Beziehungen zwischen Kentuki und Herr, zwischen Menschen, in deren Leben ein Kentuki getreten ist, zwischen Kentukis untereinander. Auf dem Umschlag des Romans steht der Satz: „Hundert Augen ist ein visionärer Roman über unsere vernetzte Gegenwart und über den Zusammenprall von Menschlichkeit und Horror.“ Dem stimme ich in Gänze zu und füge hinzu: Es ist keine Dystopie, die da beschrieben wird: Auch wenn Kentukis an sich eine Erfindung der Autorin sind, hat die Bundesnetzagentur hierzulande doch ähnlichen Ansinnen (bislang) einen Riegel vorgeschoben.
Mein Fazit: Das neue Jahr ist noch nicht alt, aber „Hundert Augen“ wird garantiert zu meinen Lese-Highlights 2022 zählen, das ist jetzt schon sicher.
Die Autorin Samanta Schweblin wurde 1978 in Argentinien geboren und lebt in Berlin.
ASIN/ISBN: 3518429663 |