Katharina Döbler: Dein ist das Reich

  • Legionäre Gottes


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    Es ist den Menschen zu eigen, dass sie manchmal denken, glauben oder wenigstens vorgeben, Gutes zu tun, obwohl sie unterm Strich oder langfristig betrachtet das genaue Gegenteil praktizieren – oder sich erst im Nachhinein herausstellt, dass es so war, und dann entspinnt sich eine nicht immer erfreuliche Diskussion darüber, ob das schon zum Zeitpunkt des Handelns hätte klar sein müssen. Ein dunkles Kapitel der neueren Weltgeschichte, auf hiesigem Boden zwar erst vergleichsweise spät aufgeschlagen, zählt auf ganz besondere Weise zu diesen heiklen Themen, nämlich die Kolonialzeit, deren Auswirkungen nach wie vor allgegenwärtig sind. In Katharina Döblers mächtigem Roman trifft sie auf ein anderes und aus Sicht vieler nicht weniger unrühmliches Verhalten der westlichen Zivilisationen, nämlich auf die christliche Missionsarbeit.


    Im mittelfränkischen Neuendettelsau mit seiner großen Diakonissenanstalt hatten die Männer nach dem ersten Weltkrieg die Wahl, ob sie auf den Einödhöfen zu einem der vielen Helfer des ältesten männlichen Kindes wurden, das den Hof erben würde, oder ob sie sich der Missionsarbeit verschrieben, also als Laien zum Beispiel nach Neuguinea, ins wachsende Gottesreich des amtierenden Kaisers gingen. Rekrutiert von der Diakonie, betreut und kontrolliert von den örtlichen Geistlichen, traten sie dann, häufig zu Hause bereits einer Frau versprochen, die darüber nicht immer glücklich war und die oft erst Jahre später hinterherreisen würde, die lange Fahrt in Richtung Indischer Ozean an, um auf der Inselgruppe nördlich von Australien die „Eingeborenen“ dazu zu bringen, von ihrem heidnischen Tun abzulassen und stattdessen christliche Rituale zu praktizieren. Zu jenen, die nicht immer freiwillig diese Wahl trafen, gehörten Johann Hensolt und Heiner Mohr, die dort an ganz unterschiedlichen Orten arbeiteten, aber die Großväter der Ich-Erzählerin waren, die jetzt die komplexe und eigenwillige Familiengeschichte vor den Lesern ausbreitet, und zwar in der Hauptsache, aber nicht nur aus der Perspektive der Missionarsehefrauen.


    „Dein ist das Reich“ versucht nicht, die Bewertung aus Sicht der Jetztzeit zum Narrativ zu machen. Katharina Döbler reflektiert zwar intensiv; letztlich ist das der Grund dafür, warum man dieses mächtige, stark autobiografische Buch überhaupt lesen darf. Aber ihr Personal trägt das moralische Korsett seiner Zeit. Und es glaubt fest daran, in Gottes Namen zu handeln, also ohne jeden Zweifel Gutes zu tun.


    Der eine, Heiner Mohr, ist ein Gottesfürchtiger aus dem Bilderbuch, ein ernster, bestrebter, nicht gerade attraktiver Mann, und mit der nicht weniger strengen und gläubigen Marie, die ihm zur Seite gegeben wird, entsteht eine pragmatische, unfröhliche Beziehung, die sich auch vom schillerndbunten Südsee-Umfeld kaum beeinflussen lässt. Der andere, Johann Hensolt, ist ein offener, ungestümer, etwas wilderer Typ, der auch zunächst auf Abwege gerät und damit beinahe in Ungnade fällt, aber mit seiner – aus beider Sichten – Liebesheirat Linette einen Neuanfang findet. „Dein ist das Reich“ erzählt von der Zeit der Missionsgründung bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs.


    Das Buch umschifft die Probleme, die eine halbautobiografische Familiengeschichte mit sich bringt, ziemlich geschickt, und schmückt die an spektakulären Höhepunkten eher arme Story sensibel und anschaulich mit einer großen Detailmenge. Dabei versucht Katharina Döbler nie, eine Rechtfertigung für das Handeln ihrer Figuren zu finden, auch nicht, als die Tentakel der Naziherrschaft bis auf die andere Erdhalbkugel reichen und von einigen der Protagonisten des Buches freudig begrüßt werden. Die Autorin verlagert auch keine Rassismusdebatte in jene Zeit, in der solche Debatten nicht oder nicht auf die Weise stattgefunden haben, wie sie das heute tun, sondern sie zeigt, erläutert und bleibt ganz in ihren Figuren. Dass ohne Zweifel unfassbares Leid angerichtet wurde, dass Kulturgut und ganze Kulturen vernichtet wurden, dass die Grundlage für die Ungerechtigkeiten gelegt wurde, denen wir heute noch begegnen, all das wissen jetztzeitige Leser; es bedarf keiner Trigger oder Erläuterungen. Katharina Döbler erzählt davon, wie es war, und nicht davon, wie es hätte sein sollen, hätten ihre Ahnen schon damals gewusst, welche enormen Fehler sie aus Sicht der hundert Jahre später Geborenen machen. Das betrifft nicht nur Kolonialisierung, Missionierung und Rassismus, sondern Sozialisation ganz allgemein, das Frauenbild, Fragen der Kindererziehung, des Umgangs mit allen anderen Kulturen, Nationalismus, die Rolle der Kirchen und sehr vieles mehr. Anders als einige Autoren, die ambitionierte Helden mit Jetztzeitwissen in die Vergangenheiten senden, um sie dort gegen Misogynie, Xenophobie und andere Erscheinungsformen der Ungerechtigkeit antreten zu lassen, gibt Döbler ihrem Personal nur ein glaubhaftes Maß an Bedenken auf den Weg.


    „Dein ist das Reich“ ist nicht einfach zu lesen, ermüdet hin und wieder ein kleines bisschen, aber selten genug, um einen dennoch bei der Sache bleiben zu lassen. Dem Buch merkt man die ungeheuerliche Recherchearbeit an, ohne dass diese in aufdringlicher Weise zutageträte, und bietet einen spannenden, erhellenden Blick auf jene Zeit und ihre Menschen, vor allem diese Menschen, die in die Welt reisten und Schlimmes vollbrachten, während sie glaubten, Gutes zu tun. Ein Phänomen, das auch heutzutage noch längst nicht vom Tisch ist.

    ASIN/ISBN: 3546100093