Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

  • Mit der Subtilität von Trinitrotoluol


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    In einer trübseligen französischen Reihenhaussiedlung, die „Demo“ genannt wird, weil sie irgendwann als Vorzeigesiedlung geplant war, lebt ein elfjähriges Mädchen mit ihrem vier Jahre jüngeren Bruder, dem cholerischen, brutalen Vater und der blassen, antriebslosen Mutter. Im Sommer kommt täglich der Eiswagen, was zu den wenigen schönen Abwechslungen gehört, aber an einem dieser Sommertage, als das Mädchen Sahne zu ihrem Eis bestellt, explodiert der Sahnesyphon im Gesicht des Eisverkäufers. Es fetzt dem Mann das halbe Gesicht weg und tötet ihn, und das Mädchen gibt sich die Schuld daran, weil es sich Sahne gönnen wollte, die eigentlich tabu ist. Sie gibt sich aber vor allem die Schuld am Trauma des kleinen Bruders, der beim Eiskauf neben ihr stand und nach diesem Erlebnis für lange Zeit nicht aus der Schockstarre herauskommt – und als das dann endlich geschieht, entwickelt er sich zu einem gewalttätigen, grausamen kleinen Monster. Ein gewalttätiges, grausames und großes Monster ist der Vater längst, der nur etwas erträglicher ist, wenn er gerade auf der Jagd war, und der die Mutter fast regelmäßig blutig zusammenschlägt. Die Mutter erwartet die vorhersehbaren Attacken ihres Mannes mit stoischer Gleichmütigkeit, flüchtet danach in den zerzausten Garten, wo sie sich um ihre Zicklein kümmert. Als das Mädchen das fünfzehnte Lebensjahr erreicht, wird auch sie vom Vater als Opfer auserkoren. Aber das Mädchen will sich das nicht einfach gefallen lassen. Sie denkt, es müsse einen Weg zurück in das wirklich Leben geben, vor dem explodierten Sahnesyphon, und sie sucht nach diesem Weg.


    Über den Zeitraum von vier Jahren erleben wir dieses Drama mit. Das Mädchen, das als Ich-Erzählerin auftritt, entpuppt sich als hochbegabt und nimmt heimlich Unterricht bei einem Nobelpreisträger, der auch in dieser Siedlung wohnt. Aber selbst das ist nicht wirklich mit Hoffnung ausgestattet.


    Bis zum recht vorhersehbaren Showdown dieser wütenden und wütendmachenden Geschichte, aus der es keinen anderen Ausweg zu geben scheint als Gegengewalt, spielt die Autorin mal mehr und mal weniger geschickt auf der Klaviatur der Emotionen, die mit der Situation einhergehen, und das sind vor allem Zorn, Hilflosigkeit, Angst und Hass. Im Klappentext ist irrtierenderweise von einer „funkelnden Sprache“ die Rede, aber tatsächlich wirkt die Erzählung insgesamt sehr stakkatohaft und abgehackt, und die Sprache ist überwiegend schlicht. Das Buch ist mit seinen knapp 250 sehr, sehr großzügig gesetzten Seiten nicht lang – im normalen Satz hätte es vielleicht halb so viele –, und lässt sich rasant durchlesen, vorangetrieben auch vom Wunsch, an das Ende dieses Martyriums zu gelangen, doch der Eindruck, der zurückbleibt, ist dünn. Die Geschichte ist in ihrer inszenierten Ausweglosigkeit eher unsubtil; die Rollen sind klar besetzt, die Spielräume eng, und das ganze funktioniert nur, wenn man sich darauf einlässt, nicht zuletzt auch auf die vielen unlogischen Elemente. Das Ende lässt mehr Fragen offen als es beantwortet, und moralisch ist es mindestens problematisch.


    „Das wirkliche Leben“ ist eine flammende Anklage gegen häusliche Gewalt vor allem gegen Frauen, die oft – meistens – im Verborgenen bleibt, und als diese funktioniert es vermutlich recht gut, aber literarisch und dramaturgisch empfand ich es als zu brachial und linear.


    ASIN/ISBN: 3423282134