Edgar Rai: Im Licht der Zeit

  • Fulminantes Was, perfektes Wie


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    Das Jahr 1929 war für die Deutschen ein in mehrfacher Hinsicht besonders bemerkenswertes. Während viele Berliner vor allem ausgiebig feierten, wofür sie sich das „Koka“ zum Preis von 8 Mark pro Päckchen einfach aus der Apotheke holen konnten, erstarkten die Nazis langsam, aber leider sehr, sehr sicher. Außenminister Gustav Stresemann starb. Und mit dem Stummfilm, quasi dem Fernsehen jener Zeit, ging es dem Ende entgegen. Emil Jannings, der größte männliche Filmstar seiner Epoche, hatte zwar soeben als bislang einziger deutscher Schauspieler einen Oscar bekommen, aber sein anschließend in Amerika produzierter erster Tonfilm war ein Reinfall, weil der narzisstische Jannings, der es liebte, von sich in der dritten Person zu reden, ein Englisch sprach, das nach einer in der Mülltonne eingesperrten Ziege klang. Synchronisation war damals noch nicht möglich; die Tonspur eines Films war mit den Bildern unzertrennlich verbunden. Wenn man einen mehrsprachigen Film herstellen wollte, drehte man ihn auch mehrfach.


    Die Filmproduktionsgesellschaft UFA, nach Fritz Langs zwar gefeiertem, finanziell aber ruinösen „Metropolis“ im Besitz des Medienmoguls Alfred Hugenberg, der außerdem die wichtigsten Zeitungen kontrolliert und Hitler protegiert, baut in Babelsberg hochmoderne, weltweit einzigartige Tonfilmstudios. Dort soll - mit Jannings in der Hauptrolle - der erste deutsche Tonfilm entstehen, und er soll alles Dagewesene in den Schatten stellen. Karl Vollmöller, der als Berater und Co-Autor für das Projekt zuständig ist und die Fäden in den Händen hält, lässt Finanziers und Beteiligte im Glauben, die Geschichte Rasputins würde Thema des Films sein, dabei hat er längst andere Pläne. Zu denen gehört, dass der talentierte Amerikaner Josef von Sternberg Regie führen soll, dabei hat von Sternberg verkündet, er würde mit Jannings in diesem Leben keinen Film mehr machen.

    Aber das Hauptproblem wird sein, die weibliche Hauptrolle zu besetzen, für den Stoff, der Vollmöller längst vorschwebt, nämlich Heinrich Manns „Professor Unrat“.

    Wobei Mann erklärt hat, die Filmrechte für diesen Roman um keinen Preis verkaufen zu wollen.


    Das ist die Ausgangssituation für diesen 520 Seiten starken Pageturner, der sich beim Lesen anfühlt, als wäre er - leider - höchstens halb so lang. Edgar Rai nimmt abwechselnd die Perspektiven einiger Hauptfiguren ein, vor allem die Vollmöllers - und diejenige Marlene Dietrichs, die zu diesem Zeitpunkt zwar als gefeiertes Revue- und Partygirl gilt, aber als Gift für jeden Film. Wir alle wissen, wie diese Geschichte endete, nämlich mit „Der blaue Engel“ und der Weltkarriere der Dietrich, aber Edgar Rai erzählt das so eindringlich, detailreich, spannend, atmosphärisch und überaus geschickt, dass man in jeder Szene mitfiebert, dass man selbst - wie viele der Figuren - bis kurz vor Schluss daran zweifelt, dass dieser Film noch entstehen, noch gelingen, noch ein Erfolg werden kann. Der Autor spart nicht an Personal und lässt viele bekannte Namen jener Zeit auftreten, darunter Claire Waldoff, Erich Kästner und Billy Wilder, aber es sind vor allem Marlene und Vollmöller, die er dabei beobachtet, wie sie mit diesem Projekt wachsen, wie sich Liebesbeziehungen und Privatleben entwickeln. Parallel erzählt er die Geschichte von Henny Porten, der Schauspielerin, die bis zum Aufkommen des Tonfilms den deutschen Film dominiert hat - und die eine kurze Affäre mit der noch jungen Dietrich hatte. Und er erzählt die Geschichte Berlins zu dieser Zeit, mit seinen Feiertempeln und unfassbar vielen Kinos. Jedem Kapitel ist außerdem ein Ausschnitt aus der Berliner Volkszeitung vorangestellt - Ausschnitte, die einem das Blut in den Adern gefrieren lassen, denn einige dieser Texte, die sich mit der NSDAP befassen, würden genauso gut ins Jahr 2019 passen.


    Mit diesem Buch treffen zwei großartige Aspekte aufeinander, nämlich eine wirklich starke, spannende und historisch bedeutsame, fulminante Geschichte - und ein Erzähler, der das in die richtigen Worte gießen kann, der sich dieser faszinierenden Story unterordnet, der sich wie ein Filmregisseur nie selbst zeigt, aber dennoch alles Geschehen führt und beeinflusst. „Im Licht der Zeit“ ist ein perfekt erzählter, hinreißender Roman über die Dietrich, den Film, den Beginn der Nazizeit, die Rolle der Medien hierbei, aber auch über Liebe, Ambivalenz, Selbstverwirklichung und Partnerschaft unter schwierigen Bedingungen.


    ASIN/ISBN: 3492058868