John Lanchester: The Wall/Die Mauer

  • Großbritannien in nicht allzu ferner Zukunft: Rund um das ganze Land zieht sich eine Mauer aus Beton – 10.000 Kilometer lang, fünf Meter hoch und an der Krone drei Meter breit. Alle drei Kilometer steht ein Wachhaus für die Wachmannschaften, insgesamt mehr als 3000. Weiter gibt es in regelmäßigen Abständen Kasernen, Krankenstuben, Hubschrauberlandeplätze, Wassertürme, Vorratslager, Munitionslager, Fahrzeughangars und Rampen, um Boote zu Wasser zu lassen. Und natürlich Treppen, Millionen rutschiger Treppen, auf denen die Mannschaften, die die Mauer Tag und Nacht bewachen, auf und abgehen. Ach ja die Mannschaften: eigentlich kann man sie gar nicht so nennen, denn sie bestehen aus Männern und Frauen. 300.000 Soldaten und Soldatinnen sind jeden Tag das ganze Jahr lang an der Mauer im Einsatz, exakt 50 Prozent Männer und 50 Prozent Frauen, und alles geschieht ganz ohne Diskriminierung, denn die Frauen wachen, kämpfen und sterben genauso wie die Männer. Sie alle zusammen machen die "Defender" aus, die Verteidiger, die die Mauer gegen die die "Others" schützen, die Anderen.


    Diese Anderen sind in der Hauptsache Afrikaner, gegen deren Eindringen sich Großbritannien nach einer globalen Katastrophe, die in diesem Roman immer nur "The Change", der Wechsel, genannt wird, schützen will. Dieser mysteriöse Wechsel, der sich vor einem Menschenleben ereignet hat und von der jungen Generation im Roman den Alten angelastet wird, stellt ein Ansteigen des Meeresspiegels aufgrund einer Umweltkatastrophe dar, wodurch tiefergelegene Länder reihenweise überflutet wurden. Was genau den Wechsel ausgelöst hat, wird nie erklärt, aber es ist klar, daß dieser die Welt in zwei Gruppen aufgeteilt hat: die Staaten, deren Landmasse über dem gestiegenen Meeresspiegel liegt, und die anderen, deren Länder untergegangen sind, und die nun mit Schiffen und Flößen auf den Meeren herumfahren und mit aller Macht darum kämpfen, in die Länder, die es noch gibt, einzudringen. Wenn es sein muß mit Gewalt.


    Der Wechsel und die Abschottung Großbritanniens gegen die Anderen haben das Land in eine Diktatur verwandelt, in der eine vage als "Elite" bezeichnete Oberschicht den Rest der Gesellschaft in einem permanenten Kriegszustand regiert. In diese Elite wird man nicht demokratisch hineingewählt, sondern nach Ausbildung und Leistung berufen.


    Das ist der Hintergrund für den neuen Roman des britischen Schriftstellers John Lanchester. Das Ganze beginnt damit, daß der junge Joseph Kavanagh seine zweijährige Dienstzeit als Defender auf der Mauer antritt. Natürlich: auf der Mauer ist es kalt, der Dienst, der daraus besteht, jeden Tag mit geschultertem Gewehr zwölf Stunden lang auf das graue Meer hinauszuschauen, ist langweilig, das Essen schlecht und der Sergeant wortkarg. Doch der junge Kavanagh kommt mit all dem einigermaßen zurecht, weil jeder Brite Dienst auf der Mauer tun muß und Kavanagh ohnehin nicht weiß, was er sonst mit seinem Leben anfangen soll.


    Und damit sind wir beim ersten Problems des Romans: der uninteressanten Hauptfigur, die nichts kann, nichts will, nichts liebt, nichts haßt und auf 275 Seiten weder einen klugen Satz sagt noch einen interessanten Gedanken denkt. Mit den Nebenfiguren ist es nicht besser bestellt. Da haben wir einen knorrigen Sergeant, einen verschwiegenen Hauptmann, der streng nach Dienstvorschrift lebt, sich im nachhinein aber als Verräter herausstellt, einige hausbackene Verteidigerinnen, die unter ihren dicken Klamotten als Frauen nicht erkennbar sind, und noch mehr junge Männer, die auch nicht wissen, was sie wollen, und über die Mauer, die Welt, die Anderen und die ganze Misere, in der England sich befindet, nichts zu sagen haben. Schließlich gibt es da noch Hifa, die spätere Geliebte des Antihelden, die genauso gewöhnlich redet, denkt und handelt wie sie aussieht.


    Voltaire hat einmal gesagt: Jede Art zu schreiben ist erlaubt, nur die langweilige nicht. Diesen coolen Spruch sollte sich John Lanchester für seinen nächsten Roman unbedingt merken, denn Die Mauer ist langweilig. Das liegt noch nicht einmal so sehr an der unwahrscheinlichen Handlung, zu der wir noch kommen, sondern an all diesen blassen und konturlosen Figuren. Das klassische Rezept für das Verfassen eines guten Romans lautete immer: Nimm eine Figur, die etwas von der Welt will und lieber zugrunde geht, als es nicht zu bekommen. Alle großen Romane haben solche Protagonisten: Werther will Lotte bekommen, der grüne Heinrich will Maler werden, Anna Karenina will aus einer lieblosen Ehe ausbrechen, Ahab will den weißen Waal killen, Gatsby möchte Daisy zurückgewinnen, Josef K. will wissen, warum er angeklagt wurde, Franz Biberkopf will frei sein, Winston Smith will durch die Liebe zu Julia dem System entkommen, Stiller nicht er selbst sein und Harry Potter Lord Voldemort besiegen.


    Gute Romane brauchen starke Hauptfiguren. Und Nebenfiguren, die dem Willen und Wollen der Hauptfiguren Widerstand leisten, sie quälen, verfolgen, unterdrücken, ihnen Prügel zwischen die Beine werfen, ihnen auflauern, schaden und sie manchmal sogar umbringen. John Lanchasters Josef Kavanagh jedoch will gar nichts außer dreimal am Tag einen Müsliriegel mit einem Becher Tee und am Abend ein warmes Bett. Ja, er will noch nicht einmal Sex mit Hifa - da muß die ihn erst draufbringen.


    Nun gibt es aber andere Romane, die ebenfalls über ein ziemlich durchschnittliches Personal verfügen, dieses Manko aber durch eine spannende Handlung wieder wettmachen. Viele Krimis, Thriller und Sciencefiction-Romane fallen in diese Kategorie. Die Thriller John le Carrés sind nie mit überzeugenden Charakteren bevölkert, Stanislaw Lems Raumfahrer sind reine Schablonen, und so unterschiedliche Autoren wie Agatha Christie, Daphne du Maurier, Dan Brown, Stieg Larsson und Tom Clancy haben nie auch nur eine psychologisch glaubhafte Romanfigur zustande gebracht. Aber dafür haben sie etwas anderes: Eine mitreißende Handlung, die oft in einem nervenzerreißenden Höhepunkt kulminiert und in einem überraschenden Schluß endet.


    Die Mauer kann damit leider auch nicht aufwarten. Nachdem die Defender eine erste Attacke der Anderen zurückgeschlagen haben, kommt irgendwann endlich der große Angriff auf die Mauer, auf den ihre Bewacher sich seit Jahren vorbereiten. Der fällt schlimmer aus als der erste, aber nur deshalb, weil der bislang übereifrige Hauptmann sich als ein früherer Anderer erweist, der die Aggressoren unterstützt. Doch bald sind sie überwältigt, und an der Mauer herrscht wieder Ruhe. Außer für Kavanagh, seine Freundin Hifa und einer Handvoll anderer Armleuchter, die beim Kampf gegen die Anderen aus Sicht nie genannter Vorgesetzter versagt haben, weshalb sie ohne Gericht und Urteil in der Nordsee in einem Boot auf Gedeih und Verderb ausgesetzt werden. Nun müssen sie noch ein Abenteuer im Kampf gegen Piraten bestehen, aber die Geschichte wird nun zunehmend weniger plausibel, bis alles in einem kläglichen Ende verlischt.


    Das ist schade, denn John Lanchester schreibt eine sachlich-kühle, präzise Prosa, wie man sie aus den Romanen George Orwells oder Eric Amblers kennt. Der Autor ist hier eindeutig an einem großen Thema dran, das, spannend erzählt, sehr viel hergeben würde. Der Klimawandel – egal, ob er stattfindet oder nicht – ist jeden Tag in den Nachrichten, Großbritannien laboriert am Brexit wie an einer schweren Krankheit, und Donald Trump will zwischen den USA und Mexiko eine Mauer errichten. Ein Autor mit Fantasie, Wirklichkeitssinn und einer gehörigen Portion an Fabulierlust und literarischen Fähigkeiten könnte mit diesem Stoff im Hinterkopf eine absolut fesselnde Version unserer Zukunft entwerfen. John Chandler ist leider nicht dieser Autor.


    ASIN/ISBN: 0571298729
    ASIN/ISBN: 360896391X

  • Habe kürzlich zu diesem Buch eine Rezi im Radio gehört. Sie fiel auch nicht gerade begeistert aus. Das Thema wäre m.A.n. hochinteressant, aber ... mal sehen, ob ich mir das reinziehe. 8)

  • Hallo Manuela,


    Ich finde das Buch nicht lesenswert; die letzten 50-60 Seiten waren zum Einschlafen.


    Ich mag Dystopien sowieso nicht gerne, aber wenn, dann kann manch gleich 1984 lesen, das besser geschrieben ist und Figuren hat, mit denen man sich identifizieren kann.


    Aus Sicht der ZEIT ist Die Mauer natürlich doppelplusgut – aber bei der ZEIT war das von vornherein klar. :rofl


    Ich habe vor zwei Jahren, weil meine Kinder das für die Schule lesen mußten, The Hunger Games gelesen – und selbst dieser Mist ist noch besser als Die Mauer.

  • Ich bin weitgehend TWJs Meinung und, nein, der Schluss hat mir auch nicht gefallen. Eigentlich gab es überhaupt keinen.


    Lahme, schlecht erzählte Dystopie


    einstern.gif


    In einer vermutlich nicht sehr weit entfernten Zukunft ist die britische Hauptinsel von einer zehntausend Kilometer langen Betonmauer umgeben, fünf Meter hoch und drei Meter breit. Sie hält nicht nur das Wasser ab, dessen Oberfläche seit dem "Wandel", einem offenbar klimatischen Großereignis vor einigen Jahren, stark angestiegen ist, sondern vor allem die so genannten Anderen, die ins Land wollen, aber nicht dürfen. Um das auch aktiv zu verhindern, muss jeder Brite für zwei Jahre Verteidigungsdienst auf dem Bauwerk leisten, es sei denn, er gehört zur regierenden Elite oder er ist Fortpflanzer. Das sind die wenigen Leute, die noch Kinder in diese feindliche Welt setzen wollen, und die dafür Sondervergütungen erhalten, sozusagen ab dem ersten Sex. Warum man nicht einfach ein paar dieser Anderen reinlässt, um die Bevölkerungszahl zu stabilisieren, erklärt der Autor nicht. Wer es reinschafft und erwischt wird, wird übrigens entweder wieder aufs Meer geschickt oder versklavt, kann sich das aber immerhin selbst aussuchen.


    Joseph Kavanagh ist Anfang zwanzig und muss jetzt auch hoch, in die Kälte, von der es zwei Typen gibt, nämlich kalt und sehr kalt. Aber die Kälte ist nicht das Hauptproblem, sondern die Langeweile. Um das zu veranschaulichen, ist der Roman in besonders einfacher Sprache und besonders langweilig erzählt. Dieser Ansatz, der auch noch mit fehlender Logik gepaart wurde, funktioniert gut; die Langeweile dringt einem beim Lesen quasi in die Knochen, wie das die Kälte bei den Verteidigern schafft. Die aber neben Kälte und Langeweile noch ein weiteres Problem haben: Wenn es Anderen gelingt, die Mauer zu überwinden, muss je Eindringling, der es reingeschafft hat, ein Bewacher raus, ganz egal, ob dieser Bewacher Schuld am Eindringen trägt oder nicht. Diese etwas absurd anmutende, zutiefst ungerechte und selbstzerfleischende Regelung soll die Wachsamkeit der Verteidiger aufrechterhalten.


    Der Klappentext verweist Parallelen zu Brexit und aktuellen Migrationsströmen, aber das ist, wenn man so will, populistischer Blödsinn, denn der Roman ist im Kern völlig unpolitisch, oder höchstens auf ziemlich naive Weise ein ganz klein wenig politisch, etwa wie Bürgerinitiativen von Leuten, die gegen eine Bebauung sind, weil sie dann keine so hübsche Aussicht mehr haben. Die Hauptfigur, die als Ich-Erzähler agiert, ist jedenfalls nicht schlau genug angelegt, um etwas Kluges zu relevanten Themen sagen zu können, weshalb der Autor auch darauf verzichtet hat, ihm derlei in den Mund zu legen. Dasselbe gilt für das restliche Romanpersonal - auch die ihn umgebenden Figuren sind nur stereotype, konturlose Pappkameraden. Selbst der Mann aus der Elite, der zweimal auftaucht, redet ausschließlich Stuss.


    Hiervon abgesehen ist "Die Mauer" erschütternd erzählt, zerbröselt das bisschen Spannung, das gelegentlich aufgebaut wird, gleich wieder in einem Halbsatz, und tötet den letzten Nerv mit langen Abhandlungen über haarsträubende Belanglosigkeiten. Die drei, vier Ereignisse, die Meilensteine der Geschichte markieren, werden sprichwörtlich im alles umgebenden Meer versenkt, und am Schluss ist man fast froh, dass diese ausgewalzte Story, die nur auf einer guten Idee zu fußen scheint, auch noch so endet, wie sie die ganze Zeit über war, nämlich völlig belanglos.