Michael Stavarič: Gotland

  • Der Gotteswahn



    Schon das Vorwort stellt eine besondere, herausragende literarische Leistung dar. Der Autor - irgendein Autor - erzählt davon, wie er diesen Roman geschrieben hat, dieses "Gotland", zunächst ambitioniert, aber flach und klein, und dann geriet das Projekt täglich stärker außer Kontrolle und wuchs sich allmählich zum Gebirge aus. Während die Literaturagentin anfangs noch begeistert war, nur 200, 300, 500 Seiten des Werkes in den Händen haltend, wobei das Manuskript tatsächlich bereits ins Fünfstellige trieb, türmten sich in der Schreibstube irgendwann die Seitenberge, die nur marginal dadurch abgetragen wurden, dass die Agentin weitere, bald zahllose Pakete mit Material erhielt. Irgendwann kollabiert diese Anordnung, das amüsante Vorwort endet und es geht mit dem eigentlichen Roman los.
    Und warum? Nun, Michael Stavarič will andeuten, dass es eine unlösbare, nie enden wollende Geschichte ist, dieses Zwiegespräch des Menschen mit seinem erdachten Gott.


    Dann lesen wir etwas über Gotland, die schwedische Insel in der Ostsee. Rau, stürmisch, mythenumrankt, fruchtbar, kalkreich und geheimnisvoll. Und schließlich beginnt die eigentliche Geschichte, die eines Jungen und später jungen Mannes, Sohn einer Zahnärztin, die sehr attraktiv, aber eine gottesfürchtige Katholikin ist, weshalb der Junge auf eine katholische Schule gehen muss, an der er allerlei verwirrende Dinge erlebt, beispielsweise den Schuldirektor, auf dem Schreibtischstuhl kopulierend mit der Sekretärin. Es geht um Sexualität - auch inzestuöse -, persönliche Entwicklungsgeschichten, skurrile Anekdoten (da ist auch etwas mit einer Ziege und dem Direktor) und die über allem stehende Frage, ob es diesen Gott gibt, von dem alle reden, und wo er bitteschön ist, wenn es ihn denn gibt und man ihm gefallen muss. Am Ende des Romans wird er gefunden werden, auch im physischen Sinne, und die Geschichte endet nicht gut für diesen Gott. Oder für die Hauptfigur.


    Das Attribut "unkonventionell" wäre eine grandiose Untertreibung, angewandt auf diesen Roman, der übrigens wunderschön ausgestattet und gestaltet ist. Michael Stavarič reiht knappe, simpel anmutende Abschnitte aneinander, lauter Episoden und Betrachtungen und kleine Rückblenden, während sich wie nebenbei ein Sog entwickelt, eine mit jeder Seite stärker werdende Beziehung zu dieser seltsamen, verwirrtklugen, getriebenen Hauptfigur, die schließlich nach Gotland reist, wo vorläufig alles im Chaos enden wird. Denn dort landet man, wenn man zu hinterfragen und zu erklären versucht, wenn diese - vermeintlich alles entscheidende - Frage zum Kern des Daseins wird, aber in einer kritischen Fassung, und nicht in dieser selbstvergessenen, passiv-hinnehmenden Weise, wie das meistens der Fall ist.


    Ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes und äußerst lesenswertes Buch. Ein würdiger Nachfolger für "Brenntage" und "Königreich der Schatten". Ein literarisches Fest - und damit eine gute Gelegenheit, den Umstand mitzufeiern, dass es Autoren wie Michael Stavarič gibt: Ein Schriftsteller, der wie ein ganz eigentümlicher, vertrautfremder Monolith in dieser Literaturlandschaft steht, deren pittoreske Lahmheit mehr Brüche dieser Art vertragen könnte.


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  • 8-)


    Auszug aus Michaels aktueller Literaturpreisebilanz:


    https://de.wikipedia.org/wiki/…vari%C4%8D#Auszeichnungen


    (Für die anderen: Michael Stavarič war eine Zeit lang Mitglied der 42er - also des Vereins - und hat auch eine Lesung in Marburg mitgemacht, Anno Zopf, unter dem Titel "Alles Käse", wenn ich mich recht erinnere. Letztlich war er aber zu sehr Künstler für die 42er. ;) )


    (Ach so. Trotz der gemeinsamen Geschichte ist das obige keine Gefälligkeitsrezension. Ich habe mit Michael zwar hin und wieder Kontakt, aber ich lese und mag seine Bücher nahezu ausschließlich aus dem Grund, dass sie schlicht sehr, sehr gut sind.)