Richard Ford: Unabhängigkeitstag

  • Die ist die Geschichte von zweieinhalb Tagen im Juli 1988 im Leben von Frank Bascombe.


    Die Geschichte: Frank Bascombe 44, geschieden, Vater von drei Kindern, von denen eines tot ist, war früher Sportreporter und ambitionierter Autor von Kurzgeschichten, heute ist er "nur" noch Immobilienmakler in einem beschaulichen Städtchen in New Jersey. Frank liebt seine Kinder, und seine Ex-Frau Ann liebt er auch noch irgendwie, auf jeden Fall findet er ihre langen braunen Beine immer noch erektionsauslösend.


    Frank ist mit der fast gleichalten Sally befreundet, die in der sicheren Entfernung von 50 km wohnt, und mit der er heiße Wochenenden verbringt.


    Seine beiden Kinder, die er noch hat, leben bei ihrer Mutter, drei Fahrstunden von Frank entfernt. Ihm ist das zu weit, denn er will ihnen ein guter Vater sein, und er leidet darunter, dass er das Gefühl hat, keiner zu sein. Sein Sohn Paul, 15, groß, schwammig und und ganz schön aufsässig, ist vor einigen Wochen bei einem Ladendiebstahl (Kondome). Frank hat das Gefühl, dass irgendwie er daran Schuld ist und deshalb beschließt er, seinem Sohn ab sofort mehr Orientierung zu geben.


    Deshalb hat Frank sich was Besonderes einfallen lassen: Er wird mit Paul eine Zwei-Tages-Tour zur Basket-Ball-Hall-of-Fame und zur Baseball-HoF fahren, wo die beiden jede Menge Spaß haben werden. Auf diesem Trip werden Vater und Sohn jede Menge guter Gespräche führen, und dabei wird es Frank gelingen, Paul soviel Sinn, Zweck und Bedeutung mitzugeben, dass es für ein ganzes Leben reichen wird.


    So weit, so gut geplant. Die Handlung setzt an dem Freitag Morgen vor dem Samstag ein, an dem Frank Paul abholen wird. Nur noch schnell ein Haus verkaufen, eine Miete in Bar kassieren, dann ab zu Sally zu einem erotischen Freitag Abend - und dann winken die beiden Tage mit Paul, nach denen Frank für immer das Gefühl haben wird, als Vater nicht versagt zu haben.


    Es kommt jedoch alles anders. Es fängt damit an, dass seine schwarzen Mieter die Tür nicht öffenen, drinnen eine Pistole auf dem Küchentisch liegen haben und einfach die Miete nicht bezahlen. Dem verschrobenen Ehepaar, dem Frank bereits 43 (!) Häuser gezeigt hat, und die heute ganz sicher kaufen werden, fällt plötzlich ein, dass sie überhaupt kein Haus kaufen wollen, sondern mieten, und das auch noch ganz woanders.


    Der Besuch bei Sally, der mit Weißwein und erstem Streicheln begonnen hat, endet damit, dass Frank aus dem Haus fliegt und auf vollkommen verstopften Straßen durch das dunkle Connecticut fährt, wo er lange nach Mitternacht in einem Motel Zuflucht sucht, in dem gerade jemand umgebracht worden ist. Zwischenzeitlich hat ihm seine Ex mitgeteilt, dass Paul seinem Stiefvater mit einem Ruder am Kopf verletzt hat, danach geflüchtet und endlich von der Polizei aufgegriffen worden ist.


    Übernächtigt, erotisch unbefriedigt und krank vor Sorgen trifft Frank bei Ann ein. Im Auto stellt sich bald heraus, dass sich Paul offenbar seit Wochen nicht mehr gewaschen hat, er ist tätowiert und hat an der rechten Handkante eine rosinengroße Warze. Paul spricht hauptsächlich in Kalauern, bellt dazwischen manchmal, imitiert die Stimmen von Hunden und Tagesschausprechern und teilt seinem Vater mit, dass das Leben und die Welt sinnlos sind. Frank stellt zu seinem Entsetzen fest, dass er seinen Sohn mehr und mehr verabscheut.


    Paul interessiert sich weder für Base- noch für Basketball. Der Besuch der Basketball-HoF ist kotzlangweilig, der der Baseball-HoF am nächsten Tag gerät zur Katastrophe. Von Frank angestachelt, stellt Paul sich vor einen der Ballwurfautomaten und wird von einem Ball mitten ins Gesicht getroffen - bei Bällen hart wie Billiardkugeln, die mit einer Geschwindigkeit von 100 km fliegen, eine ernste Angelegenheit. Paul muß ins Krankanhaus und wird vielleicht für immer blind sein. Frank fährt mit seinem Stiefbruder Erv, der plötzlich aufgetaucht ist, dem Krankenwagen hinterher und schwimmt in Selbstvorwürfen.


    Ann taucht im gemieteten Privathubschrauber mit einem der besten Augenspezialisten der USA im Schlepptau auf. Paul wird ins Yale-Klinikum geflogen und gewinnt sein Augenlicht wieder. Kurz vor dem Abflug hatte er jedoch noch Zeit, Frank zu bestätigen, dass der doch ein großartiger Vater ist. Sally meldet sich auch wieder, findet Frank plötzlich wieder gut und an Joe und Phyllis vermietet er, wieder zuhause, sogar noch das Haus neben der schwarzen Familie.


    Erzählweise und Stil: Wenn er will, und in diesem Buch will er oft, dann schreibt Ford wie kaum ein anderer moderner Romancier. Seine Beschreibungen von Menschen und Gegenständen sind treffend und oft genug zum Schreien witzig. Vergleiche und Metapthern setzt er oft, aber fast immer passend ein:


    Das schreibt er über Phyllis, die sich nicht entschließen kann, ihm ein Haus abzukaufen:


    Sie schenkt mir ein trauriges Stan-Laurel-Lächeln und senkt das Kinn genau wie der gute, alte Stan. Sie hat ein formbares, süßes Knetgummigesicht, wie geschaffen für alternatives Kindertheater im Nordöstlichen Köngreich (S. 140).


    Und wann habe ich zum letzten Mal so eine Beschreibung eines Verkäufers an einer Hot-Dog-Bude gelesen:


    Karl hat seine Lesebrille aus Plexiglas aufgesetzt ... Er trägt seine Sommeruniform: einen kurzärmeligen weißen Kittel, eine von der Wäscherei gestellte weiß-karierte knielange Hose, in der seine dicken, mehligen, von wurstigen Krampfadern durchzogenen Waden 'atmen' können, kurze schwarze Nylonsocken und halbhohe, schwarze Schnürschue mit Kreppsohle. Ein uraltes Transistorradio, das auf den Nur-Polka-Sender in Wilkes-Barre eingestellt ist, spielt leise 'Im Himmel gibt's kein Bier' (S. 246).


    Das letzte Zitat zeigt aber bereits auch das Hauptproblem des Buches: es ist zu lang. Auch unwichtigen Personen und Ereignissen werden seitenlage Beschreibungen gewidmet. Ford kann schreiben; aber genau deshalb tippt er manchmal einfach weiter, wenn er längst hätte aufhören müssen. Immerhin hat die unten vorgestellte Ausgabe 795 Seiten (das amerikanische Original hat immerhin auch noch 464 Seiten), in denen die Ereignisse von etwas mehr als 48 Stunden erzählt werden.


    Aufbau und Dramaturgie: Mein größtes Problem mit diesem Buch ist sein Ende - dieses Buch sollte kein Happy End haben und der Konflikt zwischen Vater und Sohn sollte sich nicht in völlig überlaufenen Touristenhochburgen, sondern in der Wildnis abspielen. Es überzeugt nicht, dass alle Probleme plötzlich mit der wundersamen Heilung von Pauls Auge wieder aus der Welt geschafft sind.


    Ich würde mir einen anderen Schluss vorstellen: Vater und Sohn gehen Kanu fahren, Wandern, Jagen - egal, irgendwas, das eine wilde Bühne für den Konflikt von Frank und Paul abgeben kann. Aus irgendeiner perversen Aggression heraus, die es zwischen Vater und Sohn sehr wohl geben kann, bringt Frank Paul dazu, etwas zu wagen, an dem er scheitert, d.h. daran stirbt. Mit dieser kleinen, aber bedeutsamen Verändung hätten wir einen Roman von wahrhaft Dostojewskischen Dimensionen.


    So ist es ein anspruchsvoller Unterhaltungsroman mit einigen Längen geworden, dessen konstruierter Schluss, der klar auf den amerikanischen Mainstream-Leser zugeschnitten ist, nicht überzeugt. Dennoch bietet das Buch ein erhebliches Lesevergnügen, das sich niemand entgehen lassen sollte.


    ASIN/ISBN: 3570195139

    Wikipedia über Richard Ford

  • Liebe Freunde,


    ich will die Rezension nicht künstlich nach oben puschen, aber ich will doch nochmal kurz darauf hinweisen, dass sie a) nun fertig ist und b) ich mit dem Buch wirklich einige höchst vergnügliche Tage verbracht habe.


    Wer also einen einen zumindest halblangen Atem für dickere Schinken hat und einfach mal wieder Tag um Tag in einem Buch so richtig leben will, der ist mit Unabhängigkeitstag gut beraten.

  • Das Buch ist eines der wenigen Bücher aus der Brigitte Edition, die mich reizen. Allerdings ist es so fürchterlich aufgemacht, daß ich mir diese Version bestimmt nicht kaufen werde.
    Reizvoller wäre da die hier..

    ASIN/ISBN: 3827000610

    Allerdings finde ich die auch nicht wirklich hübsch, ich weiß es ist oberflächlich Bücher nach ihrem Aussehen zu bewerten, aber ein häßliches Buch nehme ich nun mal ungern in die Hand. :down

  • Zitat

    Original von Jane
    Das Buch ist eines der wenigen Bücher aus der Brigitte Edition, die mich reizen. Allerdings ist es so fürchterlich aufgemacht, daß ich mir diese Version bestimmt nicht kaufen werde.


    Hallo Jane,


    ich wußte gar nicht, dass es Menschen gibt, die den Inhalt eines Buches nach dem Buchumschlag beurteilen. Jetzt muß ich nur noch ein Okapi im Urwald sehen - und dann kann ich beruhigt sterben.


    Aber jetzt im Ernst: ich habe vor zwei Wochen eine halbe Stunde in einem Buchladen in den Bänden der Brigitte-Edition geblättert, um mir mal anzusehen, was Elke Heidenreich da für uns "erlesen" hat. Einige Bücher kenne und besitze ich bereits, von anderen weiß, nein, ich sollte sagen: denke ich, dass sie Mist sind, also muss ich sie nicht kaufen, weder in der Brigitte-Edition noch in einer anderen. Na ja, und einige Bücher kannte ich noch nicht, und in denen hab ich ein bißchen geschmökert.


    Die Edition ist so schlecht nicht; sie ist nicht wirklich hochwertig, aber die Bücher haben einen Leinenrücken, Fadenheftung, ein Lesebändchen und schönes, chamois getöntes Papier, das zumindest ich gerne mag. Das ist mehr, als man von vielen anderen Büchern behaupten kann.


    Endlich ist es so, dass die Heidenreich Bücher ausgewählt hat, die auf einem guten oberen Unterhaltungsniveau angesiedelt sind; Bücher also, die einem sicher nicht den literarischen Geschmack komplett versauen, ja ich würde wetten, dass sie ihn bei der typischen Brigitte-Leserin sogar heben.


    Brigitte-Edition