Es gibt eine neue Übersetzung des Nibelungenlieds. Grund genug, endlich einmal dieses Werk zu lesen. Und was für ein großartiges Werk es ist. Hier findet der Leser nicht den zweimal aufgegossenen schalen Tee der Tolkiens und der Fantasy-Gemeinde, hier gibt es den echten Trank – stark, heroisch, grausam, sentimental und tragisch bis zum bitteren Ende. Und das alles ganz ohne mühsam drüber gestülpte Moral und jämmerliches Christentum.
Optisch ist es eine schöne Ausgabe. Links die 2440 Langstrophen des Originals, auf der rechten Seite die moderne Prosaübersetzung.
Aber was für eine Übersetzung ist das? Es war sicher die richtige Entscheidung, dass die Übersetzerin Ursula Schulze, Professorin a.D., die längste und ausführlichste Handschrift des Nibelungenlieds, die sog. Handschrift C, die in Karlsruhe aufbewahrt wird, übersetzt hat. Aber das ist auch schon das Beste, was sich von dieser Übertragung sagen läßt.
Denn nichts, aber auch gar nichts von der poetischen Schönheit des Originals findet sich noch in der Übersetzung. Frau Schulzes Prosa schmeckt nach dem Bohnerwachs der Ämter und Behörden. Ein unelegantes und politisch korrektes Deutsch ist es, in das die Professorin das Original mühsam übertragen hat.
Ein Beispiel soll genügen. In Strophe 226 heißt es im Original: sahte Kriemhild zu einem Boten: sag an mir liebiu maere; ja gib ich dir min golt. Tuostuz ane triegen. Ich will dir immer wesen holt.
Aus dem hat die Übersetzerin gemacht: Bringt mir eine erfreuliche Botschaft; ich will dich dafür mit meinem Gold belohnen. Wenn du die Wahrheit berichtest, werde ich dir immer gnädig sein.
Schauderhaft! Denn man hätte ohne weiteres sagen können: Bringst du mir liebe Kunde, dann geb ich dir mein Gold. Und tust du’s ohne Falsch, dann bin ich dir immer hold.
Der Anhang ist nicht besser als die Übersetzung. Der Teil, in dem die Entstehung des Nibelungenlieds erklärt wird, ist für den Laien zu kurz. Die vielfältigen Wurzeln des Stoffes, z.B. in den skandinavischen Heldensagen, werden nicht gebührend genannt. Die großartige synthetische Leistung des anonymen Dichters, der eine Vielzahl disparater Motive und Einzelsagen miteinander verschmolz und daraus eine auch heute noch überzeugende epische Handlung gestaltete, wird zu wenig gewürdigt.
Vollkommen mißlungen ist der Essay zur Rezeptionsgeschichte des Nibelungenliedes. Ja, das Nibelungenlied ist 150 Jahre lang von nationalen Kräften vereinnahmt worden. Zur Zeit der napoleonischen Kämpfe wurde es als deutsches Pendant zu Ilias und Äneis antifranzösisch instrumentalisiert. Und dass es erst für Wagner, dann für den Nationalismus des Kaiserreichs und natürlich auch für die Nazis ein gefundenes Fressen war, liegt auf der Hand. Nur: das hat doch mit dem Nibelungenlied nichts zu tun! Ein Text kann sich gegen seine Rezeption nicht wehren, und deshalb ist ihm diese auch nicht anzulasten.
Am Schluss erscheint es unfreiwillig komisch, wenn Frau Schulze plötzlich lebhaft bedauert, dass der Mythos des Nibelungenliedes seit 1945 nicht mehr lebendig ist und die Kenntnis des Stoffes unter uns schwindet. Natürlich, möchte man ausrufen, mit Übersetzern und Propagandisten wie Frau Schulze kann kein Stoff, und wäre er noch so großartig, dauerhaft überleben. Um dieses Epos in den Köpfen wieder zu verankern, bräuchten wir eine poetische Übersetzung, eine Einführung in Stoff und Geschichte, die hält, was sie verspricht, und etwas weniger Political Correctness in der Beurteilung des Ganzen. Alles andere macht das Original von ganz alleine.
ASIN/ISBN: 3538069905 |