Die literarische Welt des Mittelalters
Claudia Brinker-von der Heyde
Als ich das Buch aufschlug und ins Inhaltsverzeichnis sah, glaubte ich für einen Augenblick, dass der Verlag das falsche Buch zwischen die Deckel gebunden hatte:
Ein Buch entsteht - Bücher auf Bestellung - Das Buch und seine Rezipienten - Autoren und Texte. Das klang mehr nach einem Fachbuch zur Buchherstellung als nach »Literatur des Mittelalters«. Bei näherem Hinsehen ergab sich aber doch ein schlüssiges, dem Titel angemessenes Konzept: Literatur ist nicht ohne »Träger« denkbar und da im Mittelalter die Schrift schon erfunden war ist es nicht mehr ausschließlich die mündliche Tradition, sondern bereits die schriftliche, mit der Literatur verbreitet wird.
Die Autorin beginnt deshalb konsequenterweise bei der Herstellung des Materials (Pergament, Feder, Tinte etc.), erläutert die Schreiborte, widmet sich den Schreibern, der Aufbewahrung der Bücher und auch dem Buchdruck, der keineswegs erst mit Gutenberg begann.
Im zweiten Teil widmet sich die Autorin den Empfängern der literarischen Botschaft: den Lesenden, die damals nicht selten auch die Auftrageber für die Entstehung eines Buches waren, im dritten Teil der Auswirkung der Literatur in jener Zeit und im vierten dann den Autoren und ihren Texten.
Bereits im ersten Teil habe ich mich festgelesen und mich fesseln lassen. Manches war mir zwar bekannt (etwa zur Pergamentherstellung), vieles und inbesondere die Details aber nicht. Die Autorin vermeidet es auch nicht, Bezüge zur Gegenwart herzustellen, etwa indem Sie die Entstehung der Typografie in dieser Zeit beschreibt (gotische Textualis -> Fraktur, karolingesche Minuskel -> Antiqua) und abschließend den Weg beider Grundtypen bis in die heutige Zeit verfolgt (ich wusste z. B. nicht, dass Hitler durch sein Verbot der "Schwabacher Judenlettern" 1941 das Ende der Frakturschrift heraufbeschwor und damit Deutschland in das bereits bestehende internationale typografische System der Antiqua-Schriften integrierte).
Die Sprache des Buches ist sachlich, knapp und nicht künstlich ausufernd wie in manchen anderen wissenschaftlichen Werken, sicherlich nicht zuletzt deshalb, weil ein breiteres Publikum angesprochen werden soll. Germanisten sollten das alles wissen, was hier zusammengefasst und neu geordnet auf 165 Seiten (Haupttext) dargeboten wird. Ein überschaubares Literaturverzeichnis, ein knappes, aber informatives Glossar bieten weitere Informationen an.
Bereits nach der Lektüre des ersten Kapitels kann ich sagen, dass dieses Buch nicht lange auf das "zu Ende lesen" warten muss.
Wer sich für das Mittelalter interessiert und verlässliche Informationen sucht, bekommt mit diesem Buch einen weiteren Baustein, der auch darlegt, dass es sich keinesfalls um eine einheitliche, kulturell immer gleich gebliebene Epoche handelt (sofern man überhaupt vom Mittelalter als eine Epoche sprechen kann).
Das Buch erschien innerhalb der BWR (der "billigen wissenschaftlichen Reihe") der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt. Ich hatte es vorgestern in der Post. Mit etwas zeitlicher Distanz wird es auch im normalen Buchhandel zu haben sein. Die ISBN habe ich bereits bei Amazon gefunden (s.o.). Interessant ist, dass es dann soviel kostet, wie jetzt die ganze Jahresreihe (3 Bücher) zusammen.
Ich habe bereits bei den Buchbesprechungen auf ein anderes Buch zum Mittelalter hingewiesen: Musik des Mittelalters