Beiträge von Jürgen

    Aus welchem guten Grund soll das grammatische Geschlecht des Wortes "Mädchen" wichtiger sein als das natürliche Geschlecht des Lebewesens, das durch dieses Wort bezeichnet wird? Von wegen dem Herr Duden sein Grund?
    Man kann einfach und richtig schreiben: Ich schenke dem Mädchen aus dem Nachbarhaus, die Geburtstag hat, eine Torte.
    Sagt ein Deutschlehrer.

    [quote]Original von Tom
    :


    "Die eigene Sprache" ist direkt verbunden mit "den eigenen Themen" und "der eigenen Dramaturgie", darüberhinaus mit vielen anderen ähnlichen Aspekten. Es geht letztlich darum, das zu erzählen, was man nur selbst erzählen kann, und zwar auf die Art, auf die man das letztlich nur selbst kann.


    Es gibt Schriftsteller, wie z.B. Alfred Döblin, die über eine eigene wiedererkennbare Sprache verfügen - und trotzdem in jedem Buch eine neue Sprache finden. Jedem Buch liegt eine besondere inhaltliche Problemstellung zugrunde, die in einer besonderen Form gelöst wird.

    Wenn man eine Geschichte schreiben will, muss man an so viele Sachen denken: Personen, Handlung, Konflikte, Rede, Perspektive, Spannungsbogen, Witz, bildhafte Ausdrücke, Umgebung, Natur (und?). Dies alles muss nun so zusammengebracht werden, dass auch Nichtverwandte die Geschichte gerne lesen. Aber das Geheimnis einer guten Geschichte, die gern gelesen wird, liegt doch wohl darin, dass der Schriftsteller seine eigene Sprache entwickelt hat. Dieser individuelle Ton, Stil, Ausdruck scheint doch wohl das Wichtigste an einer guten Geschichte zu sein. Dann stellt sich jetzt die Frage: Wie kann man als angehender Schriftsteller seine eigene Sprache finden, entwickeln, erarbeiten?

    Jonathan Littell: Die Wohlgesinnten. Roman. Berlin Verlag 2008.


    In dem Roman geht es bekanntlich darum, dass der SS-Mann Max Aue von seinen Erlebnissen und Verbrechen an berühmten Schauplätzen des Zweiten Weltkrieges (u.a Stalingrad und Auschwitz) erzählt. Erzählt? Dies scheint mir die ästhetische Grundfrage des Romans zu sein: Kann ein barbarischer Mensch von sich erzählen? Wenn man unter Erzählen den Aufbau von (menschengemäßem) Sinn anhand der Darstellung individueller Erlebnisse und Erfahrungen versteht, dann kann der SS-Mann im engeren Sinne nicht erzählen. Gemäß seiner nationalsozialistischen Weltanschauung verleiht Max Aue seinem Handeln keinen individuellen Sinn. Weder aus Habgier, noch aus Sadismus, noch aus Karrieregründen beteiligt er sich am Völkermord (dann wäre er ein mieser, vielleicht noch erbarmungswürdiger Wurm), sondern er handelt aus der Überzeugung, dass der Völkermord notwendig sei. Deutschland stünde im Verdrängungswettbewerb mit dem „jüdischen Volk“, daher sei es notwendig, die jüdische Bevölkerung aus den eroberten Gebieten zu „evakuieren“, d.h. zu ermorden, um einen „feindfreien Herrschaftsraum“ herzustellen. Indem Max Aue die Shoa somit aus einer höheren, überindividuellen Notwendigkeit „begründet“, lehnt er es folgerichtig ab, individuelle Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. (So rebelliert nur sein Körper gegen sein barbarisches Handeln: Durch Übelkeit und Verdauungsprobleme.) Dies ist gewissermaßen eine „völkische Ethik“. Wenn er aber sein Handeln aus der individuellen Verankerung herauslöst, kann er auch seinen Lebenserinnerungen keinen menschlichen Sinn mehr geben; er ist ein toter Erzähler.
    Es ist unglaublich beeindruckend, wie Littell versucht, den barbarischen toten Erzähler zum Sprechen zu bringen. Auf jeder Buchseite der knapp 1400 Seiten steht dieses Erzählprojekt auf der Kippe; ob das ästhetische Problem wirklich gelöst worden ist, wird sich zeigen.
    Aber eines schafft Littell: Der Leser ist sofort involviert; Ärger, Wut, Entsetzen, Abscheu, Ekel usw., diese Gefühle und Stimmungen löst die Lektüre aus, aber nicht nur durch den schrecklichen Erzählgegenstand, sondern durch die Erzählweise, die Perspektive des toten Erzählers.

    Vielen Dank für das freundliche Willkommen.
    Da ich heute in den wilden Osten (ich meine Südwestmecklenburg: das ist ein tolles Pflaster für die Kreativität) fahre, kann ich mich erst später wieder melden.
    Viele Grüße


    Jürgen Block

    Jürgen Block


    Hi,
    ich bin Jürgen Block. Ich bin 46 Jahre alt. Als privater und professioneller Leser beschäftige ich mich seit über 30 Jahren mit Literatur. Vor gut zwei Jahren habe ich die Seiten gewechselt: Ich fange selbst an zu schreiben. Zuerst Hörspielszenen, darauf kurze Erzählungen, dann Kapitel aus einem lustigen Roman über Krebs und Progrock und jetzt sogar, wie ich überrascht feststellen musste, auch etwas Lyrik. In einer Anthologie ist vor wenigen Jahren ein kurzer Krimi (mein erster und vielleicht auch letzter?) veröffentlicht worden.
    Jetzt wünsche ich mir Austausch und Zusammenarbeit mit anderen Schreibbesessenen (?). Eure „Hilfen für die Autoren“ habe ich schon dankbar zu Hilfe genommen.


    Auf gute Zusammenarbeit
    Jürgen Block