Beiträge von Jürgen

    Hallo.

    Kein Mensch mit auch nur ein bisschen Sprachgefühl wird lange Komposita bilden.


    Diese Aussage, so allgemein und absolut formuliert, ist nicht zutreffend. Komposita sind nicht von vornherein "Nachteile", sondern bilden eine Möglichkeit, sich treffend, elegant, präzise und auch poetisch auszudrücken - wenn man es denn kann. Ein Meister der Wortungetüme ist Giwi Margwelaschwili (siehe meine Buchbesprechung), der "hübsche" (will heißen: witzige und zugleich poetische) Kompositia bildet: Bilderbuchweltbezirksanschauung, Bilderbuchweltbezirkshintergrundfräulein etc. etc.



    Und wenn ein Verb nach deutscher Grammatik am Satzende stehen muss, dann ist das ein Problem, da kann man sich auf den Kopf stellen und mit den Ohren wackeln: Es bleibt ein Problem, und zwar in puncto Verständlichkeit. Ein guter Stilist muss also darauf achten, dass Hilfs- und Hauptverb nicht zu stark auseinander fallen und dass Nebensätze vor dem Verb nicht zu lang werden.

    Auch die Satzgliedstellung des Prädikats ist kein "Problem", sondern einfach eine Tatsache. Wem die Endstellung partout nicht gefällt, weicht einfach auf Präsens oder Präteritum aus: Weg ist das "Problem". Aber überhaupt: Es ist nun mal so, dass wir uns im alltäglichen Sprechen gar nicht um dieses "Problem" kümmern: Achtet mal darauf, wie häufig wir beim Sprechen das Perfekt (um alle vergangenen Vorgänge auszudrücken) und den Würde-Konjunktiv benutzen: Es scheint so, dass die Verbklammer (Prädikat an zweiter und letzter Satzgliedstelle) ein zentrales Moment unsere Sprache darstellt.



    Viele Grüße
    Jürgen

    Seines, ganz klar


    Nö. Wieso studienrätlicher als der Studienrat? Unter "Mädchen" stellt man sich nunmal ein weibliches Lebewesen vor, daher darf sich in diesem Sonderfall das biologische Geschlecht gegen das grammatische Geschlecht durchsetzen: Also "ihres".

    Hallo,
    fällt euch auf, dass der Tod vom Genitiv beklagt wird - aber gleichzeitig eine große Unsicherheit hinsichtlich vom Gebrauch von ihm besteht. Diese Unsicherheit belegt doch aufs schönste: Er ist bereits eine Leiche.
    Seien wir doch froh!
    Wie schrecklich doppeldeutig war der Geh-nie-tief damals: Objektivus, Subjektivus und so weiter. Hört mir doch auf. Gut, dass er weg is!
    Ehrlich.

    ASIN/ISBN: 3940426199

    Ein beeindruckender Roman. Ob ich ihn uneingeschränkt empfehlen kann?


    In Giwi Margwelaschwilis Roman „Der Kantakt“ unternimmt die Ich-Person eine Abenteuerfahrt in einen Buchtext, nämlich in die Liebesgeschichte „Rheinsberg“ von Kurt Tucholsky. Der Ich-Erzähler weist sich als Stadtschreiber des realen Rheinsberg aus, der im Verlauf der Lektüre versucht, mit den Hauptpersonen der gelesenen Geschichte in Kontakt („Kantakt“) zu treten. Er nennt seine Unternehmung „ontotextologisch“, weil er sich die Details der Buchwelt gegenständlich vorstellt und sogar selbst zu einer gegenständlichen Person der Buchwelt wird.


    Dies erzählt der Autor in einer eigenwillig harten, aber auf wunderbare Weise auch wieder poetischen Sprache, die eine an Heidegger und Husserl orientierte Wissenschaftssprache nachahmt.


    Der Ich-Erzähler stellt sich die Aufgabe, mit den Hauptpersonen Claire und Wolfgang „Kantakt“ aufzunehmen, um ihnen bei der Lösung eines Buchweltproblems zu helfen. Dabei geht er davon aus, dass die Buchpersonen an ihr „Thema“ der Liebesgeschichte gebunden sind; sie sprechen und denken nur im Kontext ihres Liebesthemas. Allerdings leiden sie gerade deshalb an einem strukturbedingten Mangel: Sie vermögen kaum über den Tellerrand ihres Liebesthemas hinauszublicken; aufgrund ihrer thematischen Verstrickung treten die „metathematischen“ Ursachen, Gründe und Bedingungen ihres Liebesthemas und überhaupt ihrer Existenz kaum ins Bewusstsein.


    Es ist Wolfgang, der sich mit den Gedanken der Brüchigkeit und Unsicherheit der Liebe quält, obwohl in Tucholskys Rheinsberg-Buch nur die unbekümmerten Liebestage dargestellt werden; mit etwas metathematischer Reflexion könnte die Buchperson einsehen, wie grundlos ihre Liebessorgen sind. Daher nimmt der Ich-Erzähler es auf sich, die Buchpersonen über die Geheimnisse ihrer Existenz aufzuklären: Sie sind keine „Realpersonen“ (für die diese Sorgen freilich gelten würden), sondern Buchpersonen, die erst durch einen Leser zum Leben erweckt werden, kurz: sie sind „Lesewesen“. Nun stellt sich die Frage, auf welchem ontotextologischen Wege kann die Ich-Person den besonderen Kantakt mit den Lesewesen herstellen? Der Leser des Romans von Margwelaschwili wird Zeuge, wie die Ich-Person auf abenteuerliche Weise sich selbst und das reale Rheinsberg-Buch von Tucholsky in den Text gewissermaßen „hineinliest“ und zu Gegenständen des Lesens macht („verlesestofflicht“). Der in der Buchwelt verstofflichte Tucholsky-Text soll den Buchpersonen als Spiegel dienen, der ihnen den metathematischen Blick hinter die Buchkulisse und in ihre Existenz erlaubt: Sie sind von einem Autor erfundene und von einem Leser belebte Buchwesen, die Akteure einer glücklichen Liebesgeschichte sind.


    Mit welchen Schwierigkeiten der Ich-Erzähler dabei zu kämpfen hat, welch abenteuerliche Gedanken er entwickelt und wieder verwirft, welche ineinander verspiegelte Parallelen er zwischen Buch- und Realwelt herstellt – das ist schon urkomisch; vorausgesetzt, man behält den Humor auf der 700 Seiten langen Abenteuerreise.


    Was bringt einem die Lektüre?


    Das: Bei der Lektüre von Margwelaschwilis „Kantakt“ wird dem Leser eindringlich vor Augen geführt, dass das literarische Lesen eine besondere, die Anschauungs- und Vorstellungskräfte beanspruchende Tätigkeit ist, die sich grundsätzlich unterscheidet vom eindimensionalen Lesen der Informations- und Sinnentnahme in Alltag und Wissenschaft. Um ein Zitat aus dem Roman etwas abzuwandeln:


    Eindimensionale Leser sind dadurch gekennzeichnet, dass sie, „da ihnen die schöpferische Koproduktivität fehlt, die Texte von ihrer begrifflichen Seite her auffassen, dass sie nur imstande sind, dem Sinn des Dargestellten zu folgen, ohne diesen Sinn durch ein von ihnen mitvorgestelltes, gedankliches Sein begleiten zu können. Man könnte meinen, dass sie ohne jegliche konkrete Buchweltbezirkswirklichkeitsanschauung Lektüre treiben“ (706f). „Konkrete Buchweltbezirkswirklichkeitsanschauung“ heißt, dass der Leser sich nicht nur die Buchwelt des gelesenen Buches konkret anschaut, sondern dass er sich vorstellt, selbst als Person in die Buchwelt einzutreten. Dagegen bleiben eindimensionale Leser des Rheinsberg-Buches von Kurt Tucholsky in der vordergründigen „Thematizität“ einer weithin unbeschwerten Liebesgeschichte befangen.


    Also: Wer sich über die Metathematizitäten des Leselebens aufklären will und ontotextologischen Spaß versteht, dem sei das Buch sehr empfohlen.


    Im Berliner Verbrecher-Verlag erscheint derzeit das Werk von Giwi Margwelaschwili, der jahrzehntelang (42 (!) Jahre) in Georgien leben musste, bis er nach dem Zerfall der Sowjetunion mit einem riesigen, zum größten Teil noch unentzifferten Manuskriptstapel nach Deutschland gekommen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sein Werk den Vergleich mit Arno Schmidts Typoskript-Romanen („Zettels Traum“) standhält.

    Mein Agent sagte sinngemäß: Wissen Sie, Liehr, wenn Autoren die Ideen ausgehen, schreiben sie über die Schriftstellerei.


    Alle großen Romane thematisieren doch das Schreiben und damit letztlich auch sich selbst (so dass der Leser am Entstehungsprozess des Romans unmittelbar teilhat; die Klassiker der Moderne: Ulysses, Recherche, Mann ohne Eigenschaften); allerdings: Nicht alle Romane, die das Schreiben thematisieren, sind auch groß.

    Dass eine Umstellung von Atomenergie auf erneuerbare Energien nicht von heute auf morgen möglich (und auch wünschenswert) ist, wissen sicherlich auch die meisten.


    Möglich ist das schon - aber weshalb sollte das nicht wünschenswert sein?


    Man kann durchaus "wissen", dass das Stromnetz in der Bundesrepublik verstopft ist, weil 30% Energie zuviel erzeugt wird (als Energiereserve für den Notfall - auf die aber noch nicht zurückgegriffen werden musste). Man könnte also sofort alle Atommeiler stilllegen, ohne dass es zu Engpässen kommen würde.

    Hallo.


    "Reines" Hochdeutsch wird doch nirgendwo gesprochen (dass in Hannover der Sprach-Gral liege, ist ja ein Märchen). Unser hochsprachliches Ideal wird in den überregionalen Qualitätszeitungen gepflegt: Viel Spaß, wer seinen Romanstil an der FAZ orientieren will.


    In meiner literarischen Sprache, wenn ich das mal so nennen darf, spielt die dialektische Einfärbung auch der Erzählerstimme eine wichtige Rolle; diese Sprache ist kraftvoller und zupackender als reines Hochdeutsch, das für meinen Geschmack etwas geschwätzig daherkommt (ich meine, es werden ne ganze Menge Silben gebraucht für so n bisschen Sinn).


    Viele Grüße


    Jürgen

    Das das mit der Doktorarbeit Mist war, darüber müssen wir nicht streiten!
    Ich bin eben immer noch der Meinung, dass das keine Auswirkung auf seine Kompetenz als Minister hat.

    Aber bitte, worin bestand denn die "Kompetenz als Minister"? Nach Gutsherrnart Führungspersonen zu entlassen (Kundus- / Gorch-Fock-Affäre), die Bundeswehrreform im Schnellschussverfahren in Angriff zu nehmen (ohne öffentliche Diskussion und ohne Kostenrechnung)? Was ist denn lächerlicher: Dass jemand ohne Berufsausbildung und Berufserfahrungen, aber mit unüberbietbarer Selbstherrlichkeit den Anspruch auf den Kanzler-Job erhebt - oder dass Teile der Öffentlichkeit das adlig-
    überhebliche Gehabe dieses Yellow-Press-Zombie als "Ministerkompetenz" bejubelt?

    1. Guttenberg tritt nun doch als Bundesminister zurück. Man hat herausgefunden, dass er den Amtseid nachgesprochen hat.


    2. Gutenberg ist der Erfinder der beweglichen Lettern. Guttenberg ist der Erfinder der beweglichen Textpassagen.


    3. Die Universität Bayreuth hat jetzt eine Doktorklappe eingeführt. Dort können ungewollt erworbene Doktortitel anonym wieder abgegeben werden.


    4. Guttenberg wird zurückgestuft auf Dr. hc. (has copied).


    5. Guttenberg soll all seine Vornamen aus Wikipedia abgeschrieben haben.


    6. "Wetten dass...?"- Auftritt geplant: Guttenbers Saalwette lautet: "Ich wette, dass Sie es nicht schaffen, alle Autoren meiner Doktorarbeit auf die Bühne zu bringen, die das Lied 'Alles nur geklaut' singen."


    (Zit. n. FAZ 24.2.2011, S. 9)

    Dass daraus zum Beispiel ein Urvakuum wird, in dem es blubbert, ist genauso logisch wie der Schöpfer, der aus der anderen Denkrichtung her vorgestellt wird. Beides ist aber nicht mehr als eine Vorstellung.


    Die (natur-)wissenschaftliche Konstruktion eines Anfanges etc. unterscheidet sich erkenntnistheoretisch und methodologisch grundsätzlich von einer religiösen Konstruktion: Religiöse Vorstellungen sind grundsätzlich teleologisch, bei denen das Entwicklungsziel so aufgefasst wird, dass es den Prozess auslöst, bestimmt und vollendet. Anders ausgedrückt: Der Schöpfer schöpft aus dem Nichts eine Schöpfung. Auffassungsorgan eines solchen Vorstellung ist der Glauben.


    Im Gegensatz dazu sind wissenschaftliche Konstruktionen grundsätzlich nichtteleologisch: Die Prozesse werden so aufgefasst, als würde ihnen kein Telos (Zweck, Ziel) zugrunde liegen. Ein Paradigma für solche Vorstellungen ist Darwins Evolutionstheorie. Eine solche durch empirische Forschungen gehärtete Theorie ist doch keine "Vorstellung" wie ein aus anderen Schöpfungsmythen zusammengeschusterter christlicher Schöpfungsmythos.




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    Zitat

    Original von stemate


    "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" von Bastian Sick von Kiepenheuer & Witsch (Taschenbuch - September 2006)
    (...) das sollte man zur Pflichtlektüre in den Schulen machen :brille


    Das wird man doch wohl hoffentlich nicht, weil in der Schule aufgrund der Wissenschaftsorientierung keine normative Grammatik gelehrt wird. Wer die hausbackenen Grammatikvorlieben des Herrn Sick übernehmen will, der tue es und werde glücklich damit; aber vorschreiben kann man sie keinem.


    Viele Grüße
    Jürgen