Ein beeindruckender Roman. Ob ich ihn uneingeschränkt empfehlen kann?
In Giwi Margwelaschwilis Roman „Der Kantakt“ unternimmt die Ich-Person eine Abenteuerfahrt in einen Buchtext, nämlich in die Liebesgeschichte „Rheinsberg“ von Kurt Tucholsky. Der Ich-Erzähler weist sich als Stadtschreiber des realen Rheinsberg aus, der im Verlauf der Lektüre versucht, mit den Hauptpersonen der gelesenen Geschichte in Kontakt („Kantakt“) zu treten. Er nennt seine Unternehmung „ontotextologisch“, weil er sich die Details der Buchwelt gegenständlich vorstellt und sogar selbst zu einer gegenständlichen Person der Buchwelt wird.
Dies erzählt der Autor in einer eigenwillig harten, aber auf wunderbare Weise auch wieder poetischen Sprache, die eine an Heidegger und Husserl orientierte Wissenschaftssprache nachahmt.
Der Ich-Erzähler stellt sich die Aufgabe, mit den Hauptpersonen Claire und Wolfgang „Kantakt“ aufzunehmen, um ihnen bei der Lösung eines Buchweltproblems zu helfen. Dabei geht er davon aus, dass die Buchpersonen an ihr „Thema“ der Liebesgeschichte gebunden sind; sie sprechen und denken nur im Kontext ihres Liebesthemas. Allerdings leiden sie gerade deshalb an einem strukturbedingten Mangel: Sie vermögen kaum über den Tellerrand ihres Liebesthemas hinauszublicken; aufgrund ihrer thematischen Verstrickung treten die „metathematischen“ Ursachen, Gründe und Bedingungen ihres Liebesthemas und überhaupt ihrer Existenz kaum ins Bewusstsein.
Es ist Wolfgang, der sich mit den Gedanken der Brüchigkeit und Unsicherheit der Liebe quält, obwohl in Tucholskys Rheinsberg-Buch nur die unbekümmerten Liebestage dargestellt werden; mit etwas metathematischer Reflexion könnte die Buchperson einsehen, wie grundlos ihre Liebessorgen sind. Daher nimmt der Ich-Erzähler es auf sich, die Buchpersonen über die Geheimnisse ihrer Existenz aufzuklären: Sie sind keine „Realpersonen“ (für die diese Sorgen freilich gelten würden), sondern Buchpersonen, die erst durch einen Leser zum Leben erweckt werden, kurz: sie sind „Lesewesen“. Nun stellt sich die Frage, auf welchem ontotextologischen Wege kann die Ich-Person den besonderen Kantakt mit den Lesewesen herstellen? Der Leser des Romans von Margwelaschwili wird Zeuge, wie die Ich-Person auf abenteuerliche Weise sich selbst und das reale Rheinsberg-Buch von Tucholsky in den Text gewissermaßen „hineinliest“ und zu Gegenständen des Lesens macht („verlesestofflicht“). Der in der Buchwelt verstofflichte Tucholsky-Text soll den Buchpersonen als Spiegel dienen, der ihnen den metathematischen Blick hinter die Buchkulisse und in ihre Existenz erlaubt: Sie sind von einem Autor erfundene und von einem Leser belebte Buchwesen, die Akteure einer glücklichen Liebesgeschichte sind.
Mit welchen Schwierigkeiten der Ich-Erzähler dabei zu kämpfen hat, welch abenteuerliche Gedanken er entwickelt und wieder verwirft, welche ineinander verspiegelte Parallelen er zwischen Buch- und Realwelt herstellt – das ist schon urkomisch; vorausgesetzt, man behält den Humor auf der 700 Seiten langen Abenteuerreise.
Was bringt einem die Lektüre?
Das: Bei der Lektüre von Margwelaschwilis „Kantakt“ wird dem Leser eindringlich vor Augen geführt, dass das literarische Lesen eine besondere, die Anschauungs- und Vorstellungskräfte beanspruchende Tätigkeit ist, die sich grundsätzlich unterscheidet vom eindimensionalen Lesen der Informations- und Sinnentnahme in Alltag und Wissenschaft. Um ein Zitat aus dem Roman etwas abzuwandeln:
Eindimensionale Leser sind dadurch gekennzeichnet, dass sie, „da ihnen die schöpferische Koproduktivität fehlt, die Texte von ihrer begrifflichen Seite her auffassen, dass sie nur imstande sind, dem Sinn des Dargestellten zu folgen, ohne diesen Sinn durch ein von ihnen mitvorgestelltes, gedankliches Sein begleiten zu können. Man könnte meinen, dass sie ohne jegliche konkrete Buchweltbezirkswirklichkeitsanschauung Lektüre treiben“ (706f). „Konkrete Buchweltbezirkswirklichkeitsanschauung“ heißt, dass der Leser sich nicht nur die Buchwelt des gelesenen Buches konkret anschaut, sondern dass er sich vorstellt, selbst als Person in die Buchwelt einzutreten. Dagegen bleiben eindimensionale Leser des Rheinsberg-Buches von Kurt Tucholsky in der vordergründigen „Thematizität“ einer weithin unbeschwerten Liebesgeschichte befangen.
Also: Wer sich über die Metathematizitäten des Leselebens aufklären will und ontotextologischen Spaß versteht, dem sei das Buch sehr empfohlen.
Im Berliner Verbrecher-Verlag erscheint derzeit das Werk von Giwi Margwelaschwili, der jahrzehntelang (42 (!) Jahre) in Georgien leben musste, bis er nach dem Zerfall der Sowjetunion mit einem riesigen, zum größten Teil noch unentzifferten Manuskriptstapel nach Deutschland gekommen ist. Ich könnte mir vorstellen, dass sein Werk den Vergleich mit Arno Schmidts Typoskript-Romanen („Zettels Traum“) standhält.