"Muslime können Revolution machen, aber keine Demokratie."
Die Frage ist meiner Meinung nach grundsätzlich falsch gestellt. Es geht nicht darum, ob Muslime Demokratie können oder nicht - es geht darum, ob eine Gesellschaft, die auf einer stark einschränkenden ideologischen Doktrin basiert, demokratisch sein kann oder nicht (wobei Demokratie hier als Synomym für freiheitlich steht. Eine Gesellschaft, die sich mehrheitlich für die Diktatur entscheidet, gilt streng genommen ebenfalls als "Demokratie", weil Volkes Wille die Diktatur wünscht - aber das ist ein anderes Thema).
Wenn sich eine Gesellschaft demokratisch nennen will, muss sie bestimmte Freiheiten für das Individuum zulassen. Diese Freiheiten decken sich mit den Menschenrechten und können u. a. in den ersten Artikeln des deutschen Grundgesetzes nachgelesen werden. Das fängt bei der Gleichbehandlung aller Menschen an (unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Herkunft, Glauben, politischer Anschauung, körperlichen oder seelischen Gebrechens) und setzt sich über verschiedene Freiheitsbestimmungen fort (Meinung, Information, Presse, Kunst, Wissenschaft, Versammlung, Koalition).
Macht sich ein Land diese Vorgaben zu eigen, um sich demokratisch zu nennen, muss es sich gefallen lassen, einer Prüfung unterzogen zu werden. Wenn ein Staat sich z. B. eine bestimmte Religion zur Bewertung des menschlichen Zusammenlebens heranzieht, kommt es zwangsläufig zum Konflikt, wenn es um anders geartete religiöse Weltanschauungen geht. Dies betrifft alle Religionen, nicht nur den Islam. Ein Staat, wo sich Regierung und Volk gebärden wie die Wiedertäufer in Münster, ist auch im 21. Jahrhundert kein demokratischer Staat. Der Vatikan im Herzen von Rom ist prinzipiell eine klerikale Diktatur (oder können die Bewohner des Vatikans den Papst durch geheimes, freies und direktes Votum abwählen?). Würde es einen Staat geben für die Scientologen oder für die Zeugen Jehovas, könnte ich mir nur schwerlichst da demokratische Zustände vorstellen.
Die Türkei wird immer als leuchtende Fackel der Demokratie innerhalb der islamischen Welt gesehen. Hat mal jemand versucht, in der Türkei Grund und Boden zu kaufen, um darauf eine christliche Kapelle zu bauen? Oder hat mal jemand nachgeforscht, warum in der Türkei die Ausbildung von nicht-islamischen Religionslehrern verboten ist? Wer Urlaub in der Türkei macht, der sollte es mal ausprobieren, was geschieht, wenn man auf der Straße kostenlos Bibeln verteilt. - Dies soll nicht den Islam diffamieren, sondern ausschließlich zeigen, wie ein Staat gestrickt ist, der sich eine (x-beliebige) Religion als Wertgrundlage nimmt. Was geschieht bei der Interessen-Kollision?
Die Frage ist also, ob bei einer religiös geprägten Gesellschafts- und Staatsform eine Trennung von Staat und Religion möglich ist, damit Menschen, die nicht mit der vorherrschenden Religion konform gehen, ihr Recht auf Gleichbehandlung in Anspruch nehmen können. Ein Muslim ist für mich erst dann demokratisch, wenn er es akzeptieren kann, dass ein Muslim sich vom Islam abwendet, eine andere oder keine Religion annimmt und trotzdem für den Muslim ein gleichwertiger Mensch bleibt.
Und da sich die Ausgangsfrage auf Ägypten bezieht: Können die Ägypter das?
Grüße
Siegfried