Der Herr ist kein Hirte
Christopher Hitchens gehört zu einer ganzen Reihe atheistischer Publizisten, die sich in jüngerer Zeit mit religionskritischen Büchern zu Wort gemeldet haben. Hitchens buchdicke Polemik heißt im Untertitel „Wie Religionen die Welt vergiften", und genau für diese These liefert er eine Reihe eindrucksvoller Belege.
Da Hitchens auch als Journalist für englische Zeitungen aus vielen Teilen der Welt berichtet hat, führt er eine ganze Reihe von Beispielen an, die er selbst beobachtet und recherchiert hat. Zielscheibe seiner Kritik sind vorrangig die drei Buchreligionen – Judentum, Christentum und Islam. In kurzen Kapiteln beschäftigt er sich dann noch mit asiatischen Religionen, primär dem Buddhismus, und der Bhagwan-Bewegung.
Hitchens lehnt die Religion ab – daran läßt er keinen Zweifel. Er hält ihre metaphysischen Begründungen für falsch, namentlich die Annahme eines Schöpfers, mit dem Gläubige durch geeignete Rituale und Praktiken in Verbindung treten können. Religion ist für ihn Menschenwerk, nicht Offenbarung. Sein Hauptargument ist hier Ockhams Rasiermesser – „Entitäten dürfen nicht über das Notwendige hinaus vermehrt werden". Anders gesagt: Was sich durch einfache Annahmen erklären läßt, braucht nicht durch wesentlich entlegenere Annahmen erklärt zu werden.
Übertragen auf den Konflikt zwischen religiöser und wissenschaftlicher Welterklärung heißt das, daß die Wissenschaft als Erklärung ausreicht und Gott nicht braucht. Es gibt für Hitchens keine Metaphysik hinter den Erscheinungen, die diesen Erscheinungen erst zu ihrer Bedeutung verhilft. Gültige Erklärungen kann nur die Wissenschaft durch geduldiges Forschen, Nachfragen und Verfizieren bzw Falsifizieren liefern.
Er meint, daß organisierte Religion eine überholte und gefährliche Art ist, sich die Welt und ihr Funktionieren erklären. Für ihn kommt sie aus der Zeit, als die Menschen eben nicht wußten, wie das Wetter entsteht, wie sich Krankheiten verbreiten oder wie sie die Erscheinungen am klaren Nachthimmel richtig einordnen sollten.
In gesonderten Kapiteln werden die drei Buchreligionen untersucht, indem er ihre zentralen Texte einer kritischen und streckenweise polemischen Betrachtung unterzieht. Altes und Neues Testament stecken voller logischer Widersprüche, Ungereimtheiten und unausgegorener Behauptungen. Sie sind immer wieder überarbeitet und redigiert worden; ganze Evangelien, die gnostischen Evangelien, wurden aus der Überlieferung verbannt und unterdrückt. Ähnliches gilt seiner Meinung nach für den Koran.
Seine stärksten Argumente hat Hitchens dort, wo er das Handeln ihrer Funktionäre beleuchtet. Denkt man sich seine verbale Schärfe weg, bleibt trotzdem eine blamable Datenbasis verbrecherischer Fahrlässigkeit, Menschenverachtung, von systematischer Verdrehung von Tatsachen, Machtgier und Manipulation übrig.
Ich greife hier einige Beispiele heraus, die mir besonders ins Auge sprangen. Da ist ein Erlebnis von Hitchens selbst, der sich an einer UNICEF-Initiative zur Verteilung von Polio-Impfstoffen in Bengalen, Nigeria und an anderen Orten der Welt beteiligte. Die Initiative war zunächst erfolgreich. Aber im muslimischen Nordnigeria verfaßten Geistliche eine Fatwa, in der sie behaupteten, diese Polioimpfung (zweimaliges Schlucken von Tropfen) sei eine amerikanische Verschwörung, um die wahren Gläubigen unfruchtbar zu machen. Die Folge: Während die UNICEF-Initiative in fast allen Teilen der Welt erfolgreich war und für poliofreie Zonen sorgte, war die Kinderlähmung in Nigeria und in den Nachbarländern plötzlich wieder auf dem Vormarsch.
Ein anderes Beispiel ist das Verfahren um die Heiligsprechung von Mutter Theresa, in dem Hitchens seine Ansichten äußern durfte. Hitchens schildert, wie der Film des britischen Dokumentarfilmers Malcolm Muggeridge zustande kam. Dieser Film, „Something beautiful for God", produziert 1969, machte die Nonne unter anderem berühmt, weil er sie trotz eines düsteren und schlecht beleuchteten Drehorts in überirdisch erscheinendem Licht zeigte. Muggeridge, selbst ein Evangelikaler, war begeistert und sah in diesem Licht etwas Göttliches. In Wirklichkeit hatten die Kameraleute einfach einen neuen und besonders lichtempfindlichen Film verwendet. Gott hatte nichts damit zu tun.
Außerdem erwähnt Hitchens den Fall einer bengalischen Frau, denen zwei Nonnen am ersten Todestag von Mutter Theresa ein Medaillon aufgelegt hatten. Das Medaillon war in Kontakt zum Körper der berühmten Nonne gewesen und sollte die bengalische Frau von Unterleibskrebs geheilt haben. Hitchens ging dem nach und fand heraus, daß die Krebskranke durch übliche medizinische Verfahren kuriert worden war. Die Wunderheilung war schlicht eine Medienente.
Die Religionen und ihre Verwalter unterschreiten alle moralischen Standards, die sie selber vertreten. Hitchens vertritt sogar die These, daß moralisches Verhalten nicht durch Religion erzeugt wird, sondern ihr vorausgeht. Er fordert eine neue Aufklärung, einen Aufstand der Vernunft für eine durchgreifend säkularisierte Welt. Man ist geneigt, ihm Recht zu geben: Religion vergiftet die Welt.
Aber ist es wirklich die Religion als solche? Ist es nicht eher so, daß Menschen die Religion als Machtmittel einsetzen oder ihre religiösen Texte in einer Art interpretieren, die ihren persönlichen Vorurteilen entspricht? Zudem passen spirituelle Erfahrungen wiederum nicht in sein Weltbild. Auch wenn die Überlieferungen und Theologien davon geprägt sind, Herrschaft zu legitimieren und sich dazu eignen, von kriminell denkenden Funktionsträgern genutzt zu werden, bleibt Spiritualität ein Teil menschlicher Erfahrungen. Wäre das anders, wäre jede Form von Religion längst verschwunden.
Was die Lektüre seines Buches streckenweise anstrengend macht, sind die negativen Abqualifizierungen, mit denen er die drei Buchreligionen und ihre Sachwalter bedenkt. Mag ja sein, daß er ein schweres und langes Artilleriebombardement für das richtige Mittel hält. Aber ich als Leser weiß spätestens nach Seite 100, wo die Reise hin geht und mag es auf Seite 150 nicht mehr ertragen.
Außerdem teile ich seine These nicht. Es ist nicht die Religion, die die Welt vergiftet. Es sind Menschen, die mit Hilfe der Religion die Welt zu einem sehr gefährlichen Ort machen.