- Bei mir stellt sich der Wunsch nach „Realität“ ein, wenn es um ein Thema geht, das mich selbst betrifft. Dann unterstelle ich jemandem, der in einer vergleichbaren Lage war, besseren Einblick als jemandem, der sich – wenn auch vielleicht umfassend – nur darüber informiert hat. Bei Themen, die weit außerhalb meines Erfahrungsbereiches liegen, gibt es diesen Wunsch weniger – zwar möchte wohl niemand „belogen“ werden, kann aber oft auch gar nicht beurteilen, ob etwas realistisch ist oder nicht.
Interessant, das geht mir tatsächlich anders: Wenn mich ein Thema betifft oder ich mich darin auskenne, hat es der Realtitätsanspruch einer fiktionalen Geschichte bei mir sogar schwerer, weil ich ja mein Wissen, meine Erfahrung als Maßstab habe und jeden inhaltlichen Ausrutscher dann sofort sanktioniere mit einem: pfff! Das stimmt ja so gar nicht. Und wenn ich ein Thema vertiefen will, schau ich Dokus.
Anders, wenn ich so gar nichts weiß: Da kannst du mir grundweg alles erzählen und ich glaub es dir, solange die Geschichte in sich stimmig ist.
Mir zuletzt so passiert beim Film: Interstellar. Ich war hin und weg von dem gesamten Film. Mein Mann war genervt, wegen so vieler Logikfehler, weil
- „Realität“ auf Film oder Papier bannen zu wollen, scheitert – je nach Anspruch – schon daran, dass der „Akt des Festhaltenwollens“ Einfluss auf das Geschehen hat. Man agiert in Anwesenheit einer Kamera nicht so, wie ohne.
Aber dennoch kann ich doch über Szenenaufbau und Perspektive realistische Nähe erzeugen (siehe meinen Post weiter oben über "Halt auf freier Strecke")
- Bei einem handlungsorientierten Roman-/Filmstoff wird Wert darauf gelegt, dass jeder Handlungsblock die Geschichte vorantreibt – während sich in der Realität Ablenkungen und Sackgassen auftun. Die zu erfassen, würde also einerseits einen „realen“ Eindruck verschaffen, wäre aber ausgesprochen ermüdend für den Leser/Zuschauer. (Nachtrag: Wie Tom hier auch schon ausführte.)
Genau: real live ist oft ermüdend, aber wenn die Ablenkungen und Sackgassen geschickte eingebaut werden, können sie genau dieses Hin-und Hergeworfenwerden eines echten Lebens nachfühlen lassen.
- Eine Weile gab es diese Filme, die den Eindruck von Realität schaffen wollten, indem sie möglichst unprofessionell gemacht waren – Handkamera, verwackelte, schlecht ausgeleuchtete, abgeschnittene Bilder, Darsteller, die, bewusst oder unbewusst, „nicht schauspielerten“ (was natürlich ein Widerspruch in sich sein kann). Jugendliche nachts im Wald (Blair Witch Project), Junger Mann will bei Party filmen, als Außerirdische die Stadt in Schutt und Asche legen, TV-Team filmt in Mietskaserne, als da eine Art Zombie-Virus ausbricht. Alles nicht neu – das kannte schon Orson Welles, der 1938 für ein Radiohörspiel auf ähnliche Elemente zurückgegriffen hat (wenn auch die Auswirkungen nach neueren Erkenntnissen wohl nicht so dramatisch waren wie oft kolportiert, das nur am Rande).
Jepp, man kann so tun als sei der Film eine Dokumentation. Ob man sie als realistisch empfindet ist dann aber noch eine andere Frage.
Gleiches gilt für fiktive Biografien. Bei Virginia Woolfs Orlando z.B. funktionierte das für mich überhaupt nicht. Die Erzählung war als fiktive Biografie angelegt, aber der Erzählstil war der eines Märchens und sehr auf Abstand. Das meinte ich oben mit der spannenden Frage der Perspektive, die Realitätsempfinden in mir erzeugt oder nicht.
- Ein Film wie der um Animierfrau Angelique kann demnach meines Erachtens nur im Nachhinein entstehen, indem auf tatsächliche Geschehnisse als Basis zurückgegriffen wird, man streicht, glättet, Lücken füllt, dramaturgisch „aufpeppt“ … und so letztendlich eine Geschichte daraus strickt.
Ja, und das kann gelingen oder nicht, richtig? Im Fall von Angelique bliebst du "außen vor", schriebst du.
Deinen Satz: "...kann nur im Nachhinein entstehen..." verstehe ich nicht. magst du erläutern?
Ich finde dieses Thema extrem spannend...am meisten wegen der Überlungen, ob Literatur und Film da überhaupt vergleichbar sind...
Hoffe auf mehr dazu!
- Das betont Knausgard auch in dem Radio-Feature: Niemand erinnert sich im Detail an Dialoge aus der Kindheit. Also ist in diesem Werk, das als streng autobiographisch, also „realistisch“, gilt, auch ein Gutteil Fiktion. Er musste diese Erinnerungslücken irgendwie füllen.
Das nun aber ist eine Binsenweisheit, die Knausgar da losgelassen hat. Natürlich muss man das.