Alles anzeigenBereits am Begriff „Weltliteratur“ reibe ich mich. Wer entscheidet darüber, was Weltliteratur ist und aufgrund welcher Kriterien? Dass es dafür allgemeingültige Kriterien gibt oder zumindest geben könnte, bezweifle ich.
Geschichten, die ihren „Zweck“ deutlich erkennbar vornehmlich darin sehen, sich voll und ganz einer Metapher oder Prämisse unterzuordnen, sind für mich eher selten lesenswerte Geschichten. Sie wirken häufig allzu ausgedacht, überbemüht, überkonstruiert und vor allen Dingen empfinde ich sie als belehrend. Sicher hat es Epochen gegeben, in denen Literatur auch oder sogar vornehmlich mit der Absicht verbunden war ein Publikum erziehen zu wollen. Aber es ist 2022. Wahrlich kein guter Jahrgang. Trotzdem oder gerade deshalb braucht heutzutage niemand mehr moralinsaure Geschichten, deren Lektüre einen nicht selten depressiv werden lässt. Und ich brauche auch niemanden, der mir das Universum oder ersatzweise die Menschheit oder „die“ menschliche Natur erklärt. Weder mit Metapher noch ohne. Mein Erwachsenen-Ich reagiert darauf kaum anders als mein ehemaliges Schüler-Ich.
Für mich braucht es keine geschichtenumklammernde Metapher, um einer Geschichte das Label „große“ Literatur verpassen zu können. Stattdessen: ein starkes Empathievermögen, eine erzählenswerte und deshalb wahrscheinlich auch lesenswerte Geschichte, lebendige Figuren, ein untrügliches Sprachgefühl, die Beherrschung des Handwerks. Daraus entsteht nicht schon zwangsläufig große Literatur, aber es sind die unabdingbaren Voraussetzungen dafür, dass dies möglich wird.
Als irritierend empfinde ich auch die immer wiederkehrende Unterscheidung zwischen großer Literatur und Unterhaltungsliteratur. Unterhaltungsliteratur ist das, was man während einer mehrstündigen Zugreise liest und hernach schnell wieder vergisst, während die Kafkas, Frisch, Grass et cetera auf einem allabendlich mit kleinen Scheinwerfern angestrahlten Altar in der heimischen Bibliothek drapiert sind.
Oder nicht? Ich meine das nicht nur als Scherz.
Für viele Menschen enthält das Wort „Unterhaltung“ in Wahrnehmung und Deutung, auch der unbewussten, häufig eine abwertende Konnotation. Warum? Für mich existiert nicht schon zwangsläufig ein Widerspruch zwischen dem großen Unterhaltungswert einer Geschichte und einer ebenso hohen literarischen Wertigkeit des Romans, in der sie erzählt wird. Gleiches gilt für die Humorabstinenz jener Œuvres, die weitgehend widerspruchslos als „Weltiteratur“ anerkannt sind. Woher kommt dieses in der Berührung mit Humor oft reflexhafte Bäh jener, die meinen, zweifelsfrei zwischen E- und U-Literatur unterscheiden zu können und mehr noch, dies zu müssen? Drama! Drama! Drama! ist ja nicht schon per se ein Signum literarischer Qualität. Sicherlich ist es nicht einfach, einen literarisch höherwertigen Roman zu schreiben, in dem Humor einen prominenten Platz einnimmt. Tatsächlich halte ich das im Fall des Gelingens für allerhöchste Kunst.
Mit Humor meine ich natürlich nicht den hierzulande häufig als Synonym gebrauchten Begriff „Schenkelklopfer“, die im Grunde nichts weiter sind als der aus der unseligen Verbindung von Dummheit, mangelnder Sensibilität und Verzweiflung geborene Versuch einer Stressreduktion auf Kosten anderer Menschen. Humor entsteht vielmehr aus dem ironischen und selbstironischen Blick auf sich, die anderen und die Bedingungen der menschlichen Existenz und einer damit einhergehenden Distanzierung auch und gerade vom eigenen Leiden. Humor ist gut abgehangene Trauer.
Hey Jürgen, erstmal vielen Dank für deine ausführliche Antwort!
Den Begriff Weltliteratur würde ich ganz pragmatisch definieren: Bücher, über die wir alle immer noch und immer wieder sprechen & die immer wieder in den Dutzenden von Kanons und Listen auftauchen. In diesem Sinne gibt es dann auch schlechte Weltliteratur.
Ansonsten stimme ich dir zu: der Wert der genannten Werke liegt (neben den notwendigen Bedinungen, die du nennst) ja gerade darin, nicht moralinsauer oder überkonstruiert zu sein, obwohl sie eine Klammer haben, die sie im Innersten zusammenhält.
Also mir geht es umgekehrt: Ich lese die Kafkas, vergesse sie nicht, und ärgere mich über geschenkte Bücher von unbedarften Bekannten aus der Spiegel-Bestsellerliste, die ungelesen im Billy-Regal verstauben. Aber prinzipiell wirst du recht haben.
In Bezug auf Unterhaltung und große Literatur sehe ich da auch gar keinen Widerspruch. Ich würde sagen, auch "Der Prozess" hat durchaus Humor und zwar eben nicht die schenkelklopfende Art. Anderes Beispiel: "Das Tagebuch von Adam und Eva" von Mark Twain. Stellenweise zum Brüllen komisch, aber trotzdem große Literatur für mich. Letztlich bezeichnet Unterhaltungsliteratur aber eben etwas anderes, also gerade nicht solche Werke. Und auf diese eingeübte Unterscheidung beziehe ich mich, auch wenn sie unscharf ist, weil natürlich auch große Literatur unterhalten kann/darf/soll/muss.
ZitatWas meinst du mit Universalität?
Grundsätzlich geht es doch schon seit der Antike ausnahmslos in allen Geschichten um die drei großen Fragen: Woher? Wohin? Warum? Und auf einer nachgeordneten Ebene um die universalen Themen Liebe, Hass, Verrat, Vergeltung, Schuld, Sühne, Schicksal, Altern, Tod.
Ja genau, und universelle Ideen/Metaphern fügen sich dort ein und fügen etwas hinzu, ohne dabei ihrer Universalität beraubt zu werden, sonst wären sie plump und moralinsauer. In Kafkas Fall moderne Antworten auf diese Fragen, auch wenn wir keine davon benennen können, nur erleben, ästhetisch begreifen vielleicht.
ZitatHochgestochene Konzepte? Nein. Mir ist noch immer nicht ganz klar, wodurch sich diese Konzepte im Besonderen auszeichnen.
Ich schreibe die Geschichten, die geschrieben werden wollen. Die Frage etwa nach der Prämisse stelle ich mir frühestens, wenn die Geschichte geschrieben ist und auch dann erst, wenn mich jemand danach fragt.
Ok das finde ich interessant, ich würde den Stift nicht in die Hand nehmen, wenn ich nach 10 Seiten nicht wüsste, was der Kern des Buches ist. Aber vielleicht ist das auch nur dieses Plotter-vs.-Pantser-Thema.
Hochgestochen im Sinne von: Ich kann einen Krimi schreiben, der in der Provence spielt und in dem der Kommissar viel Pastis trinkt. Es gibt ein Rätsel, es wird aufgeklärt, und wir haben nebenbei viel über die Provence gelernt - und wollen da gern mal wieder hin. Ich kann aber auch einen Krimi schreiben, der in einer mittelalterlichen Abtei spielt, in "Der Name der Rose" nennen und am Ende findet der Detektiv nichts heraus, weil wir in der Postmoderne angelangt sind.
ZitatAber ich habe festgestellt, dass ich ein wiederkehrendes und deshalb wohl übergeordnetes Thema habe: Flucht, der Flucht vor Krieg und Zerstörung, vor Hunger und Elend, die Flucht vor anderen Menschen, vor Gläubigen, Andersgläubigen, Andersdenkenden, die Flucht vor dem Leben ... der Flucht vor dem Leben und der Flucht vor sich selbst und dem daraus entstehenden Verlangen ins Leben zurückfinden zu wollen, sich zurück zu kämpfen in dieses Leben.
Und ich würde eben sagen, dass man ein Buch über einen Flüchtenden schreiben kann und es kann gut erzählt sein usw. - aber um ein wirklich großes Werk zu sein, muss es eine große Idee in sich tragen, eine Metapher, ein Bild, eine Erkenntnis vielleicht auch. Kertesz' Roman eines Schicksalslosen zum Beispiel ist ein Buch über das Leben im KZ. Aber es ist große Literatur, weil es nicht allein das erzählt, sondern auch die - aufwühlende - Einsicht, dass sich ein KZ-Häftling langweilen kann usw.
Nunja, ich danke euch für die hellsichtigen Antworten, ich hoffe ich konnte mich auch einigermaßen verständlich machen.