Etwas verspätet, aber doch, möchte ich meinen Leseeindruck dieses Romans nachreichen. Kontroversielle Meinungen fördern bekanntlich die Diskussionskultur.
Mag sein, dass der neue Roman von Judith Hermann eher Frauen
anspricht, wie manche Rezensenten meinen, ist er doch aus der
Ich-Perspektive einer Endvierzigerin verfasst, die ihr früheres
Leben hinter sich lässt und über die Vergangenheit ebenso wie über
ihre emotional bewegte Gegenwart referiert.
Die namenlose
Ich-Erzählerin berichtet von ihrer ehemaligen Arbeit in einer
Zigarettenfabrik, ihrer geschiedenen Ehe, ihrer Tochter, die seit
Jahren irgendwo in der Welt herumreist und meist nur
Kompasskoordinaten ihres jeweiligen Standortes übermittelt, von
einer verhinderten Schiffsreise nach Singapur, gemeinsam mit einem
Zauberkünstler, der mit ihr den Trick der zersägten Jungfrau
vorführen wollte, von ihrem Umzug an die Nordsee, einer dortigen
Nachbarin, die eine enge Freundin wird und deren Bruder, einem Bauern
und Schweinezüchter, dessen herb/maskuliner Ausstrahlung sie
erliegt.
Nunmehr lebt sie in einem winzigen Häuschen an der
Nordsee, gleich hinter dem Deich, und arbeitet in der Dorfkneipe
ihres Bruders, der ein seltsames Verhältnis mit einem noch
seltsameren 20jährigem Mädchen unterhält, das jünger als seine
Nichte ist. Wie überhaupt alle Figuren dieses Romans skurrile,
höchst individuelle Wesen sind.
Hermann gehört zu jenen
begnadeten Literaten, die in knapper Sprache, mit wenigen Worten, wie
einzeln hingeworfene Farbtupfen, lebendige, hochemotionale Bilder
schaffen können:
(sic) Arild tanzte auf Socken, die
Bierflasche in der Linken, er tanzte wie ein Bär. Er drückte mich
in die Ecke des Zimmers und machte seine Gürtelschnalle auf. Seine
Handgelenke waren pelzig, ich ging in die Knie, ich konnte mich nicht
daran erinnern, jemals auf eine solche Weise angefasst worden zu
sein, zu diesen Dingen so aufgefordert worden zu sein. Direkt,
beinahe sachlich. (sic)
Die zentralen Themen des Romans
heißen Aufbruch, Selbstfindung, Heimat. Der gesamte Text verläuft
in ruhigem Ton, ohne jede Sensationsgier, übertriebener Gewalt oder
Brutalität, nie erhebt sich die Erzählstimme und entwickelt dennoch
einen unwiderstehlichen Sog auf den Leser.
Die Hauptfigur ist
permanent auf der Suche nach sich selbst, wie ihre Tochter heimatlos,
stets unsicher, ob alles gut ist, so wie es ist oder nicht. Über dem
Text schwebt eine gewisse Traurigkeit, ein grauer Erinnerungsnebel,
untermalt durch den Blick auf eine weitgehend trostlose, karge,
menschenleere Landschaft, die dennoch in faszinierenden Bildern
dargebracht wird.
Es gibt nur indirekte Rede, der Plot ist
vorwiegend figurengetrieben, lebt von genauer Profilierung und tiefen
Einsichten in die Charaktere, sowie deren teils komplexen
Verhältnissen zueinander, untermalt von symbolhaften Bildern und
durchaus philosophischen Ansätzen:
(sic) Es gibt nur das,
was du gerade erlebst, und jede Erklärung, die du dafür hast, ist
ausgedacht und existiert erst, wenn du sie formulierst. Ihr denkt,
ihr hättet eine Bibliothek in euch, eine Sammlung, Bilder und
Erinnerungen, die euch zu dem machen, was ihr seid. Gründe für das,
was ihr mögt und nicht mögt. Aber diese Bibliothek ist eine
Erfindung. (sic)
Symbolhaft für seelische Beengtheit,
Eingesperrtheit, eines der tragenden Themen der Geschichte, steht die
Kiste des Zauberkünstlers, in der die Erzählerin selbst einst
probelag, die enge Holzkiste in der die jugendliche Freundin ihres
Bruders als Kind immer wieder eingesperrt war, zuletzt die
Kastenfalle, die ihr Liebhaber am Dachboden aufstellt, um damit einen
Marder zu fangen, der ihre Nachtruhe stört:
(sic) Du
fängst selten das, was du fangen willst. Du fängst mitunter etwas
ganz anderes. Dann musst du sehen, was du damit machst. (sic)
Ob
die Erzählerin im Watt der Nordsee den Fang ihrer Sehnsucht macht, bleibt ebenso offen, wie die Eingangstür ihres Häuschens,
die sie seit langem nicht mehr versperrt.