Beiträge von tortitch

    Nach eintägiger Zugfahrt kommt Giuseppe Corte in einer Stadt an, in der er ein Krankenhaus aufzusuchen gedenkt, das sich auf nur eine (seine) Krankheit spezialisiert hat. Allerdings weist er nur leichte Symptome auf und kann eigentlich kaum als krank bezeichnet werden. Dieser Umstand sorgt dafür, dass er in der obersten, der sechsten Etage untergebracht wird, denn das Krankenhaus ist in der Weise organisiert, dass die Schwere der Fälle von oben nach unten zunehmend auf die Stockwerke verteilt sind. Im (von vornherein bedenklich wirkenden) Erdgeschoss befinden sich die Moribunden.

    Obwohl Corte ja nur ein ganz leichter Fall ist, will die Gesundung nicht so rasch glücken, wie er sich das erhofft, und eines Tages wird die Bitte an ihn herangetragen, sein Zimmer zu räumen, damit eine Mutter mit ihren Kindern Tür an Tür wohnen könne. Er müsse allerdings - vorübergehend, versteht sich - in die fünfte Etage umziehen. Corte beschleicht ein Unbehagen bei dem Gedanken, aber natürlich verlangt die Ritterlichkeit, dass er dem Anliegen nachgibt.

    Bald darauf ergeben sich wiederum Gründe und Umstände, die - was soll man sagen - seinen Umzug in die vierte Etage wenn schon nicht erzwingen, so doch nahe legen. Corte wehrt sich zwar im Rahmen des Schicklichen, landet aber schließlich doch eine Etage tiefer.

    Wie es weitergeht, kann man sich ungefähr denken...

    Bis vor kurzem hatte ich noch nie von Buzzati gehört und ehrlich gesagt ist das hier auch keine Buchvorstellung, sondern bestenfalls die Vorstellung der o.g. Erzählung. Mehr kenne ich von ihm nicht. Aber die knapp dreißig Seiten haben mir so gut gefallen, dass ich sie hier einmal erwähnen wollte. Ein bisschen erinnert Buzzati (1906-1972) nämlich an Franz Kafka, was sowohl am Inhalt als auch an der Erzählweise liegt.

    Also mindestens vier von fünf Sternen.



    4 von 5 Sternen

    Wieder etwas aus der Mottenkiste, was man in diesem Fall auch so verstehen kann, dass der Roman nur noch antiquarisch zu erwerben ist.

    1. Kapitel: Heimkehr nach Galicien

    Alarmiert von einem Telegramm seiner Schwester Franza (eigentlich Franziska) fährt Martin in das Haus des berühmten Psychologen/Arztes Jordan in Wien. Franza ist mit dem – wesentlichen älteren – Jordan verheiratet. Dort jedoch findet Martin seine Schwester nicht vor. Er fährt in das Dorf Galicien und findet Franza im großelterlichen Haus. Sie ist offensichtlich psychisch schwer erkrankt (Depressionen und Angststörungen). Die Gründe für ihre Erkrankung sieht Franza in ihrer Ehe mit Jordan.

    Galicien hingegen ist das Synonym für Heimat und Kindheit, quasi für das Paradies, aus dem Franza als junges Mädchen durch die Nazizeit vertrieben wird. Doch als der Krieg vorbei ist und englische Soldaten auftauchen, stellt sich für sie heraus, dass das Paradies eine Illusion ist und es keine Rückkehr gibt. Die Welt fängt nicht von vorne an, sondern im Wesentlichen geht alles so weit wie immer.

    2. Kapitel: Jordanische Zeit

    Franza unterstellt ihrem Mann, dass er sie heimlich als Fall betrachtet und ihre Persönlichkeit demontiert habe. Hat er sie zu einer Abtreibung gezwungen? Kam es in der Ehe zu einer Vergewaltigung? Völlig klar sind die Dinge nicht, weil das Geschehen streng perspektivisch erzählt wird (aus der Sicht Franzas oder ihres Bruders). Auf jeden Fall repräsentiert Jordan für Franza den Typus des „Weißen“, also des weißen Mannes, dem die Geschwister Faschismus als personale Eigenschaft zuweisen.

    3. Kapitel: Die ägyptische Finsternis

    Obwohl Martin nicht damit glücklich ist, begleitet Franza ihren Bruder auf dessen Reise nach Ägypten. Hier wird der imperiale Charakter des „weißen Mannes“ für Franza noch einmal besonders darin deutlich, dass er Grabmale (Pyramiden) und Verstorbene (Mumien) zu Ausstellungsstücken für schaulustige Touristen macht.

    Zu Füßen einer Pyramide nimmt die Geschichte mehr oder weniger dann auch ihr Ende.

    Der Roman handelt also vom patriachalen, aggressiven, imperialen (also „faschistischen“) Denken, das das Andersartige und Abweichende „ausmerzt“ (noch so ein Schlüsselbegriff des Romans). „Die Eliminierung der Qualitäten, ihre Umrechnung in Funktionen überträgt sich von der Wissenschaft vermöge der rationalisierten Arbeitsweisen auf die Erfahrungswelt der Völker und ähnelt tendenziell wieder der der Lurche an.“ (Horkheimer/Adorno)

    Oder wie es Franza über den Wissenschaftler Jordan formuliert: „Er hat mir meine Güter genommen. Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen, er hat jedes einzelne Aufkommen von all dem ausgetreten, bis es nicht mehr aufgekommen ist. Aber warum tut jemand das, das versteh ich nicht, aber es ist ja auch nicht zu verstehen, warum die Weißen den Schwarzen die Güter genommen haben, nicht nur die Diamanten und die Nüsse, das Öl und die Datteln, sondern den Frieden, in dem die Güter wachsen, und die Gesundheit, ohne die man nicht leben kann, oder gehörten die Bodenschätze mit den anderen Schätzen zusammen, manchmal glaub ich es.“

    4 von 5 Sternchen

    2019 war Humboldts 250. Geburtstag, so dass in der Zeit einiges an Humboldt-Literatur erschien. Mit leichter Verspätung habe ich mir auch etwas rausgepickt. Wie der Titel sagt, geht es in dem Buch vor allem um die fünfjährige Entdeckungsreise nach Südamerika, die er gemeinsam mit dem Franzosen Bonpland unternahm (in dem Punkt ist auch der Kehlmann-Roman einigermaßen zuverlässig).

    Der Band bietet einige Hintergrundinformationen (z.B. zum Bruder Wilhelm) und präsentiert einiges an Zeichnungen, die Humboldt selbst angefertigt hat, sowie Malereien, die er nach seinen Vorlagen anzufertigen in Auftrag gegeben hatte (Bilder geographischer, botanischer und zoologischer Natur).

    Gut gefällt mir die Idee, das Bildmaterial mit aktuellen Fotos zu ergänzen. Der Text liest sich ganz gefällig. Angepriesen wurde das Buch mit der Aussage, dass sich auch Auszüge aus Humboldts Schriften (Tagebücher, Briefe) finden würden. Das gerät allerdings enttäuschend knapp.

    Thomas Wörtche gibt sich im Vorwort alle Mühe, den Roman zu einem vergessenen Juwel zu erklären. Das Buch – 1976 erschienen – sei auch heute noch ein faszinierender Roman, „der nichts von seinem bösen Witz, nichts von seiner Verzweiflung über den Lauf der Welt, nichts von seiner scharfsinnigen Analysekraft verloren hat.“

    Ich glaube, man nennt das einen hard-boiled-Krimi. Ich hab schon mal Highsmith und Chandler gelesen, aber generell meide ich Krimis. Ich guck mir auch keinen „Tatort“ an. Thornburg flatterte als Weihnachtsgeschenk auf den Noch-lesen-Stapel. Laut Klappentext ist es u.a. eine Geschichte über Freundschaft. Cutter ist ein verstümmelter Vietnam-Veteran, zynisch und ohne Glauben an irgendwas. Mit Bone sieht es nicht viel besser aus. Er hat Frau und Kinder verlassen und schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben. Inzwischen schmarotzt er als Untermieter von Cutter. Eines Tages oder besser: Nachts glaubt er zu beobachten, wie jemand eine Leiche in einen Mülleimer stopft. Bei der Zeitungslektüre am nächsten Morgen entdeckt Bone das Foto eines Millionärs, in dem er den mutmaßlichen Mörder wiederzuerkennen glaubt. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf.

    Markenzeichen sind die schnoddrigen, abgehangenen, witzig-ironischen Dialoge:

    „Für wen?“

    „Für Cutter.“

    „Ich meine gar nicht sein Äußeres – seine Verletzungen.“

    „Seinen Charakter vielleicht?“

    Bone zuckte mit den Schultern.

    „Was dann? Denk nach, Richard. Streng dich an.“

    „Ich will mir nicht schaden.“

    „Versuch’s.“

    „Es ist spät, Mo.“

    „Sicher. Aber versuch’s trotzdem. Der Herr liebt den, der sich redlich müht.“

    „Das ist tröstlich.“

    „Komm schon, Richard – warum grollst du ihm?“

    „Cutter? Ich weiß nicht.“

    „Doch. Jetzt versuch’s. Lass dir was einfallen.“

    „Irgendwas?“

    „Irgendwas.“


    In der unsentimentalen, von einer gewissen Verbitterung getragenen Weltsicht der Figuren mag eine gewisse Monotonie liegen und in den Dialogen kann man Ansätze von Redundanz ausmachen. Und so würde ich das auch sehen. Alles in allem also eine weitere Bestätigung, dass Krimis nichts für mich sind.

    2 von 5 Sternen.

    Die Unterschiede zwischen z.B. deinem und meinem Gehirn spielen dabei keine Rolle. Die Identitätsthese behauptet eine Identität von Typen (nicht von Token). Und das Argument der multiplen Realisierung bezieht sich auf Typen-Identität. Das Begriffspaar Type und Token kommt eigentlich aus der Sprachphilosophie und ist von z.B. der Philosophie des Geistes adaptiert worden. Aber da wird es überaus kompliziert und man müsste sich auf diese Finessen der analytische Philosophie einlassen.

    Vielleicht kann man das grob so sagen: Wenn wir beiden Zahnschmerzen haben, dann laufen in unseren Gehirnen vom TYP her dieselben Prozesse ab. Der Reduktionsmus behautet nun die Identität der Zahnschmerzen mit diesem TYP des neuronalen Prozesses (nicht mit dem konkreten und individuellen Gehirnereignis in einem speziellen Gehirn). Gegen diese Typen-Identität wendet sich das Argument der multiplen Realisierung. Die Aussage wäre also: Der Zahnschmerz kann durchaus durch verschiedene Typen von neuronalen Prozessen realisiert werden und daher könne das mentale Ereignis (der Schmerz) nicht mit dem neuronalen identisch sein. Was hier im Konjunktiv steht ist laut Wikipedia inzwischen empirisch bestätigt.

    Die Rückkopplungsschleife sind hier die Prozesse, die in unserem Gehirn (unbewusst) ablaufen. Bedeutet, dass wir einen "Sensor" und einen "Soll-Wert" haben. Beispiel: Soll-Wert wäre die Körpertemperatur von 37,5 Grad. Mein Körper misst meine Temperatur ständig, damit ich am Leben bleibe (das ist übrigens das primäre Ziel), und vergleicht diese mit meinem Soll-Wert. Ist es zu warm, fange ich an zu schwitzen, ist es zu kalt, zu zittern. In dieser Rückkopplungsschleife werden Soll- und Ist-Wert immer wieder abgeglichen und ggf. regulierend eingegriffen.

    Dann sehen die beiden Begriffe eher nicht nach mentalen Begriffen aus und somit würde es doch auf einen Reduktionismus hinauslaufen. Ein zentrales Argument gegen diesen Reduktionismus bzw. gegen die Identitätsthese ist die multiple Realisierung. Dazu zitier ich einfach mal Wiki:


    Hilary Putnam (1967) entwickelte erstmals das Argument der multiplen Realisierbarkeit, das zeigen sollte, dass ein mentaler Zustand nicht mit einem Gehirnzustand identisch sein kann: Die einzelnen, konkreten mentalen Zustände (die Token) können nämlich in verschiedenen Wesen durch ganz verschiedene Gehirnzustände realisiert sein. Man denke etwa an die Schmerzen eines Lurches und eines Menschen. Es ist einfach unwahrscheinlich, dass in ihnen die gleichen Gehirnprozesse ablaufen, wenn sie Schmerzen spüren. Es könnte sein, dass Schmerzen bei Menschen durch das Feuern von C-Fasern realisiert werden, bei Lurchen jedoch durch etwas völlig anderes. Dennoch können Lurche und Menschen Schmerzen haben. Sie haben also die gleichen mentalen Zustände, aber verschiedene Gehirnzustände. Also können mentale Zustände (M-Typen) nicht mit Gehirnzuständen (G-Typen) identisch sein.

    Nu ja, als ausgemachter Identitätstheoretiker würde man vielleicht schon sagen, dass man dann die Gedanken liest, weil demgemäß die neuronalen Prozesse die Gedanken SIND. Das ist der Sinn der Identitätsthese (a ist b). Allgemein gesprochen: mentale Phänomene werden mit neuronalen Prozessen indentifiziert. Diese Identitätsbehauptung wird, wenn ich nicht irre, als Sonderfall des Reduktionismus aufgefasst. In dem Fall müsste der Reduktionismus behaupten, man könne alles Mentale auf "Physisches" zurückführen. Ob Kaku so etwas im Sinn hat, weiß ich nicht. Er sagt, glaube ich: „Bewusstsein ist der Prozess, unter Verwendung zahlreicher Rückkopplungsschleifen bezüglich verschiedener Parameter ein Modell der Welt zu schaffen, um ein Ziel zu erreichen.“ Die mentale Seite ist hier mit dem Begriff des Bewusstseins gegeben. Auf der anderen Seite des "Gleichheitszeichens" stehen allerdings die Begriffe Rückkopplungsschleife und Ziel. In welchen Sinn Rückkopplungsschleife hier verwendet wird, weiß ich nicht. Aber "Ziele haben" ist wohl eher ein Begriff aus der mentalen Sphäre. Demnach wäre seine zitierte Aussage kein reduktionistisches Programm reinsten Wassers.

    Die Identitätsthese - um darauf zurückzukommen - muss man natürlich nicht teilen.

    Ich bin mir nicht sicher, mir scheint aber, dass Kaku das vertritt, was man im Rahmen der Philosophie des Geistes Reduktionismus nennt, der spätestens seit den 60er Jahren reichlich in die Kritik geraten ist. Wäre also die Frage, wie genau er auch die philosophische Literatur zur Kenntnis genommen hat (Nagel, Kripke, Putnam, Goodman).

    Sonderbar finde ich auf jeden Fall die Behauptung, Wissenschaftler könnten mithilfe von MRT-Scans Gedanken lesen. Können Sie das?

    Drei von fünf Sternen (für Fans)

    In seinem Radiofeature von 1959 nennt Arno Schmidt ihn das Wunderkind der Sinnlosigkeit. Gemeint ist der Romantiker Ludwig Tieck.

    Das mit der Sinnlosigkeit passt ziemlich gut auf den gestiefelten Kater. Der ist zwar – zumindest formell – ein Bühnenstück und passt hier vielleicht nicht richtig hin in die Buchvorstellungen, aber doch eher ein Stück, das im Grunde für das Lesen gedacht ist. Das deutet schon das Figurenverzeichnis an, das weniger Verzeichnis ist als Witz und Spiel. Zum Beispiel werden dort auch Rebhühner genannt, deren „Rolle“ lediglich darin besteht, vom König verzehrt zu werden. Auch das Publikum findet sich in dem Verzeichnis (an letzter Stelle hinter den Affen), was bereits verrät, dass es hier um ein Spiel im Spiel geht. Das Märchen vom gestiefelten Kater darf für die Handlung (wenn man von einer solchen sprechen möchte) ein paar Versatzstücke liefern. Im Wesentlichen aber geht es um eine heillose Vermischung von Fiktion und Realität (die freilich auch nur gespielt ist, aber das liegt in der Natur der Sache). Das Publikum unterhält sich (über das Stück), spricht mit den Figuren (nicht unbedingt mit den Schauspielern)und auch mit dem Dichter, der sich ebenfalls auf der Bühne blicken lässt. Das Schauspiel, das vorgeführt wird, wird selbst zum Thema. Der Kater, wenn er aus seiner Rolle fällt und scheinbar nicht mehr der Kater ist, klettert katzengewandt auf einen Baum. Zu diesem Verdreh- und Spiegelspiel passt der gestiefelte Kater überhaupt perfekt. Denn selbst in diesem Spiel im Spiel ist er ja nur ein verkleideter Kater, also einer, der so tut, als sei er keiner.

    Gut zu hören, dass es - sogar hauptstädtische - Rapskäferpopulationsvorkommen noch gibt. Denn wenn ich es mir recht überlegen, blüht und duftet es hier - demnächst ja auch wieder - gelb und honigverheißend, aber so eine unwiderstehliche Käferinvasion auf Picknickdecken, Badehosen oder Tour-de-France-Führungstrikots habe ich seit Jahren nicht erlebt, als wären die Tierchen von den Treckerfahrern ratzeputz weggenozidiert worden.

    Ich musste erst einmal nachschlagen. Von einem Rapskäfer hatte ich noch nie gehört, geschweige denn einen gesehen.

    Das ist ja interessant. Hier in S.-H. gibt es ja mehr Rapsfelder als Einwohner, also auch ein paar Rapskäfer. Insofern bin ich bornierterweise gar nicht auf die Idee gekommen, dass der Rapskäfer keine griffige Größenangabe ist. Wie man doch von seinen eigenen Selbstverständlichkeiten umzingelt ist.

    Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel. Eine Geschichte vom begrabnen Leben.

    4 von 5 Sternen

    „Look homeward, angel! A story of a buried life“ ist Thomas Wolfes (nicht zu verwechseln mit Tom Wolfe) Debütroman von 1929. Die Geschichte der Veröffentlichung kann man sich in dem Film „Genius – Die tausend Seiten einer Freundschaft“ von 2016 ansehen (mit Jude Law als T. Wolfe), wo es aber eher um Max Perkins geht, der Wolfe sozusagen „entdeckt“.

    Es gibt eine Übersetzung von Irma Wehrli (von 2000), die vielleicht etwas zugänglicher daherkommt. Ich hatte mir allerdings eine gebrauchte Ausgabe gekauft. Der expressionistische Dichter Hans Schiebelhuth als Übersetzer (von 1932). 545 Seiten mit knapp rapskäfergroßen Buchstäbchen, gedruckt auf rauem, steifem Papier. Äußerlich also schon mal eher die Kategorie „widerborstig“ als „Leseschmaus“.

    Und es wird einem als Leser gleich mal eine gewissen Zähigkeit abgefordert. Auf Seite 38 kommt Eugen Gant, der Protagonist, zur Welt. Vorher wird gründlich die Vorgeschichte dargelegt. Der Großvater, Gilbert Gaunt (später Gant) kommt 1837 mit einem Segler von Bristol nach Baltimore. Er zeugt fünf Kinder, darunter Oliver, Eugens Vater. Der Grund für die Gründlichkeit des Anfangs wird im ersten Kapitel mitgeliefert: „Jeder von uns stellt alle Summen dar, die er nicht zusammengezählt hat. Versetze uns in Nacht und Nacktheit zurück, und du wirst erkennen, daß die Liebe, die gestern in Texas endete, vor viertausend Jahren auf Kreta begann. Der Same unseres Verfalls wird in der Wüste blühen, am Fels wächst das Heilkraut, und unsre Leben werden von einer Schlampe aus Georgia heimgesucht, weil ein Beutelschneider in London ungehenkt blieb. Jeder Augenblick ist die Frucht von vierzigtausend Jahren.“


    Nach hundert Seiten werde ich unruhig und denke, dass die eigentliche Geschichte doch langsam mal ins Rollen kommen könnte. Fünfzig Seiten später hat sich die Gewissheit breit gemacht, dass das nicht geschehen wird. Es wird immer so weiter gehen. Ein Panorama. Die Geschichte einer Familie, ihrer Leidenschaften, der vielfältigen Fesseln des Hasses und der Liebe, mit denen Familienmitglieder aneinander gebunden zu sein pflegen. Der Alkohol und seine Wirkungen werden gebührend berücksichtigt.

    Auf Seite 190 ist der Protagonist immerhin schon 12 Jahre alt. Er geht zur Schule, verdient sein Geld als Zeitungsaustäger. Ein Bruder stirbt. Mutter und Vater haben sich im Grunde nichts zu sagen. Eugen geht auf eine Privatschule, später auf eine Universität. Er verliebt sich und leidet Liebeskummer, als sie ihn verlässt. Einer der Brüder ist ein Taugenichts. Die Mutter investiert in Immobilien. Der Vater erkrankt an Krebs. Noch ein Bruder stirbt, Ben, Eugens Vertrauter.

    Um was geht es? Vielleicht um das Wunder ein Dasein, ein Leben zu haben. Um die Verlorenheit dessen, der in der Welt immer der Fremde sein wird, der nie „dazugehören“ kann. Und ein bisschen um die Sprache, die in pompösen Schilderungen die Natur feiert und das Seelenleben und manchmal einfach schöne Bilder malt: „Er ging wie eine Schere“, „Gedanken wanderten auf den Wegen der vergangenen Jahre“, „schlafverschnürte Augen“, „im großen Teich des Tages baden“.