Hallo Tom,
danke für die Mühe, diesen Beitrag verfasst und im Literaturcafé veröffentlicht zu haben.
Dessen Inhalt, mit dem ich zum überwiegenden Teil übereinstimme, will ich hier nicht weiter kommentieren. Umso mehr beschäftigen mich aber die Reaktionen auf den Artikel, insbesondere dort, wo er Widerspruch hervorruft.
Bereits die Tatsache, dass gerade jene hypersensiblen Wächter über das geschriebene Wort, die mit ihrem Tunnelblick das Universum permanent auf tatsächliche oder vermeintliche Mikroaggressionen absuchen, selbst jedoch mal hämisch, mal mit offener Feindseligkeit ohne jede Empathie, und ohne einen Funken Sensibilität verbal auf all die eindreschen, die ihnen nicht mindestens zu hundert Prozent beipflichten, irritiert. Mehrmals tauchen in den Kommentaren auch Worte wie „widerlich“ und „ekelhaft“ auf, und eine Person „konnte gar nicht so viel kotzen, wie sie lesen musste“. Nun wüsste ich beim besten Willen nicht zu sagen, was an dem Artikel ekelhaft und widerlich sein sollte. Womit ich in meiner Naivität und Unschuld in deren Augen jetzt vermutlich auch zu einem Rassisten, Sexisten und AFDler geworden bin, als die sie all jene diffamieren, die die genannte 100-Prozent-Quote nicht schaffen.
Merke: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber offensichtlich gilt das nicht für alle.
Auch die von mir als solche wahrgenommene Abwesenheit etlicher jener Dauerempörten in den Medien, in Blogs und Foren ist auffällig, sobald es dort um strukturelle Gewalt, Gewalt schlechthin sowie Diskriminierung außerhalb ihres Wahrnehmungsrahmens geht. Warum melden sie sich nicht mit der gleichen Vehemenz bei Themen wie sexuellem Missbrauch und Kindesmisshandlung zu Wort? Und was ist mit den unzähligen Mobbingopfern innerhalb der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, was mit den Verarmten, den Aussortierten oder auf andere Weise an den Rand der Gesellschaft Gedrängten? Ist deren Leiden von geringerer Wichtigkeit oder gar irrelevant? Liegt es vielleicht daran, dass in diesen Fällen das ansonsten omnipräsente Feindbild eben jenes Popanzes „Mehrheitsgesellschaft“ nicht anwendbar ist und man sich stattdessen auf eine mühsame Ursachenforschung einlassen müsste? Denn das ist ja das Schöne an Feindbildern: Sie passen in jede Hosentasche, kann sie also überallhin mitnehmen, und sie erklären auf leicht verständliche Weise jede Fehlfunktion des Universums inklusive des Verweises auf den jeweiligen Schuldigen.
Aber okay. Hab’s schon kapiert. Alle sind gleich. Aber manche sind halt gleicher. Auch in ihrem Leiden.
Wenn ich Diskussionen über stark polarisierende Themen verfolge, stelle ich mir immer wieder die Frage, woher der Glaube mancher Menschen an ihre eigene Unfehlbarkeit kommt, woher sie die Sicherheit nehmen, immer und überall recht zu haben oder, einfacher formuliert: die Guten zu sein. Aber wer recht hat, muss es sich ja von irgendwoher genommen haben. Also: wer entscheidet, was edel, hilfreich und gut ist und was verachtenswert? Und an welcher Stelle exakt das Verachtenswerte beginnt? Wer folglich ein Rassist ist und wer nicht? Nur als Beispiel. Und womit die Rechthaber ihre Anmaßung begründen, dies bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein ausformulieren zu dürfen und festzulegen, welche Wörter „rein“ und welche „unrein“ seien?
Jeder hat seine eigene, ganz persönliche Perspektive auf die Wahrheit, aber jene bereits mit der Wahrheit selbst gleichzusetzen, ist fatal und tötet am Ende jede Debatte. Andersherum ist der ernsthafte Versuch, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen oder sich zumindest mit deren Perspektiven auseinanderzusetzen der einzige Weg, um zuletzt, vielleicht, hoffentlich, endlich auch Rassismus, Sexismus, Ableismus und andere diskriminierende Denkmuster aufzulösen, zu denen auch die reflexhafte Vorverurteilung Andersdenkender zählt. Das ist ein mühseliger und langwieriger Prozess. Aber anders geht es nicht.
Deshalb: eine größere Achtsamkeit, ja, selbstverständlich. Mehr Diversität in Romanen, ja, wenn es die Geschichte hergibt. Aber nicht mit der Brechstange, nicht anhand quotenähnlicher Checklisten, nicht mit erzwungenen neuen Sprachregelungen, mit Eklats und der Androhung von Klagen, nicht über den Versuch der Bevormundung oder gar Einschüchterung von Autorinnen und Autoren ... nicht vermittels neuer Stigmatisierungen und Diskriminierungen anstelle der alten.
Auch das irritiert, dass die Hardcore-PCler nicht bemerken, wie sie mit ihrem Dogmatismus und ihrer Intransigenz den Rechten den Weg ebnen. Denn das Einzige, was dieser moralisch begründete Rigorismus hervorbringt, ist die stetige Verstärkung eines bereits jetzt beängstigende Ausmaße annehmenden gesellschaftlichen Rollbacks.
Aber um Argumente geht es diesen Menschen ja schon längst nicht mehr, ist es ihnen vermutlich auch nie gegangen.
Dennoch ist es wichtig, diese kontroversen Diskussionen zu führen, immer und immer wieder, so frustrierend es auch sein mag. Schon allein, um die Nachdenklichen, die Abwägenden zu erreichen, die nach meiner Beobachtung weit zahlreicher sind, als ihre Zurückhaltung vermuten lässt, und ohne deren Hilfe der von mir als unabdingbar empfundene Prozess einer fortwährenden Überprüfung der eigenen Position schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, und, ebenso wichtig, um nicht den Dialog mit jenen um politische Korrektheit Bemühten abreißen zu lassen, die diesen Dialog auf der Basis von Argumenten zu führen bereit sind.
Nochmals danke, Tom, für diesen wichtigen und notwendigen Artikel.