Beiträge von Tom

    "Ausradiert" ist dermaßen ausradiert, dass das Buch derzeit nichtmal über diverse Gebrauchtbuch-Kanäle zu finden ist.

    Dasselbe gilt für den gesamten "Jens Seeling Verlag", und vermutlich war die Auflage der deutschen Fassung des Romans auch eher überschaubar. Everett ist allerdings auch in den Staaten erst fast drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen seines Erstlings etwas populärer geworden.

    "AMERIKANISCHE FIKTION" (Prime Video)


    Der seit seinem Erscheinen im Jahr 2023 mehrfach preisgekrönte Film mit dem etwas holprigen Titel basiert auf dem Roman „Erasure“ von Percival Everett, der bereits 2001 entstand und hierzulande als „Ausradiert“ bei einem sehr kleinen Frankfurter Verlag publiziert wurde, den es allerdings nicht mehr gibt (weshalb auch das Buch vergriffen ist). „Amerikanische Fiktion“ erzählt von der Bigotterie des ach so diversen und politisch korrekten amerikanischen Kulturbetriebs, von der allgegenwärtigen Heuchelei und von den in der Kunst unaufhörlich kolportierten Klischees über schwarze Amerikaner, die auch von schwarzen Amerikanern selbst verstärkt werden. Er erzählt außerdem von einer ziemlich durchschnittlichen Mittelklassefamilie, die man der „WASP“-Schicht zuordnen würde, wäre sie nicht afroamerikanisch.


    Im Mittelpunkt steht der Schriftsteller Thelonious „Monk“ Ellison, der ein paar kluge Romane veröffentlicht hat, die in den Buchhandlungen aber kaum zu finden sind – und wenn, dann im Regal für „Afroamerikanische Kulturgeschichte“, und zwar nur, weil der Autor eben schwarz ist. Monk doziert zum Zweck des Gelderwerbs an einer Uni in L.A., wo er allerdings ständig aneckt, etwa, wenn sich seine überwiegend weißen und durch die Bank woken Mittelschichtstudenten damit unwohl fühlen, das N-Wort (auch noch in der I-Doppel-G-Version) an der Tafel zu lesen, weil es im Titel eines alten Buchs vorkommt. Mit dieser Szene beginnt der Film, aber es geht in „Amerikanische Fiktion“ nicht um Provokation oder Haudraufhumor auf Farrelly-Brothers-Niveau – der Film ist eher leise, sehr menschlich, oft amüsant und ziemlich differenziert. Anyway, anschließend fährt Ellison nach Boston, wo seine Familie lebt und er an einem Literaturfestival teilnehmen soll, das aber schlecht besucht ist, weil alle bei einer Buchpräsentation der jungen Sintara Golden sind, die mit ihrem „authentischen“ und „erfrischend realen“, allerdings, wie Ellison findet, sehr schlecht geschriebenen Roman über klischeehafte schwarze Randgruppenkultur gerade alles abräumt, was es abzuräumen gibt. Aus Ulk und um seinen Agenten zu ärgern, verfasst Monk mal eben so einen ganz ähnlichen Roman, und dann kommt es, wie es kommen muss: Der Ulk wird veröffentlicht und bricht sämtliche Verkaufsrekorde, während Ellison, der unerkannt bleiben will, die von ihm selbst erfundene Rolle des Ghettokindes spielen muss, das im Knast zu sich selbst und zur Literatur als Ausdrucksform gefunden hat. Durch die Maskerade entstehen aber im privaten Bereich immer mehr Konflikte, denn auch dort weiß keiner, dass Monk hinter dem Bucherfolg steckt.


    Der Film hat u.a. einen Oscar für das beste adaptierte Drehbuch gewonnen und auch sonst viele Preise abgeräumt, aber er lief in nur wenigen amerikanischen Kinos – und hierzulande in fast keinem. Der Streaminganbieter „Prime Video“ hat ihn allerdings im Programm. Vorangestellt gibt es eine halbe Bildschirmseite mit (durch die Bank unzutreffenden) Triggerwarnungen und einer Altersempfehlung ab 18 Jahren, was die Lächerlichkeit der konfliktmeidenden Unterhaltungskultur, mit der sich der Streifen auch auseinandersetzt, noch einmal auf die Spitze treibt, denn wenn dieser Film ab 18 ist, müsste „Die Biene Maja“ auf dem Index stehen.


    Wirklich, wirklich sehenswert, ein schöner Beitrag zu unserer Debattenkultur und zum Umgang mit Kunst, und neben einem ohnehin sehr feinen Ensemble ist der großartige Sterling K. Brown („Randall“ aus „This Is Us“) in einer hinreißenden Nebenrolle zu bewundern. Anschauen!



    (Der Trailer ist auf Englisch, der Film ist aber in deutsch synchronisierter Fassung verfügbar)

    Eben. Aber nicht bei allen Verlagen.

    Bei den kleineren Verlagen lohnt sich die Agenturbeteiligung in aller Regel ohnehin kaum (aus Agenturensicht), weil die Provision an der dann auch deutlich geringeren Garantie (wenn überhaupt) zu niedrig ausfällt.


    Die meisten meinen die Rowohlts und KiWis dieser Welt, wenn sie von "Verlagssuche" reden. Und an die kommt man bestenfalls via Agentur, aber eher überhaupt nicht als Debütant (statistisch betrachtet; hin und wieder gibt es dort natürlich auch echte Debüts).

    Ich denke, dass das Wissen bzw. die Infos über diese vielschichtige Veröffentlichungs- und Verlagsproblematik in so einer Art Autoren(42)-Wikipedia als ein eigenständiges Unterforum gesammelt werden könnten.

    Wenn es um Details und Fragen rund ums Selfpublishing geht, und dort auch um Preise und Dienstleistungsqualität, dann ist die Selfpublisherbibel das Wissenskompendium der Wahl. Dafür braucht's hier kein Wiki. Und ein Wiki will gepflegt werden, sonst hat es wenig Wert, aber dafür müsste man jemanden verknacken, was wiederum eine Arbeit ist, die keiner machen will, zumal sie schon gemacht wird und wurde. Also eher so nö so. 8)


    Zur Verlagssuche gibt es hier auch tonnenweise Diskussionen, aber keinen goldenen Weg. Inzwischen ist das auch eigentlich nur noch eine Agentursuche, denn der Weg direkt an Verlage ist quasi vollständig aussichtslos.

    Das hat nichts mit Verlagsgründung oder so zu tun.

    Außer, man verkauft signifikant viele Bücher direkt selbst, etwa über die eigene Website, über einen eigenen Shop oder so. Dann wird aus der freiberuflichen Tätigkeit ein Gewerbe, und man hat einen Verlag gegründet. Ab welchem direkten Umsatz das Finanzamt davon ausgeht, dass man eigentlich Verleger oder -in ist, lässt sich nur leider nicht vorhersagen. Aber wenn deutlich mehr Bücher direkt (auch bei Lesungen usw.) als über die üblichen Distributionskanäle verkauft werden, kann das passierten. Gemeint ist allerdings das direkte Direkt. Sobald ein Shop oder so dazwischengeschaltet ist und man nur Marge bekommt, gilt das nicht.


    Edit: Das englische Wort für "Verleger" ist "Publisher". ;)

    BoD – soviel ich weiß muss man dort eine bestimmte Menge kostenpflichtig abnehmen,

    Nö. Aber man gibt die Rechte für längere Zeit weg.


    Es gibt bei BoD unterschiedliche Preismodelle. Für 39 € einmalig wird der Titel veröffentlicht und ist überall im Handel verfügbar. Wenn man Zusatzleistungen (Gestaltung, Korrektorat usw.) bucht, geht es hoch bis 699 €, aber Pflichtexemplare gibt es meines Wissens nicht.

    bod.png

    Edit: Bei tredition ist es komplett kostenlos: https://tredition.com/preise/

    Aber welche anderen Möglichkeiten der „kostenfreien“ Veröffentlichung hat ein Newbie sonst noch?

    Dutzende, Silke hat es angedeutet. Ich nutze für zwei paar Backlist-Titel, für die ich die Print-Rechte zurückgeholt habe, den Anbieter "Tredition". Solche Distributoren (wie auch BoD, epubli usw.) bieten ähnliche Möglichkeiten wie Amazon, erlauben aber direkt die uneingeschränkte Nutzung aller Handelswege, während KDP auf Amazon beschränkt ist (aber nicht ausschließt, zusätzlich andere Distributoren zu nutzen). Der Nachteil im Vergleich zu Amazon besteht in weitaus niedrigeren Margen, und auch die Technik ist nicht ganz dieselbe.

    Komplett irre


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    Obwohl ich ein großer Verehrer davon bin, wie kunstfertig und klug der Österreicher Thomas Glavinic seine Geschichten rund um ein halbes Dutzend wiederkehrender Motive baut, habe ich lange einen großen Bogen um seinen bisher letzten „offiziellen“ Roman „Der Jonas-Komplex“ (2016) gemacht. Ich war in Sorge vor diesen 730 Seiten Abschied, vor der Wiederbegegnung mit diesem immer kaputteren Erzähler-Ich, vor der Kehlmann-Hassliebe und vor Jonas, der Hauptfigur aus dem fantastischen „Das größere Wunder“ (2013). Ja, Glavinic hat in „Die Welt“ im Jahr 2020 eine Fortsetzungsgeschichte mit dem Titel „Corona-Roman“ veröffentlicht, aber da haben mich weder das Medium, noch das Sujet interessiert; ich hatte, wie die meisten von uns, selbst genug mit letzterem zu tun. Und seinen 2017 veröffentlichten Kampfsport-Erfahrungsbericht „Gebrauchsanleitung zur Selbstverteidigung“ zähle ich nicht – das ist Sekundärliteratur aus erster Hand.


    Aber nun leerte sich das Regal mit den ungelesenen Romanen in Richtung dieser etwas düster ausgestatteten Schwarte, die da schon eine Weile stand, und ich war zu faul, mir anderswo Nachschub zu beschaffen, also griff ich zu. Und dann stellte sich auch schon nach ein paar Seiten, ein paar Absätzen dieses Gefühl wieder ein, dieses ganz besondere Glavinic-Gefühl: Einen klugen Freund wiederzutreffen, den man eigentlich nur duldet, dem man aber hingerissen dabei zuschaut, wie er sein eigenes Leben sabotiert. Und die Verblüffung darüber, dass sich maßlose Egozentrik mit unglaublichem Erzähltalent, flapsiger Weisheit und kaum zu bändigendem Mitteilungsdrang so perfekt kombinieren lassen.


    Das Buch, das nach einem Phänomen aus der Psychologie betitelt ist (der Projektion eigener Sorgen und Wünsche auf andere, gerne auch erfundene Personen), erzählt – wie die meisten bisherigen Glavinic-Romane – von einem Schriftsteller, der in Wien lebt, der sich mit Alkohol und anderen Drogen zuballert, der, wo immer es sich anbietet, zur Kopulation bereit ist, der (fast) keine Verantwortung übernimmt, der jede Gelegenheit ergreift und weit über seine Verhältnisse lebt. Der zwar Wing Tsun trainiert, die Kung-Fu-ähnliche Kampfkunst, aber ansonsten seinen Körper wie eine Tüte Müll behandelt. Der nachts auf Koks oder im Suff grausige Nachrichten versendet und am Morgen danach nicht mehr genau weiß, aber ahnt, was geschehen ist und warum keiner mehr mit ihm reden will. Oder wie diese Frau in sein Bett kam. Der mit Daniel Kehlmann befreundet ist und von Karin Graf vertreten wird, was aus Sicht dieser beiden kaum nachzollziehbar zu sein scheint, und der das immer wieder betonen muss. Die stark autobiografische Anmutung des ich-erzählten Anteils von „Der Jonas-Komplex“ wurde (wie auch bei den vorigen Romanen) immer wieder untermauert, von Glavinic selbst, aber auch von Leuten, die ihn kennen, und das macht die Lektüre dieser Episoden noch ein wenig schmerzhafter, obwohl mir sonst egal ist, welchen Wahrheits- oder autobiografischen Gehalt solche Geschichten haben. Aber sie sind auch spannend, extrem originell, oft unfassbar amüsant oder erschütternd oder alles zugleich. Was es überraschenderweise fast nie gibt: Fremdscham.


    „Der Jonas-Komplex“ erzählt vom Suchen, und das von drei Ebenen aus. Zum gegenwärtigen Ich-Erzähler gesellt sich ein dreizehnjähriger, hochbegabter Junge, der in den frühen Achtzigern in der Steiermark bei einer Pflegemutter lebt und abseits von Missbrauch und Vernachlässigung seinen Weg zu finden hofft, und in diesem Kind sind viele glavinicsche Eigenschaften angelegt. Die dritte Person ist jener reiche, klarsichtige, fast schon pathologisch coole Jonas aus „Das größere Wunder“, der die Everest-Besteigung hinter sich hat und sich von seinem Assistenz-Anwalts-Butler-Berater-Besterfreund-Mix Tanaka unaufhörlich in unbekannte Gefahren schicken lässt, um seine Grenzen auszuforschen. Marie, die ewige Liebe, drängt ihn allerdings dazu, zu zweit zum Südpol zu gehen, über zweieinhalb Breitengrade hinweg, ohne weitere Begleitung.


    Alle drei, die mehr oder weniger Varianten des einen sind, echte oder teils erdachte oder projizierte, werden getrieben, wollen zu sich selbst, ohne genau zu wissen, wer das wo und wann sein wird. Dieser Prozess ist mit unglaublicher Präzision und schonungslos wiedergegeben; Glavinic fährt in diesem Buch wirklich alles auf und macht vor nichts Halt. Und deshalb entwickelt sich dieser Ziegel auch zur literarischen Hochgeschwindigkeitstrasse, auf der man, Glavinic folgend, atemlos dahinrast, und während die Seiten vorbeifliegen, wird die Sorge um die Figuren immer größer. Das aber in faszinierender Weise, die nichts mit Gafferei etwa bei schweren Unfällen gemein hat.


    Ein Wahnsinnsbuch, komplett irre, beeindruckend und vom ersten bis zum letzten Satz schlicht großartig geschrieben. Möglicherweise Glavinic‘ bester Roman, aber das spielt keine Rolle. Es ist auf jeden Fall sein bislang letzter „richtiger“, und deshalb ist am Ende auch genau das eingetreten, was ich befürchtet hatte. Damned.

    ASIN/ISBN: 3596034590