Beiträge von Alexander R.

    Man muss eben schauen, wer was will und warum. Daher meinte ich ja oben, woke/antiwoke sind verheerende Einordnungen, weil man eben am Einzelbeispiel schauen sollte, wie man dazu steht (und ggfs, was man fordern möchte oder nicht).


    Das würde nach meinem Verständnis bedeuten, dass man unter Umständen akzeptieren könnte, wenn jemand einem Autor oder anderem Kulturheini in sein Schaffen reinredet.


    Und genau dafür bin ich mittlerweile zu radikal. Wahrscheinlich bin ich lost oder über die Klippe gesprungen ... Vielleicht liegt es auch am Alter, dass ich mittlerweile Lösungen bevorzuge, die den Test von Ockhams Rasiermesser bestehen: Ganz simpel gestrickt, für einfache Gemüter wie mich.


    Und in diesem Fall heißt das nach meinem Dafürhalten: Niemand, absolut gar niemand, weder individuell noch kollektiv und nicht aus schlechten und auch nicht aus guten Gründen, sollte einem Autor reinreden, was er schreibt und wie er es schreibt. :!:


    Peace und alle Macht dem Volke! <3

    Juli Zeh hat einmal in einem Fernseh-Interview gesagt - bei Kulturzeit, glaube ich - sie nehme gern männliche Protagonisten, weil sie dadurch eine Distanz zwischen sich und der Figur schafft, in deren Persönlichkeit sie sich ansonsten stark hineinversetzt.


    Und nehmen wir mal an, auf einmal kommen die einschlägigen Pressure Groups auf den Gedanken, dass Frau Zeh so etwas nicht schreiben soll, wegen Female Gaze oder irgendeines anderen Quatsches.


    Vielleicht kommt ja Frau Zeh mit ihrem Status auch noch damit durch, aber andere Autorinnen finden dann keinen Verlag mehr. Und Bücher wie Anna Karenina, Effi Briest oder Madame Bovary werden vielleicht umgeschrieben oder verschwinden in Kellerlöchern.


    Natürlich wäre das Zensur. Ich kenne Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG auch und weiß, dass er das Verhältnis zum Staat betrifft: "Eine Zensur findet nicht statt." Soziale Zensur - oder meinetwegen: sozialer Druck - führt zum selben Ergebnis.


    Ich merke an mir, dass ich mich radikalisiert habe bei diesem Thema. Früher dachte ich noch: "Aber diese Pressure Groups meinen es ja gut." Solche "guten Absichten" erkenne ich mittlerweile nicht mehr an. Bei Autoren führt das zum Tod der Literatur.

    Zitat

    Es sei schwierig, dass ich als alter weißer Mann über eine Sechzehnjährige schreibe.


    Eine Historikerin aus Berkeley erzählte mir einst, wie sie im Seminar zusammensaßen und über eine Theorie sprechen sollten, wonach die menschliche Geschichte durch Erdstrahlung beeinflusst sei. Darüber hätten die Doktoranden diskutiert. Sie habe als einzige nichts gesagt und schließlich nur: "Das ist Blödsinn."


    Da hilft auch nichts anderes mehr. Es ist der Job eines Autors, sich in Fremdes hineinzuversetzen, ebenso wie bei einem Schauspieler.


    Alle bekloppt geworden.


    Bettina Wegner sang in anderem Zusammenhang: "Ich kann nicht mehr / Ich bin am Ende / ... /  Wir fassen nichts / Wir haben uns verirrt".

    Die KiWi-Frau spricht von "innovativen Antworten", aber die umsatzstärksten Titel erklären sich nur durch den Namen der Autor:in (Angela Merkel und Christoph Kramer), sicher nicht durch Inhalte.


    Ihr seid bei Eurem Gespräch ja schon weiter. Ich möchte mir nur den klitzekleinen Hinweis erlauben, dass ich Angela Merkels Biographie (maßgeblich beeinflusst durch ihre Büroleiterin) inhaltlich formidabel fand. Ich nenne Merkel ansonsten ganz spleenig immer noch "meine Kanzlerin". Insofern bin ich volle Kanne Zielgruppe und Fan der Altkanzlerin, wie Du später schreibst, Michael. Aber darum geht es ja in diesem Thema nicht. Meine Kanzlerin wird wohl auch keinen Roman schreiben. ;) Sorry fürs Abschweifen.

    Ohne jetzt auf irgendwelche Knöpfe zu drücken: Ich pflichte Anja bei.


    Ansonsten ist mittlerweile eine Entschuldigung fällig: Es tut mir leid, Silke. Ich habe dazu beigetragen, Deinen Thread zu schreddern, und das war doof von mir.


    Da wir mittlerweile an dieser Stelle sind: Mir geht es überhaupt nicht um Religion oder anderes. Mir geht es um einen missionarischen Umgang mit einem Thema in einem LIteraturforum, wovon ich weiß, dass diese Art nicht nur mir auf die Nerven geht. Ein Mitglied hat die 42er sogar schon unter anderem wegen dieses Themas verlassen.


    Also - wenn ich hier lese: "Ich lehne Religion ab", dann kann das nach meinem Verständnis nur für mich gelten, aber nicht für andere. Ich bin zum Beispiel kein Sozialdemokrat, aber ich sage nicht: "Ich lehne die Sozialdemokratie ab." Jedem Sozi wünsche ich ein langes leben, und vielleicht wähle ich die Partei auch das ein oder andere mal. Niemand hat die Wahrheit für sich gepachtet, und alles andere ist Fanatismus.


    Mir ist jeder Atheist lieber, bei dem ich spüre: Der hat sich mit Religion beschäftigt - als ein Christ oder anderer Religiöser, bei dem ich merke: Der plappert nur Floskeln nach.


    Und damit komme ich zu atheistischen Floskeln. Die lese und höre ich zuhauf, auch hier. Sie beruhen nicht auf eigenem Nachdenken und Erleben.


    Wenn ich merke, dass jemand nicht einmal im Ansatz dazu bereit ist, meinen Standpunkt nachzuvollziehen, dann muss ein Gespräch scheitern. In Köln sagt man: "Jeder Jeck ist anders." Wenigstens das muss doch als Grundlage in einem Forum funktionieren.

    Absolut. Dass sowas in westlichen Demokratien des 21. Jahrhunderts ausformuliert werden muss, ist ein Armutszeugnus für unsere "Zivilisation". Abrahamische Religionen ziehen eine dunkelrote Blutspur von Millionen Ermordeten samt ausgelöschten Sprachen und Kulturen durch die vergangenen 1.600 Jahre. Davor verblasst jede moderne Diktatur, und eine moralische Stellungsnahme dagegen halte ich für unumgänglich.


    Du bist in diesem Forum in guter Gesellschaft. Falls Du Bock hast, kannst Du ja mal schauen, wie oft das Thema der bösen Religion hier bereits auftauchte. Und es sind immer und nur und ausschließlich diejenigen, die Religion rundheraus ablehnen, die das Thema anschneiden.

    Ich wünschte, das ginge sehr vielen Lesern auf der Welt bei sehr vielen Werken so, vor allem bei so genannten "heiligen" Schriften. 8)

    (Sorry für den Threadbranch. Ich konnte nicht widerstehen.)


    Ein Kennzeichen von Fanatikern ist es, dass sie "nicht widerstehen" können, wenn sie Reizworte hören oder lesen. Kürzlich ließ ich beim Äthiopier in Berlin-Mitte unvorsichtigerweise die Bemerkung fallen, ich würde gern endlich mal nach Israel reisen. Nun ist es so, dass die Menschen in gewissen Gegenden dann sofort ein riesiges Fass aufmachen müssen ... und mir ging es eigentlich nur Hummus & Co.


    Lasst die Leute einfach glauben oder nicht glauben, was sie wollen. Tut euch ja nix. Dieses ewige Missionieren-Wollen von atheistischer Seite klappt sowieso nicht. Es nervt nur.

    Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. :sonne


    Oder auch: Und ich sah das Tier und die Könige auf Erden und ihre Heere versammelt, Krieg zu führen mit dem, der auf dem Pferd saß, und mit seinem Heer. Und das Tier wurde ergriffen und mit ihm der falsche Prophet, der vor seinen Augen die Zeichen getan hatte, durch welche er die verführte, die das Zeichen des Tieres angenommen und das Bild des Tieres angebetet hatten. Lebendig wurden diese beiden in den feurigen Pfuhl geworfen, der mit Schwefel brannte. Und die andern wurden erschlagen mit dem Schwert, das aus dem Munde dessen ging, der auf dem Pferd saß. Und alle Vögel wurden satt von ihrem Fleisch.


    PEACE! :colts

    Seltsamer-, sehr seltsamerweise interessiert mich Deine Besprechung für "den neuen Follett", Silke.


    Ich kenne von ihm bisher nur "Der Mann aus St. Petersburg", woher die Rettungsszene in Anjas und meinem letzten BT inspiriert ist.


    Mich interessiert die Freiheit, eine Welt zu beschreiben, über die es nur archäologische Zeugnisse gibt. Wie ich im Radio hörte, hat war es für Mr. Follett schon eine Herausforderung, seinen Figuren glaubhafte Namen zu geben. Wir wissen ja einfach nicht, wie die Menschen damals geheißen haben.


    Warum? Warum Stonehenge? Das wissen wir ja nicht. Follett hat seine Antwort gegeben, und es kann gut sein, dass ich sie ebenso unbefriedigend finde wie Du, Silke. Nun schreibe ich gerade ein Buch über den Alten Orient, und darin kommt Göbekli Tepe vor. Diese Großanlage in Anatolien ist noch ein Semester älter als Stonehenge, aus der Zeit der Neolithischen Revolution, und zwar von Jägern und Sammlern erbaut. Die Forscher wissen einfach nicht genau, welche Funktion die tonnenschweren Pfeiler und ihre Reliefs hatten.


    Hier könnte man sich belletristisch voll und ganz austoben. Und wahrscheinlich werde ich mir mal angucken, wie Mr. Follett das getan hat. Ich habe mich hier schon einmal von einer ablehnenden Rezension zu einem Buchkauf inspirieren lassen - damals betraf es Robert Harris -, sodass Du in guter Gesellschaft bist, Silke. :-)

    Solidarität. Mut zum Widerspruch. Flagge zeigen, wenn es ad hominem zur Sache geht. Klarstellen, wo die Grenzen sind, unaufhörlich.


    Ja. Das scheint mir entscheidend zu sein, so wie es die Stoa formuliert: Was liegt in meinem Machtbereich und was nicht? Was kann ich beeinflussen?


    Heute reiben sich so viele die Augen und fragen: Was ist eigentlich los? Warum kann da jemand bei den Vereinten Nationen in New York reden und sich benehmen wie ein Prolet am Tresen einer Kneipe? Aber das kann man (zumindest ohne Wahlrecht in den USA) nicht ändern.


    Und dann gibt es da die kleinen Dinge, die ich in meinem Leben unter Kontrolle habe. Zum Beispiel: Flagge zeigen.


    Ich bin ein großer Fan der Swinging Hermlins aus Berlin. Der Bandleader ist Andrej Hermlin, der heute mit seiner Familie in der Villa in Pankow wohnt, wo sein Vater Stephan Hermlin mit anderen den Protestbrief gegen Biermanns Ausbürgerung aufsetzte. Andrej Hermlin war lange in der PDS/Linkspartei und ist dieses Jahr ausgetreten mit der Begründung von Antisemitismus in der Partei. Jedenfalls sagte er in einem Interview, wenn es um das Erstarken der AfD gehe, dann sei die passende Frage: Was haben wir falsch gemacht?


    Daher ist es mir wichtig, was wir alle in unserem Umfeld tun können, um die Grundfesten der freiheitlichen Demokratie zu erhalten. Dazu gehört auch, dass Meinungsfreiheit weitgehend "blind" ist für die Art der Standpunkte. "Cancel Culture" als ursprünglich linkes Phänomen hat ein Kind geboren, das nun von der rechten Seite plärrt. Zum Beispiel in Gestalt eines Trump. Und sie plärren beide hässlich.

    Ich möchte noch einmal zurückkehren zum Ausgangspunkt. Am Anfang habe ich Constantin Schreibers Aussage zitiert, viele Menschen hätten das Gefühl, nicht mehr frei sprechen zu können. Nicht wegen staatlicher Verbote, sondern aus Angst vor den Reaktionen.


    Stellt jemand hier dieses Gefühl in Abrede? Wir haben in diesem Thread eine ganze Reihe von Beispielen gehabt, bei denen Leute nicht so reden oder schreiben sollen, wie sie wollen. Ob Hayali, Ruhs, Wahl, Kimmel, Friedman ...


    Und das ist falsch.


    Das passt nicht zu Menschenrechten. Ich weiß: Menschenrechte gelten nicht unmittelbar unter den Menschen, sondern sind Abwehrrechte gegenüber dem Staat. Aber sie sollen in einer aufgeklärten Gesellschaft doch zum allgemeinen Bewusstsein gehören. Wenn Verfassungsgerichte nicht mehr auf der Basis dessen entscheiden, was in der breiten Bevölkerung gilt, dann sind sie (fast) nutzlos.


    Die Regel muss doch sein: Ich kann sagen, was ich will. Und von dieser Regel gibt es nur enge Ausnahmen.


    Angenommen, ich würde dazu aufrufen, Heidi Reichinnek öffentlich totzukitzeln (Stopp! Keine Gewaltphantasien!) ... dann ginge das natürlich gar nicht. Aufruf zu Straftaten, das wollen wir nicht. Ich wünsche Frau Reichinnek ein langes Leben. (Nur nicht unbedingt in einflussreicher Rolle.)


    Mir scheint, dass der Gesellschaft der Kompass verloren geht: das Gefühl für Regel und Ausnahme. Dass es völlig normal ist, dass Menschen unterschiedlicher Meinung sind.


    Im Jura-Studium stolpert man irgendwann über das Lüth-Urteil. (Erich Lüth hatte dazu aufgerufen, einen damals neuen Film des "Jud-Süß"-Regisseurs Veit Harlan zu boykottieren, daher der Name.) Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die freie Meinungsäußerung der unmittelbarste Ausdruck der menschlichen Persönlichkeit sei. Sie sei schlechthin konstituierend für die ständige geistige Auseinandersetzung. Der Kampf der Meinungen sei das Lebenselement der Demokratie, die Grundlage jeder Freiheit überhaupt. Kurz: Die Meinungsfreiheit sei eine objektive Wertordnung.


    Und wenn Heine im "Wintermärchen" schreibt "Gedankenfreiheit genoss das Volk", dann möchte ich noch hervorheben: Die Meinungen darf und soll man auch äußern. Reden, schreiben ... und so Sachen.