Aus der Kategorie "für eine starke Aussage musst du halt mit Auslassungen arbeiten". Der schwedische Gesundheitsökonom Hans Roslin hat im selben Jahr, 2018, sein Plädoyer "Factfulness" geschrieben wie Stephen Pinker "Aufklärung jetzt" ("Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress"). Beide argumentieren, dass der allgemeine Pessimismus den Fortschritten widerspreche, die die Menschheit in punkto Armutsbekämpfung, Geburtenkontrolle, Lebenserwartung, Bildung und Kriminalität inzwischen gemacht habe. Roslins Fakten sind amtliche Statistiken, nach denen z.B. etwa 80% der Kinder auf der Welt gegen wenigstens eine Krankheit geimpft sind. In ungezählten Umfragen entscheiden sich aber die allermeisten Menschen für sehr niedrige Prozentzahlen, die schon längst überwunden sind. Rosling ist zugute zu halten, dass er in seinen Ausführungen zum Fortschritt ohne die völlig falsche Prämisse Pinkers auskommt, dass der Urzustand menschlichen Zusammenlebens der Hobbessche Kampf jeder gegen jeden sei (ausführlichst widerlegt von David Graeber und David Wengrow). Dafür dreht Rosling immer wieder dieselben inhaltlichen Schleifen, statt über die Dichotomie seiner Argumente hinauszugehen, wo sich dies aufdrängen würden. Beispielsweise habe ich mal gehört, dass die Sache mit der weltweit sinkenden Armut von der Armutsdefinition abhänge, und würde gerne etwas über das Für und Wider der verschiedenen Definitionen erfahren, um mir selbst eine Meinung über diesen "Fakt" bilden zu können (ich glaube eher daran, dass es stimmt). Unbenommen macht Rosling viele richtige Punkte über selbst unter Experten vorherrschende Denkfehler. So klicken Angst und schlechte Nachrichten ungleich besser als etwa eine Meldung über die großen Entwicklungsfortschritte in Nigeria, Ghana und Äthiopien.
Wäre nur nicht die Endlichkeit der Ressourcen und das Problemgemengelage um Klima und Arten. Er erkennt das zwar ausdrücklich an, bringt das Thema jedoch erst am Ende, als würde es nicht sein schon 2018 fragwürdiges "traut unserem System etwas zu!" arg infrage stellen. Vor allem aber ist der kognitive Fehler, die Unterschätzung der Probleme, hier andersrum gelagert. Tatsächlich schlägt Roslin seine "Factfulness" als Umgang mit dem Klimawandel vor und spricht sich gegen Angstmache und einen zweifellos nicht hilfreichen dystopischen Umgang damit aus. Schließlich hebt er nochmal auf die Themen Krankheiten, Armut, Migration und Krieg ab. Es gelte, den Marathon zuende zu laufen - was jedoch schwerlich mit dem Fakt zusammen geht, dass praktisch alle Klimaexperten diese Fortschritte infolge der Erderhitzung in großer Gefahr sehen. Den Zusammenhang mit Armut und Migration streitet er sogar explizit ab. Anders gesagt: Roslins "Factfulness" erscheint ohne den Fakt des viel zu langsam abnehmenden Systemversagens recht irrelevant.
Fazit: Ich werde jetzt abwechselnd ein Buch lesen, das die Fahne der Vernunft hochhält (hier nicht so recht gelungen), und eines, das die Grenzen der Vernunft aufzeigt.