Beiträge von Michael Höfler

    Ich lese "Pudels Kern" gerade, war nachgerade geflasht vom Prolog und habe bemerkenswertes Vergnügen mit dem Korpus. Warum da allerdings "Roman" draufsteht, ist rätselhaft.

    Weil auf jeder Belletristik "Roman" draufstehen muss, da man annimmt, dass es sonst nicht verkäuflich ist?

    "Die schreckliche deutsche Sprache" ist, und das genügt auch, nur 44 Seiten lang und lässt sich dementsprechend kurz besprechen. Mark Twain rechnet äußert liebevoll mit der deutschen Sprache ab. Dabei mokiert er sich genüsslich und mit Beispielen über Nominalkomposita, auseinandergezogene, am Satzende stehende Verben, über Deklinationen und die vielen Ausnahmen, deren wegen sich das Deutsche so schwer erlernen lässt. Die Sprache in der englischen Übersetzung ist, wie es sich bei Sprachkritiken gehört, vorzüglich, weshalb ich annehme, dass dies auch auf das amerikanische Original zutrifft. Dies zeigt, wie schön sich in deutscher Sprache schreiben lässt, wie schwer jedoch der Weg dahin für Nicht-Muttersprachler ist. Es zeigt außerdem, wie viel Gespür und Mühe auch deutsche Muttersprachler benötigen, um einen gänzlich unschrecklichen Text zustande zu bringen.

    Man kann versuchen, das Weltgeschehen mit Gerhard Polts Kredo zu bewältigen, einfach faszinierend zu finden, wozu Menschen in der Lage sind. Das funktioniert naturgemäß auf der positiven Seite der Skala viel besser, und Salman Rushdie gibt da mit "Knife", der autobiographischen Bewältigung des erst 2022 passierten Attentats auf ihn, ein beeindruckendes Beispiel. Ich wusste vorher wenig über Rushdie, geschweige denn sein Werk, außer dass er bekanntermaßen nur wegen eines Romans, einer bloßen Geschichte, jahrzehntelang auf der Flucht vor fanatischen Religiösen war. Das Buch ist eine erstaunlich ausgereifte Selbstreflektion, mit der Rushdie auch noch in Jahrzehnten zufrieden sein könnte. Kunst und Sprache gegen die Gewalt von fünfzehn Messerstichen auf einen 75-Jährigen. Daneben enthält es eine sehr berührende Liebesgeschichte. Was man dagegen nicht liest, ist das Geheimnis hinter Rushdies Überlebenswillen und seiner offenbaren geistig-moralischen Unversehrtheit. Doch derlei ist naturgemäß aus sich selbst gemacht. Manches scheint etwas lang geraten, aber in den Reflektionen zeigt sich ein sehr belesener Romancier angloamerikanischer Erzählkunst. Besonders erwähnenswert ist eine lange, imaginäre Zwiesprache mit dem Täter; ein Ringen um Verständnis und Argumente, die von Hass weg gewischt werden, was teils den Prozess (es wird zwei Prozesse geben) vorwegnimmt.

    Dieses das Leben umarmende Buch mag man, was in Rushdies Sinne sein könnte (er sagt das in Bezug auf den nach dem Attentat erschienenen Roman "Victory City"), kritisch besprechen. Man mag aber auch einfach ob der Größe dieser Reaktion ein wenig sprachlos sein.

    Ich bin fasziniert von wahren Lebensgeschichten, die keine eitle Überhöhung benötigen, weil sie so weit aus dem Rahmen fallen. Ich erinnere mich noch sehr gern u.a. an:


    Oscar Maria Graf Gelächter von außen. Aus meinem Leben 1918–1933.

    Lemmy Kilmister - Whine Line Fever

    karl Valentin - Die Jugendstreiche des Knaben Karl


    Das Buch ordne ich dem Genre Künstlerbiografie, die unbedingt erzählt werden muss, zu. Das war, als das aufkam interessant, trägt aber mittlerweile einen #MeToo-Charakter. Irgendwann hat sich das Genre toterzählt.



    Warum hat sich MeToo toterzählt? Das setzte für mich voraus, dass alle Facetten dahinter so genau beleuchtet sind, dass das Problem und alles, was dazu gehört, bewältigt ist. Da fehlt, glaube ich, noch viel.

    Und steile These: Die Nonfiktion von "Pudels Kern" hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Fiktion eines Tom Liehr.

    Möglicherweise ist das Knallhart-Autofiktionale sein Metier. ;)

    Ich werde mit "Pudels Kern" dann mal auf die Leseliste nehmen.

    Steile These, die Du dann gerne verwerfen kannst: Die Nonfiktion von "Pudels Kern" hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Fiktion eines Tom Liehr.

    Ich habe vorher nichts von Schamoni gelesen, auch keine Rezensionen wie deine alte hier, deswegen kann ich das gar nicht einordnen. Strunk kommt in "Pudels Kern" vor - auf gar nicht erwartbare und nachdenklich machende Art. Wenn Schamoni mal lapidar war, scheint er das, vielleicht diese Attitüde, hinter sich gelassen zu haben.

    Der Reiz des Autobiographischen liegt darin, dass andere viel mehr erlebt haben als man selbst, dass die Geschichten wahr sind und im besten Fall von Personen, Orten und Themen handeln, die man selbst nur gestreift hat. Pudels Kern von Rocko Schamoni nimmt einen mit in ein Musikerleben, in die Welt von Fun-Punk, Nachtleben, Kunst und Humor der 1980er und -90er und ist schon wegen all der Begebenheiten und Begegnungen lesenswert. Noch bemerkenswerter sind aber Schamonis Reflektionen über Aufbegehren, Exzess, Selbstzerstörung und die verzweifelte Suche nach deren Ursache. Das Sinnieren über die Selbstzweifel des individuellen Künstlers, der nirgendwo so richtig dazu gehört und wenig Resonanz und sogar Spott erfährt. Die Tiefe darin erstaunt und berührt. Rocko Schamoni gelingt das Kunststück, so ehrlich zu sein, dass es fast wehtut, dabei aber Pathos, bemühte Lässigkeit und Kalenderweisheiten weit zu umschiffen. Diese ursouveräne Art, ein derart wechselvolles Leben zu erzählen, wirkt noch lange nach.

    Ich setze mich auch praktisch damit auseinander - durch Ausprobieren wie ein Kind mit einem neuen Spielzeug. Jetzt gibt es ja neuerdings KI-Videos, und die Herausforderung ist, aus den starken Limitationen das Beste herauszuholen, am besten was mit Humor. Gestern war ich krank zuhause und habe mir damit die Zeit vertrieben. Dieses und dieses sind aus der Kategorie Witz, den die KI unbeabsichtigt macht.

    Dieses Eitelkeitsformat und Geschäftsmodell kenne ich aus der Wissenschaft schon lange. Immer gut, seine Impulse zu hinterfragen, wenn man auf irgendetwas klickt.

    Das hier gibt es leider nur gebraucht bzw. antiquarisch, was ich sehr schade finde. Ralf Bönt habe ich über den PEN Berlin kennengelernt und bislang ein-, zweimal getroffen. Der promovierte Physiker und ambitionierte Hobbyphilosoph hat irgendwann die Wissenschaft für die Literatur aufgegeben, vor fünfzehn Jahren war er Preisträger in Klagenfurt. Da hatte er diesen Roman quasi schon im Gepäck, der 2009 erschien. Er erzählt die Lebensgeschichte von Michael Faraday, auf den u.a. der Faradaysche Käfig zurückgeht, der aber vor allem die Grundlagen für die Elektromechanik gelegt hat. Bönts feinsinnig, klug und wissensreich erzählte Romanbiografie zeichnet nicht nur Faradays Leben nach, sondern auch ein Bild der Wissenschaftlercliquen jener Zeit, zu denen von Humbolt, Ampere, Volta und viele, viele andere heute noch bekannte Namen zählten. Im Kern geht es aber vor allem um den Impuls, der viele Forscher antreibt, um die Lust am Rätselhaften und den Wegen zur Lösung. Und, natürlich, um eine Epoche, in der es noch jede Menge zu entdecken gab und entdeckt wurde, in der die Religionen viele Erstschläge abbekamen. Viel klüger und detallierter und nachvollziehbarer als Kehlmanns "Die Vermessung der Welt", aber leider nicht so spannend, weshalb Bönt nun auch nur noch antiquarisch zu kriegen ist. Ich meine, du bist mit Ralf auch per Facebook verbandelt, Michael.


    ASIN/ISBN: 3832195173

    Danke, Tom. Das lese ich vielleicht. Solche Forschergeschichten interessieren mich, bin ja auch in dieser Branche.

    Danke, Horst-Dieter, das Russland-Buch habe ich mir gespüeichert. Dzu hattest auch letztes jahr ein Buch vorgeschlagen, das Physikalisches erklärt. Da bin ich leider nicht weit gekommen, habe es aber verschenkt.

    Liebe Forende!


    Damit mein Lesejahr so durchstartet wie das letzte, bin ich auf Eure geschätzen Leseempfehlungen angewiesen. Bitte aus folgenden Kategorien:


    - Sachbücher mit Erkenntnissen, die den Frühjahrsputz im Oberstübchen bewerkstelligen

    - dadaistisch-anarchistischer Humor und qualifizierter Nonsens
    - Romane mit brillianter Sprache

    - Autobiographien "crazy-verrückter" (R. Moshammer) Menschen


    Besten Dank und ein schönes Restjahr Euch allen

    Dateien

    Diesen Punkt nennt man Kipppunkt und die Wissenschaftler sind sich einig, dass es diese gibt, sagen sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten sehr exakt voraus und sind sich auch einig, dass sie irreversible sind - zumindest wird es so geschrieben.

    Ich weiß. Die waren teils schon 2018 bekannt. Eines von 100 Dingen, die mir in dem Buch fehlten.

    So eine Faktenzusammenstellung ist doch immer nur eine Momentaufnahme und zeigt nichts (oder wenig) über die weitere Entwicklung. Interessant wäre, wenn Herr Roslin einen Faktencheck zum Jahr 2023 vornehmen würde und mit dem von 2018 vergleicht. Subjektiv meine ich, ist dann weniger Anlass gegeben, eine positive weitere Entwicklung anzunehmen.

    Interessanterweise ist einer der Denkfehler, die er nennt, die Extrapolierung, z.B. gerader Linien, und er sagt selber, dass man Prognosen überprüfen soll. Eine weitere Auslassung von ihm ist die Sache mit dem schwarzen Schwan: Prognosen basieren meist auf der Annahme von Gleichförmigkeit und scheitern gerade dort, wo sie am wichtigesten wären: bei der Vorhersage, wann ein System kollabiert

    Aus der Kategorie "für eine starke Aussage musst du halt mit Auslassungen arbeiten". Der schwedische Gesundheitsökonom Hans Roslin hat im selben Jahr, 2018, sein Plädoyer "Factfulness" geschrieben wie Stephen Pinker "Aufklärung jetzt" ("Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress"). Beide argumentieren, dass der allgemeine Pessimismus den Fortschritten widerspreche, die die Menschheit in punkto Armutsbekämpfung, Geburtenkontrolle, Lebenserwartung, Bildung und Kriminalität inzwischen gemacht habe. Roslins Fakten sind amtliche Statistiken, nach denen z.B. etwa 80% der Kinder auf der Welt gegen wenigstens eine Krankheit geimpft sind. In ungezählten Umfragen entscheiden sich aber die allermeisten Menschen für sehr niedrige Prozentzahlen, die schon längst überwunden sind. Rosling ist zugute zu halten, dass er in seinen Ausführungen zum Fortschritt ohne die völlig falsche Prämisse Pinkers auskommt, dass der Urzustand menschlichen Zusammenlebens der Hobbessche Kampf jeder gegen jeden sei (ausführlichst widerlegt von David Graeber und David Wengrow). Dafür dreht Rosling immer wieder dieselben inhaltlichen Schleifen, statt über die Dichotomie seiner Argumente hinauszugehen, wo sich dies aufdrängen würden. Beispielsweise habe ich mal gehört, dass die Sache mit der weltweit sinkenden Armut von der Armutsdefinition abhänge, und würde gerne etwas über das Für und Wider der verschiedenen Definitionen erfahren, um mir selbst eine Meinung über diesen "Fakt" bilden zu können (ich glaube eher daran, dass es stimmt). Unbenommen macht Rosling viele richtige Punkte über selbst unter Experten vorherrschende Denkfehler. So klicken Angst und schlechte Nachrichten ungleich besser als etwa eine Meldung über die großen Entwicklungsfortschritte in Nigeria, Ghana und Äthiopien.


    Wäre nur nicht die Endlichkeit der Ressourcen und das Problemgemengelage um Klima und Arten. Er erkennt das zwar ausdrücklich an, bringt das Thema jedoch erst am Ende, als würde es nicht sein schon 2018 fragwürdiges "traut unserem System etwas zu!" arg infrage stellen. Vor allem aber ist der kognitive Fehler, die Unterschätzung der Probleme, hier andersrum gelagert. Tatsächlich schlägt Roslin seine "Factfulness" als Umgang mit dem Klimawandel vor und spricht sich gegen Angstmache und einen zweifellos nicht hilfreichen dystopischen Umgang damit aus. Schließlich hebt er nochmal auf die Themen Krankheiten, Armut, Migration und Krieg ab. Es gelte, den Marathon zuende zu laufen - was jedoch schwerlich mit dem Fakt zusammen geht, dass praktisch alle Klimaexperten diese Fortschritte infolge der Erderhitzung in großer Gefahr sehen. Den Zusammenhang mit Armut und Migration streitet er sogar explizit ab. Anders gesagt: Roslins "Factfulness" erscheint ohne den Fakt des viel zu langsam abnehmenden Systemversagens recht irrelevant.


    Fazit: Ich werde jetzt abwechselnd ein Buch lesen, das die Fahne der Vernunft hochhält (hier nicht so recht gelungen), und eines, das die Grenzen der Vernunft aufzeigt.

    "Die Illusion der Vernunft" ist ein sehr ausführliches Buch über die fließenden Grenzen zwischen dem, was als normal gilt, und Unvernunft bis Wahn. Es erzählt recht langsam, was Neurowissenschaft und Psychologie über die Kontinua dazwischen wissen, und welche Zwecke Verschwörungsglaube und teils sogar Wahn erfüllen. Dafür bedient sich der Psychiater Philipp Sterzer sehr der Theorie des Predictive-processing, wonach das Gehirn immer wieder anhand seines aktuellen Weltbilds das Geschehen antizipiert und dann mittels Wahrnehmung und Kognition danach trachtet, das Weltbild so gut wie möglich aufrecht zu erhalten. Mir fehlte dabei nur die sich heute durchsetzende Erkenntnis, dass alles zwischen den Ohren von Emotionen gefärbt ist und diese Emotionen stets reguliert werden müssen.
    Der Epilog handelt von der Corona-Zeit, die nach Beginn des Schreibens einsetzte, und wie man mit Menschen umgehen sollte, die der Schwurbelei anheim gefallen sind. Er kommt zu dem nicht ganz neuen, originellen, aber sicher richtigem Schluss, dass Reden besser ist als Nichtreden und dass man das Gegenüber ernst nehmen muss, wenn man überhaupt eine Chance haben möchte, etwas anzustoßen. Hier wären mehr Details gut gewesen.