Ausgerechnet am 24. Dezember bringt eine Jüdin in einem katholischen Krankenhaus in Frankfurt kurz nach Kriegsende einen Jungen zur Welt. Der diensthabende Arzt schlägt nach getaner Arbeit militärisch die Hacken zusammen, die Oberschwester tut sich schwer mit dem Wort „jüdisch“, und die Kinderschwester, eine Nonne, ist so verunsichert, dass sie den Säugling am liebsten gar nicht berühren möchte. Nur die Hebamme, Helga, geht pragmatisch mit der Situation um: Der einzige Junge auf der Neugeborenenstation mache bestimmt eine gute Figur bei der Weihnachtsfeier der Belegschaft: als lebendige Verkörperung des Jesuskindes in der Krippe.
Trotzdem man ahnt, dass hier in der Folge kein unbeschwertes Thema behandelt werden könnte, ist es leicht, in diesen Roman einzusteigen: Der Ich-Erzähler des ersten Kapitels ist nämlich der Säugling selbst. Und zwar (und das kann es jetzt für einige retten oder aber noch schlimmer machen) ein altkluger und selbstherrlicher.
So eine Figur im Umfeld des hochgradig verstörenden Themas Shoah ist natürlich nicht unheikel. Mit dieser Überhöhung, durch Bärel als unmissverständlich fantastische Kunstfigur in den Roman einzuführen, gelingt es der Autorin aber tatsächlich, Beklommenheit zu zerstreuen. Hinter allem steht die Frage: Darf man denn überhaupt in erzählender Weise über dieses Grauen schreiben? Minka Pradelski hat es in einer anfangs womöglich gewagten, wohl aber auch sehr gut lesbaren Art getan.
Klara und Leon Bromberger sind polnische Juden, die sich in einem Displaced Persons Camp der Amerikaner nahe Frankfurt kennengelernt haben. Ihr Sohn, den sie Bärel nennen, verschleißt bereits als Säugling Kindermädchen um Kindermädchen. Die Hebamme Helga, die sich in die Dienste der Eltern hat abwerben lassen, liebt ihr „Bärchen“ zwar, kapituliert aber vor seiner rasanten Entwicklung. Mehr Kobold als Kind, malträtiert und vergrault er die, die sich nach ihr um ihn kümmern sollen. Nachdem seine Eltern es schließlich aufgeben, Kinderschwestern anzustellen, lässt Bärel es gut sein – um eine Bluttat zu vermeiden, die die beiden Alten sonst an ihm verüben könnten – und gibt sich altersgemäß kleinkindhaft in die Obhut der Mutter.
Bei einem Spaziergang mit Bärel im Park begegnet Klara einer Frau, die sie aus ihrer Vergangenheit kennt. Im Konzentrationslager haben die Insassinnen die zierliche Frau mit der Kinderstimme heimlich Liliput genannt. Der Schmerz der Erinnerung und die Verbitterung, die Oberaufseherin frei – und hochschwanger – zu sehen, droht Klara zu zerbrechen. Leon stellt sie vor ein Ultimatum: Aufschreiben soll sie alles, was sie erlebt hat, oder er gebe den vernachlässigten Bärel fort.
Klara will Bärel behalten, also beginnt sie zu schreiben. Sie erzählt von der Zeit mit ihren Eltern im Ghetto Zamość, ihrer Flucht, der Zeit im Lager und als Zwangsarbeiterin in einer Rüstungsfabrik.
Sie übernimmt damit im Roman die zweite Erzählstimme von insgesamt dreien – Vater, Mutter, Kind.
Als die Stimme der Erwachsenen Klara der der Heranwachsenden wich, verlor mich der Roman ein Stückweit. Hinter den Stationen des jungen Mädchens im besetzten Polen schien mir zudem zu sehr das Muster der Heldenreise durch – dem Roman das vorzuwerfen, wäre aber verfehlt. Die Figuren, denen Klara auf ihrer Flucht begegnet, schienen mir märchenhaft, überzeichnet. Aber auch das – eine zwielichtige Frau in ihrem Hexenhäuschen am Rande der Stadt, eine überaus schöne Frau, die mit einem SS-Offizier, als personifiziertem Vertreter des Bösen, ins Bett geht – hat System: Alles bewegt sich durchaus im Rahmen des Möglichen, fügt sich aber auch ein in das Muster der Überhöhung, die in Gestalt des Bärel begonnen hat.
Eines der hervorstechenden Themen des Romans sind Eltern-Kind-Beziehungen.
Bärels Vater denkt am Tag der Geburt schon an sein eigenes Ableben: Mein Kaddisch-Sager ist geboren, sagt er im Kreißsaal, denkt ausgerechnet da an seinen eigenen Tod. Aber warum auch nicht ausgerechnet da. Es ist der Lauf der Welt. Und er spricht vom Fortbestand seines Volkes, zu dem sein Sohn nun gehört.
Klaras Eltern ermöglichen ihrem Kind die Flucht aus dem Ghetto. Als Klara selbst Mutter wird, reflektiert sie ihr bisheriges Leben. Wie viele Überlebende bezichtigt sie sich selbst der Schlechtigkeit: Wie kann es sonst sein, dass sie überlebt hat, wenn so viele andere, „bessere“ Menschen in den Tod gegangen sind? Ihre Mutter hatte ihr vorgehalten, immer nur zu nehmen. Milch hat sie im Überfluss, mit dem neugeborenen Bärel aber wird sie nicht recht warm.
„Es wird wieder Tag“ ist ein Roman über den selten beleuchteten Aspekt, wie Verfolgte, Mitläufer und Täter nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland zusammenlebten, ein Buch auch über die Auseinandersetzung mit traumatisierenden Erlebnissen durch den Prozess des Aufschreibens, über Aushaltenlernen und über Beziehungen (Mann/Frau, Eltern/Kind).
Die Autorin Minka Pradelski wurde 1947 als Tochter von Holocaust-Überlebenden in einem Frankfurter Lager für Displaced Persons geboren. „Es wird wieder Tag“ ist ihr 2020 veröffentlichter zweiter Roman (auch als Hörbuch erhältlich).