Luke Roy lebt ein zurückgezogenes Leben in einer amerikanischen Küstenstadt, die durch den Bau einer Umgehungsstraße langsam aber sicher ins wirtschaftliche und politische Abseits zu geraten droht. Seine Eltern haben ihm den Trawler geschenkt, auf dem er lebt. Die beiden sind vor Jahren gemeinsam auf Weltreise gegangen und schicken ihm seitdem, aber auch schon Jahre nicht mehr, Ansichtskarten von unterwegs. Luke arbeitet in einer Fabrik, die Käse herstellt, seine zwischenmenschlichen Kontakte halten sich in Grenzen. Zwei Männer gibt es, Henry und Nestor, zu denen er eine Art freundschaftliche Beziehung unterhält; es scheint, als könne er sich nicht genügend abgrenzen, als ertrüge er es, wenn sie da sind. Wären sie es nicht, wäre das auch okay. Nicht erst seitdem Luke mit 14 bei einem Bootsausflug auf einem Teich fast ertrunken wäre, verspürt er eine tiefe Todessehnsucht in sich. Er schleppt sich durchs Leben, stellt sich tausend Möglichkeiten vor, wie er sich daraus verabschieden könnte.
Eines Morgens steht er auf einer 35 Meter hohen Brücke, von der schon einige vor ihm in den Tod gegangen sind. Ein Sprung von der „richtigen“ Stelle ins Wasser darunter bedeutet den sicheren Tod, da sich dort, abgesehen von der schieren Höhe, gefährliche Strömungen und Felsen befinden. Luke reflektiert sein Leben, zaudert, überlegt, springt, hält sich fest, kann sich noch fangen. Just da kentert auf dem nahegelegenen Teich (eben dem) ein Boot und einer der Schiffbrüchigen gerät in den Fluss, der unter Luke tobend und brüllend Richtung Meer fliest. Er sieht die Person im Fluss treiben – und springt ins Wasser. Gegen jede Wahrscheinlichkeit kann er den dem Tode geweihten Jungen retten, schleppt ihn und sich selbst ans Ufer und überlässt den anderen der Obhut weiterer auf den Schiffbruch aufmerksam gewordenen Menschen. Schwer verletzt schleppt Luke sich nach Hause, versorgt notdürftig seine Wunden und legt sich ins Bett.
Als einer seiner Freunde Stunden später auf dem Hausboot den Fernseher einschaltet, beherrschen die Nachrichten über den Bootsunfall und den aus den Fluten Geretteten die Lokalnachrichten. Es gibt kein anderes Thema, vor allem, da jemand die Ereignisse gefilmt hat. Die Medien schnappen über, und mit ihnen die Zuschauer. Luke Roy gerät in einen Strudel unglaublichen Ausmaßes. Ein Lokalpolitiker nötigt ihn, sich mit ihm fotografieren zu lassen, bald kampieren Schaulustige auf der Wiese vor seinem Hausboot und skandieren Lukes Namen, lokale und überregionale Medien aller Art entsenden ein Heer von Berichterstattern. In den sozialen Medien werden private Dokumente über ihn hochgeladen. Luke ist von einem Niemand zur Person öffentlichen Interesses geworden, das Letzte, was er sich wünscht. Er wehrt sich verzweifelt, kommt aber gegen die, die ihn feiern und die, die von seinem Ruhm ein Stück abhaben wollen, nicht an. Ein Held, der sein eigenes Leben altruistisch aufs Spiel gesetzt hat, um ein anderes Leben zu retten – das ist die Nachricht.
Oder, vielleicht war es auch ganz anderes? „Warum sind Sie weggelaufen, Mr. Roy?“, fragt eine Reporterin, und dann taucht ein zweites Video auf, das den Schluss nahelegt, dass Luke sich doch eigentlich das Leben nehmen wollte. Wie unglaublich empörend, dass er vor allen den Helden gespielt hat! Die Meute hat neues Futter bekommen, die Stimmung dreht sich, jetzt gegen den Mann, den sie eben noch enthusiastisch gefeiert hat.
Nachdem ich vor einigen Jahren von Gerard Donovans „Winter in Maine“ restlos begeistert war, freute ich mich auf diesen neuen Roman. Während in „Winter in Maine“ ein Mann sich nach diversen Enttäuschungen in eine Hütte im Wald zurückzieht, seine einzige Gesellschaft Bücher und sein Hund, gerät sein Leben aus den Fugen, als Wilderer seinen Hund erschießen, woraufhin er beschließt, Rache zu nehmen. Auch „In die Arme der Flut“ spielt in Maine, auch hier steht ein Außenseiter der Gesellschaft im Mittelpunkt, dessen Leben sich unvermittelt auf den Kopf stellt. Im Gegensatz zu „Winter in Maine“ hat mich die Lektüre dieses neuen Romans aber vor einige Schwierigkeiten gestellt:
Ich kenne womöglich nur eine auch nur annähernd so ausführliche Einführung eines Charakters, wie sie in diesem Roman vorliegt, nämlich aus Hanya Yanagiharas „Ein wenig Leben“. Auch dort wird eine Gruppe Freunde sehr breit, sehr intensiv eingeführt. „Ein wenig Leben“ entfaltet dann, nach der Einführung, eine ungeheure erzählerische Wucht. Mir wäre ein eindrückliches Leseerlebnis entgangen, wäre ich nicht über diese lange Exposition hinausgekommen. Seite um Seite (70? 100? - schwer zu sagen, weil ich das Hörbuch gehört habe) legt Donovan Luke Roys Vergangenheit, vor allem aber sein Innenleben dar. Der Autor tut das in einer anspruchsvollen Weise, sehr gut geschrieben ist das, zweifellos. Man kann in diesem Stil versinken, sich daran freuen, sich Formulierungen merken und wünschen, man verfügte auch nur annähernd über dieses Können. Sehnt man sich irgendwann jedoch, wie ich, nach Handlung, weil das Interesse an dem Charakter Luke Roy nie so richtig entstanden ist, dann kann man das auch so empfinden: Es ermüdet. Es ist zu viel. Es verpufft. Es rauscht durch.
Ein weiterer Punkt, der für mich „In die Arme der Flut“ schwer lesbar gemacht hat, ist der „Medien-Sprech“, dieser aufgesetzte, orchestrierte, von amerikanischen News-Formaten längst nach Deutschland übergeschwappte Stil, in dem sich Moderatoren gegenseitig Bälle zuwerfen, mitunter sogar die Sätze des anderen beenden. Donovan legt diesen Stil bloß, dafür muss er ihn selbstverständlich auch zeigen – für mich aber ein weiteres Hindernis, mich auf den Roman so einzulassen, wie er es eigentlich verdient hätte. (Gut möglich, dass diese Dialoge in gedruckter Form besser erträglich sind als in der gesprochenen.)
Zuletzt gibt es dann noch einen nicht vorhersehbaren Twist. Das Leben spielt so, Romane meistens nicht. Das, was nach diesem Bruch kommt, halte ich für den besten Teil des Romans, und dennoch: Dieser Bruch ist einer von der Sorte, die einen Leser auch vor den Kopf stoßen kann.
Donovan legt einen Finger in die Wunde. Es ist geradezu irrwitzig und tut mitunter weh, diesem Treiben, in das der Protagonist hineingestoßen wird, zu folgen. Dass und wie der Roman das bloßlegt – die Oberflächlichkeit, die Sensationsgier, die Verlogenheit, das leere Blabla gewählter Politiker, die Art und Weise, einen Menschen als Lieferanten einer Story durch die Mangel zu drehen oder für eigene Karrierezwecke zu missbrauchen – das gehört zweifellos zu den Stärken des Romans. Was man bereits vor Jahrzehnten bei Heinrich Böll und Günter Wallraff als Kritik an Boulevardmedien lesen konnte, erhält bei Gerard Donovan zusätzlichen Brennstoff, weil mittlerweile die sozialen Medien erfunden und zum Schauplatz schier unfassbar zynischer Zustände geworden sind.
Trotzdem ich es nicht leicht hatte, mich mit diesem Roman anzufreunden: „In die Arme der Flut“ ist ein trauriger, ein erschütternder Roman eines klugen Verfassers, der als Medien- und Gesellschaftskritik absolut berechtigt ist und der darüber hinaus viele Sätze und Passagen aufweist, die man sich am liebsten anstreichen möchte.