Beiträge von Petra

    Erzählungen und Kurzgeschichten sind, so heißt es, für nicht Etablierte schwierig an den Verlag zu bringen. Es gibt natürlich Anthologien, einige davon gehen aus Wettbewerben hervor, aber ein Buch mit Kurztexten von einem einzelnen Autor/einer einzelnen Autorin zu veröffentlichen, gilt als Ausnahme - korrigiert mich, wenn ich falsch liege - es sei denn, der Verfasser hat bereits einen Namen. Den hat der gelernte Jurist Bernhard Schlink (Jahrgang 1944): Angefangen als Krimiautor, wurde sein Roman „Der Vorleser“ von 1995 international bekannt, nicht zuletzt durch die Verfilmung mit Kate Winslet. Der Roman handelt vom Umgang der Deutschen mit der nationalensozialistischen Vergangenheit, eingebettet in die Geschichte einer erotischen Beziehung eines Gymnasiasten zu einer Straßenbahnschaffnerin. Jahre später begegnet er ihr als Jurastudent vor Gericht wieder: Als ehemaliger KZ-Aufseherin soll ihr der Prozess gemacht werden.


    Die Sammlung „Sommerlügen“ von 2010 beinhaltet sieben Erzählungen:

    In „Nachsaison“ kuriert ein Orchestermusiker eine Handverletzung in Cape Cod aus und begegnet am Strand einer reichen Erbin. Trotz der Unterschiede keimt aus der Zufallsbegegnung innerhalb kurzer Zeit der Plan, miteinander eine Familie zu gründen.

    „Die Nacht in Baden-Baden“ handelt von

    einem Theaterautor, der - aus Versehen - eine Groteske verfasst und zu der Premiere eine andere Frau als seine Freundin mitnimmt, um mit ihr eine platonische Nacht in einem Hotelzimmer zu verbringen.

    „Das Haus im Wald“ sendete mir ein paar eindeutige Stephen King-Vibes: Ein Schriftsteller wird von seiner Frau überflügelt und zieht mit ihr und der kleinen Tochter aufs Land. Während sie ihren neuen Roman fertigschreibt, schmiedet er Pläne - weitere Kinder und Home Schooling - um sich und seine Familie ganz und gar von der Außenwelt abzuschotten.

    In „Der Fremde in der Nacht“ bekommt ein Professor für Verkehrsströmungslehre auf einem Flug eine Geschichte erzählt, die von Menschenhandel, Krieg, Flucht, einem Sturz von einem Balkon und daraus resultierend einem Prozess handelt, der seinen Sitznachbarn erwartet.

    „Der letzte Sommer“ erzählt von einem krebskranken Philosophieprofessor, der in Erwartung seines baldigen Freitods seine Familie um sich versammelt, die von alledem nichts ahnt.

    In „Johann Sebastian Bach auf Rügen“ ringt ein Sohn um eine Verbindung zu seinem greisen Vater.

    Und in „Die Reise nach Süden“ stellt eine alte Frau fest, dass sie aufgehört hat, ihre Familie zu lieben. Auf einer Reise mit einer Enkelin gesteht sie sich eine Lebenslüge ein.


    Schlinks Protagonisten sind bis auf eine einzige Ausnahme männlich und bewegen sich - als Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Professoren - in einem akademischen/künstlerischen Umfeld. Sie sind gebildet, gut situiert, zumeist nicht mehr ganz jung. (Heute würde man womöglich sagen: Es geht überwiegend um „alte weiße Männer“.) Mehrere Geschichten handeln in den USA, dann mit einem deutschen Hintergrund des Protagonisten. Oft sind die Berufe entscheidend dafür, wie die Protagonisten auf das reagieren, was ihnen widerfährt. Das mag selbstverständlich sein, denn nur so wird letztendlich eine Geschichte draus, ins Auge fällt es trotzdem, zum Beispiel bei dem Theaterautor, der sich wundert, dass sein Stück als Groteske inszeniert wurde, der aber in seinem Privatleben ähnlich absurde Entscheidungen trifft. Oder bei dem Physiker, dessen Lebensinhalt der geordnete Ablauf von Verkehrsströmen ist, einem Mann also, der sich von dem Wunsch nach Ordnung und Logik leiten lassen wird, sich aber bewusst von einem Lebenskünstler, Kriminellen und sehr wahrscheinlich Mörder beeindrucken lässt.

    Frauen sind in sechs von sieben Geschichten mehr Beiwerk. Ihre Gedanken erfährt man nicht, allenfalls, wenn sie sie äußern, oder kann sie nur erraten, aus dem, wie sie sich verhalten. Dabei sind sie mitunter aber nicht unwichtige Lenker oder zumindest Impulsgeber der Geschichte, der Mann reagiert mehr, wie in „Nachsaison“, wo der Musiker sich erst darauf besinnt, was er alles aufgeben muss - wenn er tatsächlich mit der Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, ein neues Leben beginnen sollte - als er alleine ist, als er der physischen Präsenz der Frau quasi „entronnen“ ist. Mitunter kann man den Eindruck gewinnen, diese Protagonisten wissen nicht wirklich, was sie wollen - oder vielleicht liegt es auch daran, dass zwischen Erwartungen von Menschen in Beziehungen, im Leben wie in der Literatur, elementarere Unterschiede bestehen können. Die Menschen in „Sommerlügen“ belügen andere, und mitunter belügen sie sich selbst; über ihre Motive, eigene Verantwortungen und Verstrickungen.


    Ich habe die Geschichten gerne gelesen, genauer, mir vorlesen lassen. Der 2016 verstorbene Schauspieler Hans Korte liest die Erzählungen ausdrucksstark, in einer ihm eigenen mitunter etwas nuscheligen, Wörter miteinander verschleifenden Art, die aber gut zum Charakter der Texte passt. „Das Haus im Wald“ halte ich für die schwächste Geschichte. Die meist offenen Enden weisen die Richtung, lassen aber Raum für eigene Interpretation.

    Ich finde die Diskussion hier skurril und gleichzeitig traurig. Traurig, weil wahrscheinlich jeder, der schreibt, lebensechte Figuren erschaffen möchte, Personen, mit denen man mitfühlen, in die man sich hineinversetzen kann, oder auch Scheusale, von denen man sich abgrenzen kann. Bloß „echt“ sollen sie sich anfühlen.


    Bärbel, welche Eigenschaften auch immer ihr eine andere Figur zuschreibt, kommt mir hier in keiner Weise nahe, sie bleibt jemand, über die jemand spricht. Während die Ausgangsfrage in sich unbeantwortbar ist (weil jeder einen anderen Eindruck gewinnt, als Leser eines Romans oder als Mensch im echten Leben, und dabei höchstens zweitrangig ist, was ein Dritter über diese eine Person sagt), macht es die Beschreibung der Situation nicht besser. Es ist egal, ob sie mit dem linken oder dem rechten Knie auf der Bühne kniet und ob der andere Fuß daneben oder davor (davor?) steht - wo soll er sich denn sonst befinden?! Auch wenn es eine Erklärung für uns sein soll, fürchte ich, dass der Text so vorkommt, und damit wäre es nur ein Beispiel von Überfrachtung durch unnütze Details. (Von einem Wink in Richtung Kreuzigungsszene, ausgebreitete Arme, barfuß, ein Bein angewinkelt, will ich mal nicht ausgehen.) Und wenn ich einerseits Überfrachtung empfinde, mangelt es mir anderswo: Da wird zum Beispiel vorausgesetzt, dass jeder „Zonenkinder“ gelesen hat und folglich weiß, wofür hier „Schweigende Generation“ steht. - Gut, mag sein, dass Deine Zielgruppe das weiß!
    Aber eigentlich ging es ja nur um Eigenschaften, die eine Romanfigur einer anderen zuschreibt, nicht um die Figuren selbst. Warum reden wir dann die ganze Zeit über Bärbel?


    Gerade Live-Musik kann zu einem großen Ereignis werden, Performer sich wahnsinnig pathetisch verhalten und dennoch das Publikum hinreißen. Pathos finde ich nicht unbedingt schlimm. Wahrscheinlich kommen wenige Konzertfilme ohne fast rauschhafte oder zumindest sehr intensive Szenen aus - das auf dem Papier darzustellen, ist eine ganz andere Nummer, weil einem Autor wahrscheinlich weniger offensichtliche Mittel zur Verfügung stehen. Keine Scheinwerfer, keine Soundeffekte, kein Trockeneis, kein Feuerwerk - nur Worte.

    Kaum ein Kunstwerk, das „wir“ bewundern, und schon gar nicht jedes Lebenswerk eines Künstlers, lässt sich ohne Verbindung zu seinem Schöpfer wertschätzen - wobei „Kunstwerk“ hier ausdrücklich alles meint, für das es einen kreativen Schöpfungsakt bedurft hat: ein Gemälde genauso wie einen Film, ein Lied, einen Roman. Während für den gelegentlichen Betrachter/Konsumenten eines Werks dessen Schöpfer vermutlich keine besondere Rolle spielt, ist er für den Fan von herausragender Bedeutung. Vielleicht hat ihn der Urheber/die Urheberin mit seinem/ihrem Werk aus der Seele gesprochen, ihn ergriffen, bestätigt, getröstet, gar den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Wenn das erstmalig geschieht - und wahrscheinlich geschieht es nicht oft, dass einen etwas wirklich nachhaltig beeindruckt - wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch neugierig auf die Person hinter dem Werk, möchte ihren sonstigen künstlerischen Output kennenlernen, mitunter beeinflusst der sogar einen eigenen Schaffensprozess.


    Das ist nicht weiter problematisch, solange eigene Wertvorstellungen nicht mit Enthüllungen kollidieren, die den geschätzten Künstler in der Folge vom Sockel stoßen. Anschuldigungen werden erhoben, vielleicht wahr, vielleicht erlogen, vielleicht „ein bisschen wahr“. Was, wenn der Schöpfer des Werks, das man so schätzt, sich als Kotzbrocken oder gar als Straftäter entpuppt, als Mörder, als Antisemit, als Rassist, als Vergewaltiger ...? Der nur gelegentliche „Konsument“ der Kunst mag nur mit den Schultern zucken, für den Fan allerdings bricht mit ziemlicher Sicherheit eine Welt zusammen, sieht er sich doch vor entscheidende Fragen gestellt: „Darf“ er die Kunst weiter genießen? „Muss“ er sich lossagen? Gibt es einen Mittelweg? Man ist (oder war) ja nicht von ungefähr Fan. Warum einer Künstler A oder B gut findet, hat immer auch etwas mit einem selbst zu tun, über bloße Geschmacksgrenzen hinaus. Umso härter also die Entscheidung.


    Claire Dederer berichtet in „Genie oder Monster“ (das im Original schlicht „Monsters“ heißt) vom Publikum, das von „seinem“ Künstler fortan lassen soll, lassen will, nicht lassen kann, und sei es unter Qualen. Wie soll ein solches Dilemma aufzulösen sein? Es gibt schließlich keine Maschine, die den Wert von Kunst gegen menschliche Makel aufrechnet. Jeder Fan steht da vor dem ureigenen Dilemma, jeder muss, will er sich nicht abwenden, mit dem „Fleck“ leben, der sich dann auch auf ihn selbst ausbreitet.


    Dederer ist mit einer eigenen Vorliebe für einen solchen Künstler zum Thema gekommen: Roman Polanski. Sie zählt in ihrem Buch nicht etwa bloß „gefallene“ Künstler oder solche, deren „Monstrosität“ noch still akzeptiert wurden, auf, obwohl es natürlich Namen gibt, die unweigerlich vorkommen müssen: Polanski also, Woody Allen, Picasso, Hemingway … Sie schreibt über Me-too, wie sich die Rezeption von Frauen mit eigenen Gewalterfahrungen grundlegend von einer rein männlichen Sicht auf die Dinge unterscheiden kann, über feministische Blickwinkel, Cancel Culture, auch über hochgradig verstörende Werke, deren Schöpfer sich (nach allem, was man weiß) selbst nicht schuldig gemacht haben, die aber trotzdem in den Ruch geraten sind. Sie schreibt über Werke, die heute ihrer Überzeugung nach so kaum noch erscheinen würden, auch über den Drang, sich entweder über die „Monster“ zu stellen, sich abzugrenzen, oder gerade von ihnen angezogen zu werden. Sie schreibt über eine Art Rückschaufehler, wenn Stephen Fry in die Vergangenheit reisen und Richard Wagner ausreden möchte, so ein „fieses kleines Buch“ zu schreiben, welches fortan sein epochales musikalisches Genie beflecken würde. Sie führt aus, dass, während es viele Verbrechen gibt, deren sich männliche Künstler schuldig machen können, die am schlimmsten bewertete Schuld von Frauen darin bestehe, ihre Kinder zugunsten ihrer Kunst zu vernachlässigen oder gar zu verlassen (was, wie ich anmerken möchte, auch damit zusammenhängen könnte, dass Frauen/Müttern generell weniger Straftaten zugetraut und demnach auch nicht offenbar werden).


    Dass Dederer, was Künstlerinnen angeht, allein vom Verlassen ihrer Kinder spricht, ist meiner Meinung nach zu kurz gedacht, da es auch solche gegeben hat, die ihre Kinder nicht „nur“ zurückgelassen, sondern zum Objekt gemacht haben, um ihr Image zu stärken oder sogar um künstlerischen Ruhm erst zu erlangen - Joan Crawford findet kurz namentlich im Buch Erwähnung, nicht aber z. B. Irina Ionesco, deren Fotografien von/Filme mit ihrer Tochter Eva heute teils indiziert sind (dabei dürfte ihr der Name nicht unbekannt sein, gibt es doch einen Link zu Polanski).

    Nicht vorwerfen kann man der Amerikanerin Dederer, dass Männer wie Klaus Kinski in diesem Buch fehlen, der ansonsten gut in diese Reihe passen und in einer Betrachtung über Künstler im deutschsprachigen Raum nur einer von vielen sein würde.

    Ich gehe nicht mit allen Überlegungen und Schlüssen Dederers konform, bin aber insgesamt angetan von dem Buch, das viele Facetten von Kunst, Künstlern, Kunstschaffenden und Kunstrezipienten, als Autorin auch und gerade über das Schreiben, aufwirft.


    ASIN/ISBN: 3492072275

    Was für ein Buch! Erstaunlich genug bei dem Inhalt, ist es wirklich saukomisch geschrieben (in dem Zimmer hat ein mit Ebola infizierter Kranker gelegen: inzwischen mal durchgewischt?), aber auch voller Selbstironie, Erkenntnis, Relexion ... Es ist in vielerlei Aspekten ein ... wie soll ich's ausdrücken ... ein lebenskluges Buch, das viele Aspekte streift, die mich auch regelmäßig umtreiben (allerdings nicht bez. des Myeloms, denn hier wie überall kommt es nicht nur darauf an, in welchem Jahr man erkrankt, sondern auch, wie alt der Patient ist und welchen Strapazen man ihn noch aussetzen kann).


    Bleibt für mich die Frage: Ist das ein autobiografischer Roman (wie z. B. Gorkows "Die Kinder hören Pink Floyd")? Oder ein Erfahrungsbericht (eher nicht)? Oder ...?

    Man muss das nicht in eine Schublade stecken, dennoch.

    Ich tendiere zu ersterem, denn für einen simplen Bericht hat es viel zu sehr von einem Roman. Um so ein Buch zu schreiben, braucht es auch Abstand, denn bei so einer Erfahrung kann einiges nur (wenn überhaupt) im Rückblick komisch sein bzw. lässt sich so aufbereiten.


    Danke für die Empfehlung, Tom! Es war für mich definitiv ein Highlight!

    Ich habe einiges über Sekten, Glaubensgemeinschaften, alternative Lebensformen gelesen, gut möglich aus einem gewissen Voyeurismus heraus, aber auch, weil es logisch wie emotional für mich nicht greifbar ist, wie es zu diesen extremen Ausprägungen kommen kann. Menschen, die auf der Suche sind, glauben etwas in einer Organisation zu finden, die sie finanziell, physisch und psychisch ausbeutet, ihnen vorschreibt, wen sie zu heiraten haben, die durch Umrühren in einer Badewanne „energetisiertes“ und auf Flaschen gezogenes Wasser kaufen, an Krankheiten sterben, an denen sie nicht zwangsläufig sterben müssten, weil sie aufs Handauflegen vertrauen … und, und, und.


    Natürlich wollen die meisten Menschen mehr sein als ein Rädchen im Getriebe und vor allen Dingen, als „Krone der Schöpfung“, ihrem Leben Sinn geben und nicht einfach vergehen, wenn ihre Zeit um ist. Diese Melodie aus dem Roman (dem ein wahrer Fall zugrunde liegt) ist keine peitscheschwingende Despotin, und dennoch jemand, der gelernt hat, sehr manipulativ und durchsetzungsstark zu sein, wenn sie auf die Menschen trifft, die dafür empfänglich sind. Sie übt Gewalt aus, die sie sehr gut zu tarnen versteht. Die Vier im Roman sind mündige Menschen, die, und das ist nur einer der verstörenden Aspekte daran: die füreinander da sein wollten.

    Eine Frau stirbt in einer Wohnung, nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, organisch gesund. Friedlich und sanft, sagen ihre Mitbewohner. Verhungert, sagt der herbeigerufene Arzt, der den Totenschein ausstellen soll.

    Was hat sich zugetragen in dieser Wohngemeinschaft, die sich selbst den Namen „Klang und Liebe“ gegeben hat? Wie konnte es soweit kommen?

    Davon berichten kein personaler und auch kein allwissender Erzähler, sondern davon erzählen zig Einzelstimmen: der Vater der Verstorbenen, ihre Schwester, deren übrige Geschwister, im Kollektiv, die Nachbarn, der Rechtsmediziner, und sogar unbelebte Gegen- und Zustände: Socken, ein Entsafter, zwei Zigaretten, ein Orangenduft, Demenz, Licht – den Anfang macht die Nacht: „Wir sind die Nacht“, so beginnt der Roman und schafft so eine Klammer bis zum Schlusskapitel.


    Die Wohngemeinschaft Klang und Liebe besteht aus Melodie van Hellingen, ihrer Schwester Elisabeth, Muriel und Petrus. Diese Vier haben sich zusammengetan, um miteinander zu leben, einander eine Stütze zu sein. Sie wollen mehr vom Leben als sinnlos zu konsumieren, sie wollen sich dem als feindlich empfundenen „System“ entziehen. Sie meditieren viel, arbeiten an sich. Petrus will lernen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Melodie lenkt, Melodie ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Wohngemeinschaft, eine Anführerin der leisen Töne. Wenn Melodie befindet, dass Nahrungsaufnahme Zeitverschwendung ist und vom wirklichen Sinn des Lebens ablenkt, dann sind die anderen bereit, diesen Weg mit zu beschreiten. So folgen sie gemeinsam dem Konzept der Lichtnahrung: die Vier wollen ihre Körper von der als Zwang und überflüssig empfundenen Notwendigkeit der Nahrungsaufnahme befreien, so, wie man sich von einer Sucht befreit.


    Was zunächst künstlich klingen mag (oder wie die Aufgabe in einer Schreibwerkstatt: schreib aus der Sicht eines Stuhls, eines Tisches …), ergibt in diesem Roman zweifellos Sinn, denn wer könnte in einer geschlossenen Gemeinschaft, noch dazu der Gemeinschaft von drei Personen, die verdächtigt werden, den Tod der vierten Person zumindest billigend in Kauf genommen, wenn nicht sogar aktiv (mit) verschuldet haben, „objektiv“ davon künden, was eigentlich passiert ist? Der Vater des Opfers, die Familie, die Nachbarn haben ihre mehr oder minder entfernten Blicke auf die Geschehnisse, von außen, die, die dabei gewesen sind, sind gefangen in ihren Glaubenssätzen, ihren Zweifeln, ihren Abhängigkeiten, aber die Gegenstände waren nicht nur hautnah dabei, sondern sind quasi neutrale Zeugen, wo die Polizei zwangsläufig im Dunkeln tappt, erhellen sie die Geschehnisse.


    Der mehrfach ausgezeichnete Debütroman „Wir sind das Licht“ der Niederländerin Gerda Blees (Jahrgang 1985) ist kein Krimi, wenn auch die Struktur des Romans sich an den Ermittlungen der Polizei entlangbewegt. Wie schon in den beiden von mir Anfang des Jahres vorgestellten Romanen „Es wird wieder Tag“ von Minka Pradelski und „Hundert Augen“ von Samanta Schweblin, wartet „Wir sind das Licht“ mit einer ungewöhnlichen Erzählperspektive auf. So drückend und schwer ihr Thema ist, so karg und vernunftfern sich das Sein und letztendlich zwangsläufig sinnlose Streben der Figuren darstellt, so gestaltet Blees ihre Erzählstimmen doch sehr farbig und lebendig – grandios das Kapitel, in dem die Demenz (der Mutter) spricht.

    „Wir sind das Licht“ ist einer der Romane, die man getrost zweimal lesen (oder hören) kann und bei denen man immer noch Dinge erfährt, die man beim ersten Mal verpasst hat.


    ASIN/ISBN: 3552072748

    Gorkow lautet der Nachname des Autors, und Gorkow heißt auch der Ich-Erzähler dieses Romans, der in den 1970-er Jahren am Niederrhein spielt. – Zack, da gehen bei manchen ja schon die Alarmglocken an! Nicht wegen „Niederrhein“ (oder auch?), aber wegen einer möglicherweise vermuteten und eher verpönten Selbstbespiegelung. Dabei speist sich doch einiges, worüber Schriftsteller in Romanen schreiben, aus eigener Erfahrung und Erinnerung …? „Parfüm am Kaufen“, „Lolly am Lutschen“, Roman am Schreiben. So halt.


    Wir befinden uns also in einer Kleinstadt im Rheinland in den Siebzigern. Im Fernsehen läuft die Hitparade, gerne mit Heino, Gerhard Klarner ist Nachrichtensprecher. Im Kino wird „Die Nacht der reitenden Leichen“ im Vormittagsprogramm gezeigt – bis der Jugendschutz einschreitet. Dann nimmt der Betreiber zum Beispiel die alten Schwarzweißfilme mit Godzilla und King Kong wieder ins Programm, vorübergehend, bis Gras darüber gewachsen ist. Die „reitenden Leichen“ müssen sich schließlich amortisieren.

    Der Krieg ist so lange noch nicht her, und so trifft man allenthalben noch auf Altnazis, auf jeden Fall aber auf sehr rigorose Einstellungen. Die Lehrerinnen werden Fräulein gerufen, dem Pfarrer rutscht schon einmal die Hand aus. Auf dem Schulhof gilt das Recht des Stärkeren, der Ich-Erzähler behauptet sich ganz passabel, was nicht unbedingt gesagt ist, da er an einer Sprachstörung leidet, er stottert. Nur sein Freund Huby darf im Unterricht nicht bestraft werden, denn Huby ist, so hieß das damals, mongoloid. Einem anderen Freund wirft die gelangweilte Mutter kleine Goldbarren in den familieneigenen Pool, nach denen die Jungen tauchen dürfen.

    Die Gorkow-Familie besteht neben den Eltern noch aus der älteren Schwester, die an einem angeborenen Herzfehler erkrankt ist und die dem Bruder gerne boshafte Märchen auftischt, in denen Musiker die Bösewichte sind, die es auf kleine Kinder abgesehen haben. Der Vater ist, wenn er nicht im Büro ist, sehr stolz auf seine Rosen, was vor allem einem inflationären Einsatz der Giftspritze zu verdanken ist. Ob seine Kinder ihm bei der Gartenarbeit helfen möchten? Wenn diese besseres zu tun haben, kann die Antwort der Mutter auf eine diesbezügliche Anfrage schon einmal stellvertretend abschlägig lauten: „Die Kinder hören Pink Floyd“. So wie: „Die Kinder machen Hausaufgaben“. Diese englische Band hat es den Geschwistern besonders angetan, die Schwester schreibt Briefe nach London, und selbst der Vater ist bereit, sich diese Musik mit seinen Kindern anzuhören, sogar auf dem guten Plattenspieler, dem Thorens, dessen Handhabung an nichts weniger als eine kultisch-religiöse Zeremonie erinnert. Leichtsinnigerweise, muss man sagen, fürchtet der Vater doch irgendwann, die Platte von Pink Floyd könne das Gerät geradeweg pulverisieren.


    Insgesamt: Es gab für mich ein paar Längen, der Tonfall, das Absurde, ist, so konstant durchbehalten, irgendwann auch keine Überraschung mehr, am Ende ist der Junge erwachsen und ich bin mir noch uneins, ob es das gebraucht hätte oder das im Gegenteil die Geschichte erst rund macht, aber im Ganzen: Daumen hoch.

    Man merkt: Hier am Niederrhein, Mitte der Siebzigerjahre, ist der ganz normale Wahnsinn zu Hause. Und das Ulkige daran ist: Obwohl Alexander Gorkow (der Autor) Figuren, Situationen, Dialoge völlig überzeichnet, ins Wahnwitzige steigert … kam mir das eine oder andere irgendwie seltsam vertraut vor.


    ASIN/ISBN: 3462052985

    Zitat Jürgen:

    So wie mir geht es zweifellos vielen anderen Menschen und weil das so ist, halte ich es für gerechtfertigt, eine Art von Verhältnismäßigkeit anzumahnen, was die Aufmerksamkeit sowie die mediale Präsenz und die Gelegenheit zur (Selbst)Darstellung einer jeden Gruppe betrifft, die unverhältnismäßig oft Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt ist, und dass diese Verhältnismäßigkeit auch die Anzahl der Individuen spiegelt, die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen.

    Zitatende


    (Ich gehöre zur Gruppe derer, die am Smartphone ab und an zwei linke Hände haben, daher so zitiert.)


    Wie soll eine solche Verhältnismäßigkeit aussehen, frage ich mich da. Zudem noch, wo auch die Zahl der Betroffenen berücksichtigt werden soll? Wie viele Schubladen sollen da aufgemacht werden? Und berücksichtigen wir auch die Zeiten, in denen man nicht über die und die Gruppe gesprochen hat? Wird ihnen diese Null-Zeit dann etwa gutgeschrieben?


    Es geht, wenn Menschen, die aus einem bestimmten Grund ausgegrenzt werden, sichtbarer in Erscheinung treten, auch darum, die zu stärken, die sich nicht trauen, zu sich zu stehen. Da ist jemand wie Kim de l’Horizon ein Vorbild.

    Zudem kenne ich jetzt auch nicht so viele Romane, in denen dieses Thema nun besonders „breitgetreten“ wird. Anstatt daher zu sagen, fein, da hat jemand auf einem offenbar doch hohen künstlerischen, literarischen Niveau (setze ich jetzt einfach mal als gegeben voraus, obwohl sich daran natürlich auch wieder die Geister scheiden werden) etwas zu einem Thema vorgelegt, das es noch nicht allzu oft gibt, argumentierst Du, Jürgen: „Gibt es nicht Gruppen, über die man endlich auch mal reden sollte?“

    Ja, sollte man, zweifellos, bloß ist der Anlass im vorliegenden Fall ein anderer. Kann man das so wenig tolerieren, selbst nicht im Wissen darum, dass immerhin die vage Möglichkeit besteht, dass sich nächstes Jahr keiner mehr an Kim de l’Horizon erinnern wird werden können?

    Da hat eine Person einen Roman geschrieben. Über Dinge, die ihr offenbar wichtig sind. Das scheint ihr irgendwie ganz gut gelungen zu sein, jedenfalls hat das Werk schon zwei Preise eingefahren. Oder passiert das grundsätzlich, wenn etwas den Zeitgeist erfüllt? Sonst könnten wir uns ja an diesen Zug anhängen. Nein?


    Nun hätte „man“ den Preis auch in Jeans und T-Shirt abholen können statt im Glitzerrock. Und hätte so keinen Shitstorm eingefahren - Bilder machen‘s, nicht Text! Das Buch liest eh keiner von denen, die in Social Media am lautesten schreien.

    Hätte, hätte, muss aber nicht.

    Wow, da ist aber mal eine bitter drauf.


    Ich finde das etwas entlarvend, wie das Publikum da bei der Preisverleihung im Saal saß. Gesang. Wie jetzt? Stille. Ok … Soll man das jetzt beklatschen …? Ja, machen wir mal … mit. Dann steht auch noch eine auf! Sollen wir das jetzt einer Standing Ovation wert befinden …?! Doch, wird schon. - Wenn das mal keine kollektive Überforderung war!

    Ich habe die Idee der Syrer-Flüchtlingsbuches dieser "Kultur-Prüfungs-Kommission", besser bekannt als "sensitive reader", vorgelegt. Von da kam postwendend die Aussage: "Auf gar keinen Fall! Wenn, dann muss der Syrer das Buch selbst schreiben! Kein weißer deutscher Mann hat in diesem Buch etwas zu suchen."

    Das ist ein Punkt, der mir in der Diskussion Unbehagen bereitet (Passenderweise ????): Dieser Anspruch, dass niemand über etwas zu schreiben habe, das er nicht aus eigener Erfahrung kenne, bedeutet doch auch, dass manche Themen bzw. Einstellungen überhaupt nicht oder nur am Rande vorkommen. Das kann es nicht sein, wenn nicht jedem die gleichen Fähigkeiten gegeben sind, sich zu äußern.

    Geht hier nicht einiges durcheinander? Die neuen in Rede stehenden Romane, der Film, Karl May … und manchmal auch die Argumente. Auf der einen Seite kann man ja durchaus das Recht eines Autors hochhalten, das zu schreiben, was er möchte, auch über Lebenswirklichkeiten, die ihm persönlich ferner nicht sein könnten, und auch die Befähigung dazu darf man ihm durchaus zutrauen - auf der anderen Seite geht es hier aber ausgerechnet um ein Buch (oder mehrere), die nun gerade nicht von besonderer Lebensnähe geprägt sind. Das Recht eines Autors, Märchen zu erzählen, wird demnach höher geschätzt als die Interessen Angehöriger einer Minderheit, die - verallgemeinernd gesprochen - sich womöglich ja aus gutem Grund nicht immerzu als Klischeefigur dargestellt sehen möchte. Wobei hier erschwerend hinzukommt, dass ihre Familien womöglich schon schlimmer behandelt worden sind als die Schriftsteller, deren Werk nun verpönt ist, was aber sooo bekannt nicht ist, vielleicht ja auch deshalb, weil es dieses Bild vom „edlen Wilden“ gibt, das sich vielen von uns eingeprägt hat.


    Ja, die Autoren dieser vom Verlag nun zurückgezogener Bücher haben die A-Karte gezogen. Der Verlag hätte zu seinem offenbar im Buch vorhandenen Disclaimer, wonach es sich um eine romantisierende Darstellung handelt, fester stehen können - oder es von vornherein lassen können.


    Ja, es ist ein Unterhaltungsstoff. Weil diese Art Fiktion natürlich weit angenehmer zu lesen ist als die Wirklichkeit. Diskreditiert diese Erzählung? Wahrscheinlich nicht. Außer vielleicht, man zementiert so ein geschöntes Bild, das die Realität konstant unterdrückt. Wie (einst) ganze Volksgruppen an sich. Dann wird nämlich auch Romantisierung und Heroisierung problematisch. Solange es keine Unterdrückten gibt, gibt’s auch keine Unterdrücker.


    Ich bin mir uneins: Da sind auf der anderen Seite die unsäglichen Shitstorms, denen sich ein Verlag besser erwehren können sollte (wünschen darf man sich das ja), und auf der anderen Seite: siehe oben. Wenn man das eine Recht hochhält, spricht man dem anderen - sich in Film, Literatur etc. nicht als ausgedachte Fantasiefigur, die jeder Realität entbehrt wiederzufinden - die Berechtigung ab.

    PS: C. H. Beck hat gerade auch ein ähnlich gelagertes (?) Problem - deren „Glück“ ist vielleicht, dass Winnetou deutlich populärer ist als irgendein trockener Rechtskommentar.

    Mag sein, aber mein Gedanke war: Was wird erwartet? Konzipiere ich zu umfassend? Oder zu knapp?


    Aber ich scheine das eh nicht zu durchschauen … Egal, wie gruselig man die vorgegebenen Texte finden mag: Diese Pitches erläutern doch nur das Setting, dachte ich, umreißen die Idee. Nein?


    Ansonsten: Alles richtig - allerdings sollte man davon ausgehen, dass die im Wettbewerb eingereichten Texte auch wahrgenommen werden. Das ist nicht unbedingt gesagt, wenn die eigene Einsendung nur eine unter vielen, vielen anderen unverlangten ist.

    Zitat: (…) Den Teilnehmenden ist es nicht gestattet, das Werk/Exposé unter Einschluss der in den Kriminalfällen 1 bis 3 näher beschriebenen Handlungselemente in einem anderen Verlag (einschließlich eines Selbstverlags) zu veröffentlichen und/oder zu verwerten.

    Wer deshalb von einer Teilnahme Abstand genommen hat, sollte sich die Teilnahmebedingungen nochmals ansehen. Sie enthalten jetzt einen einschränkenden Zusatz: bis zur Bekanntgabe der Gewinner.