Beiträge von Petra

    Einmal das. Und sich immer wieder zu sagen, wie schlimm man etwas findet, trägt dazu bei, dass man sich dem nie und nimmer annähern wird wollen oder können. Wie es mir bei jemandem aus meinem nahen Umfeld wiederholt auffällt, der einem Vortrag, der mit vielen „Ähems“ durchsetzt ist (was sich wahrscheinlich bald um mit „genau“ erweitern wird), nicht folgen kann, will, was auch immer: Wer nicht in der Lage ist, sich damit abzugeben (von „anfreunden“ will ich gar nicht sprechen) oder das herauszufiltern, zu überhören, dem könnte das eine oder andere entgehen.

    Das ist der hochwertigste Ausbildungsgang dieser Art in Deutschland, aber es ist auch nicht ganz leicht, sich dafür einzuschreiben. CW lehren viele Unis, Volkshochschulen und andere Institute, und ich bin sicher, dass man dabei etwas lernen kann. Ich bezweifle aber, dass auf diesem Weg (vor allem in Leipzig) aus schlechten Schriftstellenden 8-) gute werden.

    Zweifellos.

    Unter „Ausbildung“ fielen mir aber nicht die eher raren Plätze an solchen Instituten ein, sondern, ähnlich wie die vielen Vanity-Verlage, Schreibkurse, wo man zweifellos etwas lernen KANN, oft genug aber auch nicht. Ohne Neigung (um „Talent“ nicht zu gebrauchen) kein Erfolg.
    Lesen kann zudem auch eine Ausbildung sein. Trainiert das Sprachgefühl ungemein. Wer ohne regelrechte Ausbildung gut schreibt, hat in den meisten Fällen viel gelesen.

    Der Stein war mir zu groß, um nicht drüber zu stolpern, sorry. (Ich habe zudem Emojis vergessen, die meine Betonung von „Ausbildung“ verdeutlicht hätten.)

    Inzwischen habe ich weitergelesen. Meine Frage erübrigt sich demnach.

    Ich bin kein Gegner des True-Crime-Genres. Ich habe u. a. auch schon Bücher über Kindermörder gelesen. Romane und Sachbücher. Wenn ein Buch allerdings unter Mitarbeit des Mörders entsteht, eröffnet dem das auch die Möglichkeit, horrende Lügen in die Welt zu setzen. Über die Mutter, über den Tod der Kinder … um sich in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Wahrscheinlich wird das vom Autor des Buches dann nicht unkommentiert bleiben, dennoch: Ein schales Gefühl bleibt mir.


    Am Rande: Die Schwester eines Mordopfers hierzulande ging aktuell gegen die „Aufbereitung“ dieses Falls in einer Art Show-Format vor:


    https://uebermedien.de/103465/…vom-bayerischen-rundfunk/

    Wenn Bücher verboten würden, weil sie „jemandes Gefühle verletzen könnten“, dann müssten sehr viele Bücher verboten werden. Mit den wenigen hier aufgeführten Fakten finde ich es schwierig, eigentlich unmöglich, diese Frage zu beantworten. Es verlangt nach einer Verallgemeinerung, die man eigentlich nicht machen kann. Gerade, wenn man sich überhaupt keinen Eindruck von dem Buch verschaffen konnte. (Nicht, dass dieser Bann grundsätzlich umgesetzt wurde, wenn man danach googelt, kann man eine spanischsprachige Hörbuchfassung als MP3 angeboten finden.)

    Dieses Buch ist unter der wahrscheinlich unabdingbaren Mitwirkung eines Mörders geschrieben worden. Es breitet womöglich die Umstände ungefiltert (?) aus. Wer könnte der Mutter verdenken, dass sie weitere Einzelheiten und womöglich Verunglimpfungen nicht breitgetreten haben möchte? Was wäre denn, wenn z. B. Dominique Pélicot ein Buch aus seiner Sicht veröffentlichen wollte?

    Es ist ein Einzelfall: Was man daraus lernen könnte, sei mal dahingestellt. Dass Menschen zu monströsen Taten fähig sind? Wusste man das nicht schon? Hülfe es, in Zukunft solche Taten zu verhindern? Wohl kaum.

    Unbesehen glaube ich, dass ein fähiger Autor ein „gutes“ Buch aus jedem Stoff machen könnte, also auch aus diesem.

    Da steht dann das Recht eines Autors dem Wunsch der Mutter entgegen, auch ihr Leben nicht aufs Neue und immer weiter (was ohnehin durch die Tat schon passiert ist) vom Vater und Mörder der gemeinsamen Kinder beeinflussen zu lassen?

    Schwierig.

    Es würde mich nicht wundern, wenn hier das letzte Wort auch noch nicht gesprochen wäre. Es scheint sich ja um eine zivilrechtliche Auseinandersetzung zu handeln. Womöglich kommt das Buch letztendlich mit Kürzungen oder auch ungekürzt doch noch auf den Markt?

    Interessant finde ich einen in einem Artikel angesprochenen Vergleich zur sog. Holocaust-Literatur, einer Debatte, die der Fall in Spanien entfacht haben soll. Aber kann man denn ein Menschheitsverbrechen mit einem persönlichen Rachefeldzug eines Einzelnen vergleichen und daraus irgendetwas für dieses Buch ableiten? Ich glaube nicht.

    Die „Gesichter“ von Milli Vanilli hatten beide starke Akzente. Die waren plötzlich weg, als „sie“ sangen. Manchmal kann man durchaus ins Grübeln kommen, wie weit sich der Mensch an sich belügen lassen will, wenn es seiner Unterhaltung dient.

    Wenn ich heute alte Madonna-Songs höre, bin ich unangenehm berührt, wie quäkig sich ihre Stimme da anhört. Aber Stimme war im „Gesamtpaket“ ganz offenbar nicht das Wichtigste.

    Wieviele „Stars“ gleichen stimmliche Mängel heute mit Technik aus? Und ist das „schlimm“, wenn das Endprodukt dadurch gewinnt? Da ist es jedenfalls kein Thema mehr, dass diese Töne nicht von ihnen produziert werden. Wenn’s damals noch (auch) andere, richtige Sänger hinter den Kulissen brauchte, zieht man heute Regler und dreht an Knöpfen - oder wahrscheinlich auch das nicht mehr, zu old school.

    Ja, natürlich gibt’s diejenigen, die Stimme und Persönlichkeit/Star Quality haben. Aber es ist immer leichter geworden, Anteile zu faken. Und es scheint immer mehr akzeptiert zu werden.

    Zitat Alexander:


    > Eine seiner Executive Orders trägt den Titel: „Wiederherstellung der Redefreiheit und das Ende föderaler Zensur“. Nun führt seine Regierung ein, was sie bekämpfen wollte. Nur mit anderen Vorzeichen.


    Mit anderen Vorzeichen, ja. Ich würde meinen: Ob sich das widerspricht, ist eine Deutungssache. Wenn jemand Wörter tilgen will, die er z. B. als woke versteht (oder die tatsächlich in dem Zusammenhang entstanden sind), dann tritt er - in seiner verqueren Logik - für Redefreiheit ein. Der „neumodische Quatsch“ wird abgeräumt, man kehrt zurück in die „gute alte Zeit“.


    Was meinte denn J. D. Vance, wenn er die deutsche Regierung zur Redefreiheit aufrief? Dass Bullshit gefälligst „unzensiert“ bleiben soll. Hassrede als Recht der freien Meinungsäußerung akzeptiert wird. Faktencheck? Braucht keiner.


    Da hat jemand klargestellt, was seiner Meinung nach nicht besprochen gehört: worunter weitestgehend die Belange von Minderheiten zu verstehen sind. Menschen, die sich mitunter gerade erst getraut hatten, sichtbar zu sein, sollen wieder dahin, wo sie mit ihren „Befindlichkeiten“ „normale“ Menschen nicht mehr stören. Behinderte, Queere, Angehörige nicht-weißer Ethnien … Wenn dann über sie gesprochen wird, dann mit anderen Bezeichnungen und garantiert wenig freundlichem Tenor. So spaltet man, in „wir“ und „die anderen“.


    Interessant finde ich: „Schwangere“. Das passt für mich irgendwie nicht in die Reihe der Wörter. Fruchtbarkeit (weißer, nicht armer Menschen) sollte doch gern gesehen sein. Also was soll damit unterdrückt werden? Diskussionen über Abtreibung? Warum dann nicht gleich „Schwangerschaftsabbruch“?


    Dass zu viel Freiheit auch Angst machen kann, halte ich nicht für ungewöhnlich. Oder dass Minderheiten Rechte bekommen, die einem selbst zu weit gehen. Man fürchtet um eigene Pfründe, wenn andere plötzlich gleichberechtigt sein sollen.

    … und die Plätze der unerwünschten Pressevertreter werden durch genehme ersetzt (die dann z. B. nach Garderobe „fragen“).


    Mit Sprachlenkung haben „wir hier“ (in Deutschland und Österreich, meine ich) ja Erfahrung …

    Hallo Silke,


    ich habe das nachträgliche Erzählen nicht als nachteilig empfunden. Da die Erzählerin in „Bleib“ in eine psychische Ausnahmesituation gerät, später raucht sie noch Gras, wäre hier ein direktes Erzählen wahrscheinlich viel zu konstruiert gewesen.

    Bei zwei Perspektiven würde ich Dir wahrscheinlich folgen, bei einer einzigen bin ich dem Aufbau der Romane gern gefolgt.

    Die folgenden Überlegungen befassen sich mit zwei neueren Briefromanen: „Bleib“ (2024) der Französin Adeline Dieudonné und „Dieser Beitrag wurde entfernt“ (2022) der Niederländerin Hanna Bervoets.

    Mich hat die Form der Romane mehr beschäftigt als der Inhalt (was nichts über die Qualität der Romane aussagt), deshalb habe ich keine Rezensionen verfasst.


    Was den Begriff „Briefroman“ angeht, hatte ich bisher nur eine vage Vorstellung: zwei Personen schreiben sich - literarisiert - Briefe, in der Regel abwechselnd. Damit ergeben sich automatisch zwei Perspektiven/zwei Erzählstimmen (Multiperspektive). Wahrscheinlich sind die beiden Personen in entscheidenden Punkten unterschiedlicher Meinung - wäre es anders und beide würden sich ständig nur zustimmen, gäbe es keinen Konflikt und mithin machte sich beim Leser wahrscheinlich schnell Langeweile breit. In der Regel sind die Briefe chronologisch geordnet.


    Das ist aber nur eine Möglichkeit. Tatsächlich gibt es auch Briefromane mit nur einem Erzähler (Monoperspektive). Entweder antwortet der Briefschreiber auf (fiktive) Briefe, die aber nicht Teil des Romans sind oder es erfolgt von vornherein eine einseitige Ansprache.

    Auch, was die Zahl der Briefe angeht, gibt es kein Minimum. (Damit wäre so ein Brief dann natürlich u. U. sehr lang! Natürlich ist es aber ja kein Brief - auch ein Briefroman bleibt ein Roman.)


    Stellt sich die Frage:

    Gibt es dann überhaupt Unterschiede?

    Was hat die Autorinnen dieser Romane veranlasst, ihre Protagonistinnen Briefe schreiben zu lassen?

    Hat die Briefform Vorteile gegenüber einer Ich-Erzählerin, die keine Briefe schreibt?


    Ein Unterschied zum Roman, der von einem „Ich“, aber nicht in Briefform erzählt wird, ist die direkte Ansprache des fiktionalen Lesers: des Briefempfängers. In den beiden genannten Romanen ist das jeweils eine Person, die die Briefschreiberin nicht persönlich kennt und die folglich gesiezt wird. Dies erfolgt nicht ständig, aber mehr als einmal.

    Trotzdem also nicht der Leser gemeint ist, passiert etwas, wie wenn im Theater die vierte Wand durchbrochen wird. Der Leser wird erinnert: Dies ist eine subjektive Geschichte. Jemand (die Ich-Erzählerin) hat diese Geschichte nicht nur erlebt, sondern auch bereits aufgeschrieben.

    Dadurch entsteht eine gewisse Distanz zum Stoff, aber nicht notwendigerweise zum Erzähler. Protagonist/-in und Leser/-in sind einerseits stärker voneinander getrennt. Andererseits wird man quasi stellvertretend zum Empfänger einer vertraulichen Informationen. Man „versinkt“ aber kaum je oder nur vorübergehend in der Handlung.

    (In den beiden geschilderte Fällen möglicherweise, weil die beschriebenen Sujets (siehe unten) ohnehin keine Identifikation zulassen?)


    Die Haupthandlung entwickelt sich nicht fortwährend, sondern ist (in einem Fall komplett, im anderen zweigeteilt) bereits abgeschlossen. Das Geschehen wird im Rückblick erzählt. Hierdurch sind reflektierende Gedanken möglich, wie auch Rückgriffe auf Dinge, die sich vor Einsetzen der Haupthandlung zugetragen haben.

    Es wäre wenig glaubhaft, von einem höchst dramatischen Geschehen, während es passiert, abzuschweifen. Genau das ist aber möglich, wenn das Geschehen abgeschlossen ist und darüber nachgedacht wird. Der Brief ist also auch eine Form der Verarbeitung durch den Schreiber (wobei der Schreiber nicht mit dem Autor verwechselt werden darf).


    In den beiden genannten Romanen gibt es nur jeweils eine Erzählperspektive. Es werden keine Briefe ausgetauscht. Nur eine Person legt einer anderen ihre Sicht der Dinge dar. Der Empfänger/die Empfängerin der Briefe bleibt stumm. Was man über diese Personen erfährt, erfährt man von der (in beiden Fällen) Briefeschreiberin, also aus deren Sicht. Das Gesagte kann, muss aber nicht zutreffen, gerade auch, wenn Briefe an unbekannte Personen gerichtet werden.


    In „Bleib“ werden zwei Briefe geschrieben. Einer unmittelbar nach dem auslösenden Ereignis, einer drei Monate später.

    In „Dieser Beitrag wurde gelöscht“ ist es nur ein einziger Brief.


    Empfängerin der Briefe in „Bleib“ ist die Ehefrau eines Mannes, der während eines Urlaubs mit seiner Geliebten verstirbt.

    Briefeschreiberin ist die Geliebte, die nicht (wie man erwarten sollte, was aber nur bedingt, allenfalls ein Auftakt zu einer Geschichte wäre) tut, was man so tut (Arzt, Polizei verständigen), sondern sich auf eine insgesamt dreitägige „Reise“ mit dem Leichnam macht.

    Empfänger der Briefe in „Dieser Beitrag wurde gelöscht“ ist ein Rechtsanwalt, der eine Sammelklage von Mitarbeitenden einer Firma vorbereitet, deren Aufgabe es war, verstörenden Content im Internet zu löschen.

    Briefeschreiberin ist eine ehemalige Mitarbeiterin.


    Auch wenn die genannten Romane unbekannt sein sollten: Wann ergibt die Form eines Briefromans Sinn? Wenn sie sich aufdrängen sollte: die Form ist trotzdem selten. Was also macht einen Stoff für einen Briefroman geeignet?


    PS: Ich hole hiermit einen Thread von 2010 nach oben, der sich auch mit Briefromanen befasst. Mehrfach geäußerte Meinung: Die Form des Briefromans taugt allenfalls noch für historische Stoffe.

    Das ist bei diesen beiden Romanen absolut nicht der Fall! Beide „trauen sich was“, der eine greift sogar ein hochaktuelles Thema auf.

    Entweder, die damals geäußerte Meinung traf damals schon nicht zu - z. B., weil man es mit der Form strenger nahm als eigentlich nötig - oder da hat sich was getan in den letzten Jahren. Auch möglich, dass man sich an die Form des Romans gar nicht erinnert, wenn der Roman an sich gut erzählt ist. Dass „Wir müssen über Kevin reden“ von Lionel Shriver ein Briefroman ist, hätte ich heute z. B. nicht mehr gewusst.

    Ein Sachbuch ist ein Sachbuch, eine Autobiografie ist eine Autobiografie, ein Roman ist ein Roman: Das gilt, wenn es überhaupt je allgemeingültig war, schon lange nicht mehr. Sachbücher werden mitunter so mitreißend erzählt, dass man sich teils in einem Roman wähnen kann. Manchmal (nicht hier) steht „Roman“ auf einem Cover, und man fragt sich, warum. Autobiografien sind ohnehin nie 1 : 1 Abbild von dem, was tatsächlich war, sondern gefärbt durch den Blick des Verfassers. Sie werden erzählerischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, es wird gestrafft, gerafft, umgestellt, maskiert, geschönt, weggelassen, übertrieben. In Romanen hat der Protagonist mitunter den Namen des Verfassers. Es ist daher nicht immer ganz einfach einzuordnen, womit ein Leser es eigentlich zu tun bekommt.


    Arno Geigers - in Ermangelung eines anderen Wortes - Buch „Das glückliche Geheimnis“ fällt wahrscheinlich in diese Kategorie des schwer Bestimmbaren. Es erzählt von Geigers Leben und seinem Werk, seinen Beziehungen zu Frauen und zu den Eltern, dem Altern und dem Sterben, seinen Romanen (!), dem Literaturbetrieb; wie es ist, von einem Niemand durch den ihm zuerkannten Deutschen Buchpreis zu plötzlicher Bekanntheit zu gelangen - und von seinen „Fangzügen“ zu Altpapiertonnen, immer auf der Suche nach (für ihn) Werthaltigem. Bücher, die er auf Flohmärkten verkaufte, meist Massentaugliches, aber ab und an waren auch Kostbarkeiten dabei, die sich als Antiquitäten erwiesen, gerade noch vor dem Zugriff durch die Müllabfuhr bewahrt. Und er findet persönliche Dokumente: Briefe und Tagebücher. Die Altpapiertonne ist „Filiale des Friedhofs“, enthält von jenen Weggeworfenes, die die Wohnung, das Haus leer räumen, nachdem jemand gestorben ist. Wer sich im Leben von alten Liebesbriefen trennt, hat zumindest die Beziehung zu Grabe getragen. Geiger begann damit als Unbekannter und führte es - in einer Art Doppelleben: Literat und Müllsammler - fort. Einmal fand er einen Roman von sich, ein schiefgelesenes Taschenbuch. (Immerhin schiefgelesen! Ungelesen weggeworfen wäre wahrscheinlich schlimmer gewesen, vermute ich.)

    Einer, der schlecht Dinge wegwerfen kann, ist Geiger dafür nicht: Im Gegenteil, hebt er hervor, wie wichtig es ist, sich auch von Dingen zu trennen.

    Geiger schreibt über Dinge, über die die Zeit hinweggeht, und er schreibt über Alter und Krankheit - weil es nicht nur Dinge sind, über die die Zeit hinweggeht. Er schreibt übers Schlittenfahren, während der Vater dement im Pflegeheim und die Mutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus in ihren Rollstühlen sitzen. Über Vergänglichkeit von anderen und der eigenen. Wenn er einen Bogen von den Buchstaben zieht, die seine Mutter mit Kreide auf die Tafel schrieb, um ihn das Lesen zu lehren, hin zu ihm, dem Sohn, der die Wörter, die seine altgewordene Mutter unvollständig schreibt, vervollständigt, dann sind das zwei alltägliche Dinge, aber in der Verbindung von beidem wird es zu in Form und Sprache gegossener Literatur.

    Geiger schreibt auch und gerade über das Leben als Schriftsteller. Seines und das anderer. Über Philip Roth. Über die Notwendigkeit, etwas sagen zu wollen. Darüber, was passiert, wenn Handwerk überhandnimmt. Über Schreibtische, die (meine unzureichende Wendung) zur Falle werden können. Über das Umgehen von Trampelpfaden. Über das Gift der Manier. Die Vergänglichkeit von Gedrucktem.


    Ich habe einige negative Stimmen zu dem Buch gelesen, wahrscheinlich mehr negative als positive: langweilig sei es, selbstverliebt - und dann diese Weibergeschichten! Tatsächlich hätte man da auch für mich etwas kürzen können, bloß: Mag da manchen Leserinnen nicht auch eigenes Unbehagen mit hineinspielen? Wenn es für Geiger ins Buch gehört, dann gehört es hinein. Geiger betont, dass das Leben vorm Werk komme. Und: dass seine Romane aus seinem Leben entstanden sind, auch die fiktiven. Dass seine Berührung mit Lebenszeugnissen von Nicht-Schriftstellern sein Schreiben auch beeinflusst habe, dass er es mitunter sogar dem perfekt Konstruierten der Literatur vorziehe. Was einem ungeschliffenen, weil nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen Brief oder Tagebuch fehle, mache das mitunter mit Authentizität wett.


    Ich habe „Das glückliche Geheimnis“ gerne gelesen, verstehe aber, wenn es bei manchen, gerade auch denen, die der schriftstellerische Aspekt nichts gibt, weil sie lieber das Resultat lesen, nicht über den Weg dahin, wie eine Art Nabelschau ankommt.

    Über das Schreiben geschrieben, jenseits von Regeln, die für Leute bestimmt sind, die selbst gern schreiben wollen, aber nicht wissen wie, haben viele: Ortheil, Herrndorf … Ortheil als Vielschreiber, als Verfechter des Alltäglichen. Und ja, wenn einem das zu viel ist, kann es einem vorkommen, wie etwas, wie einer, das/der sich selbst zu wichtig nimmt. Ich sehe das nicht so. Und auch die Uneindeutigkeit treibt mich nicht um.

    Man muss nicht mit allem, was Geiger schreibt, übereinstimmen - oder überhaupt. Man kann dem - natürlich - auch widersprechen. Das muss den Wert, den man aus einer Lektüre zieht, nicht schmälern.

    Es hilft vielleicht, sich zu fragen, ob man auch mal gerne ein Tagebuch oder ein Konvolut Briefe aus einem Altpapiercontainer ziehen würde. (Ich absolut.) Wenn nein, dann wird man mit „Das glückliche Geheimnis“ höchstwahrscheinlich auch nicht warm.

    Vielleicht ist das Buch ja das: Lebensnahes, literarisch bearbeitet, und demzufolge ein Zwischending, nicht nur, was die Buchgattung betrifft, sondern auch als Verschmelzung von Alltäglichem, das immer auch ein bisschen banal ist, und Literatur, die (im besten Fall) nicht nur Kunst ist, sondern der auch immer etwas Künstliches anhaftet. Das ist weit mehr als bloß über das Sammeln von Alltagszeugnissen zu schreiben.

    Am 13. März 1964 wird im New Yorker Stadtteil Queens die 30-jährige Catherine „Kitty“ Genovese überfallen, vergewaltigt und durch Messerstiche getötet. Der Täter, Winston Moseley, Büroangestellter, verheiratet, Vater zweier Kinder, kein Ersttäter, wird wenige Tage darauf festgenommen. Ein misstrauischer Nachbarn hatte die Polizei verständigt, der den schwarzen Mann dabei beobachtet hatte, wie der einen Fernseher aus einem Haus schaffte.

    Der traurige Fall erlangte wenig später Berühmtheit, mündete sogar in der Benennung als Genovese-Syndrom oder Bystander-Effekts, weil - angeblich - 38 Nachbarn Zeugen des Überfalls auf die junge Frau gewesen sein sollten und es fast alle nicht oder erst zu spät für nötig befunden haben sollten, die Polizei zu informieren oder gar der Frau direkt beizustehen.


    Warum? Aus Angst um die eigene Person? Weil keiner sich in eine vermutete Auseinandersetzung unter einander Bekannten einmischen wollte? Man darauf vertraute, dass bestimmt andere aktiv werden würden?


    Basierend auf diesem tatsächlich passierten Mord hat der französische Autor Didier Decoin den im Original 2009 (2011 auf deutsch) veröffentlichten Roman „Der Tod der Kitty Genovese“ geschrieben.

    Erzähler ist ein Mann, der seinerzeit mit seiner Frau im Haus gegenüber von Kitty Genovese gewohnt hat (später zieht er weg, und zwar in die Nähe eines guten Angelgewässers). Noch in Queens, schreibt er eigentlich einen Roman übers Angeln.

    Das gut situierte, intellektuelle Paar (sie ist Übersetzerin) war in der betreffenden Nacht nicht zu Hause, wird aber dennoch in den Fall hineingezogen, als sie der Journalist aufsucht, der Wochen später, als längst andere Themen die Gazetten bestimmen, den Artikel veröffentlichen wird, der die Gewalttat gegen Kitty Genovese erst richtig bekannt macht.


    Der Roman ist teils berichtend nüchtern erzählt, teils aber auch durchaus opulent, zum Beispiel da, wo in einem Satz über 10 Zeilen von Jack Kerouac die Rede ist, der im selben Viertel wie der Täter gewohnt und „unzählige Versionen von Unterwegs“ überarbeitet hatte. Kerouac hatte nichts mit dem Fall zu tun, es tut auch „eigentlich“ nichts zur Sache, wer er ist und woran er gearbeitet hat - und doch ist er Teil dieses Umfelds und der Zeit und bereichert das Setting dieses Romans (dem man zudem mit gut 150 Seiten nicht gerade den Vorwurf der Geschwätzigkeit machen kann).

    Ich hatte Schwierigkeiten, in den Roman hineinzukommen, weil er durch die nüchternen, zum Teil, wie es scheint, rein zitierenden Passagen auch nicht allzu gefällig aufgebaut ist. Als diese anfänglichen Schwierigkeiten mit der Montage aber erst einmal überwunden waren, habe ich den Roman gerne gelesen. Der Erzähler, auch wenn sein Interesse „eigentlich“ bei Fischen liegen mag, scheut sich nicht, in die handelnden Charaktere zu schlüpfen, einschließlich der des Opfers und des Täters. Das kann heikel sein, gelingt ihm (und damit Decoin) aber geradezu beklemmend gut.

    Eine Szene, die ich geradezu für ein Musterbeispiel von „Show don’t tell“ halte: Das Paar überlegt, ob sie Genovese vielleicht in einer Vorführung zweier Kurzfilme (Jean Genet und Andy Warhol) gesehen haben könnten, die sie letztendlich in Handschellen verlassen mussten, da diese Filme ihres Inhalts wegen ganz offensichtlich gegen herrschende Moral verstießen. Dieses und andere Details bewirken, dass man dem Roman sofort sowohl den Ort als auch die Zeit abnimmt: So muss es gewesen sein, das New York der 1960-er Jahre.

    Für einen Krimi halte ich den Roman nicht, geschweige denn ein nacherzähltes Stück True Crime. Er enthält allerdings Passagen, die gerade wegen der offenen, reflektierten, kaltblütigen Art des Täters und des Vermögens des Autors, aus seiner (angeblichen) Sicht zu erzählen, mitunter schwer erträglich sind.


    Heute weiß man: Kaum etwas ist vollständig so, wie es zunächst behauptet wird. (Dass der Täter ausgerechnet durch einen vermuteten Einbruch einem Nachbarn auffiel (wenn es um Eigentum geht, passt immer einer auf, wenn eine Frau um ihr Leben kämpft, eher nicht?!), ist ein Detail, das man einem Autor eines fiktiven Romans wahrscheinlich nicht abnehmen würde.) 38 Augenzeugen des Mordes an sich waren es nicht, wohl aber etliche Augen- und Ohrenzeugen des ersten Angriffs. Und davon verließen sich die meisten auf andere, die an ihrer Stelle handeln sollten (während andere Schwierigkeiten hatten, einen Notruf schnell genug abzusetzen; die zentrale Nummer 911 wurde erst nach dem Mord an Kitty Genovese eingerichtet). Auch zeigt der Roman, dass Verkehrungen der Tatsachen mitunter länger im kollektiven Gedächtnis bleiben als deren wahrer Kern.


    Der Franzose Didier Decoin ist Jahrgang 1945 und hat 1977 den Prix Goncourt für einen Roman namens „John l’enfer“ („Das Fenster zur Hölle“) erhalten, der ebenfalls in New York spielt. Er kommt aus dem Journalismus und hat neben Romanen auch Drehbücher geschrieben.

    Ein Mann erschrickt über sich selbst, als er bemerkt, dass seine Kinder ihn fürchten. Er hat sie nie geschlagen, aber so, wie sie ihm begegnen, mit einer übergroßen Vorsicht, muss er der Tatsache ins Gesicht sehen: Seine Kinder wissen um den Zorn, der tief in ihm steckt und der jederzeit und immer wieder ausbrechen kann. Also begibt sich der Mann auf die Suche nach der Ursache dieser Eigenschaft. Er vermutet sie in der Person eines seiner Großväter.


    Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Generationen einer Familie sich „verpassen“ würden. Der Autor des Romans „Verbrenn all meine Briefe“ hat in diesem Werk das Kunststück geschafft, sich über die natürlichen Grenzen der Zeit hinwegzusetzen. So erzählt er nicht nur von der Gegenwart, in der sich Konflikte zwischen ihm und seinen Kindern auftun, sondern geht auch zurück in seine eigene Kindheit - und in eine Zeit vor seiner Geburt, in die ersten Jahre der Beziehung zwischen seinen Großeltern Anfang der 1930-er Jahre. So begegnet man dem alt gewordenen Paar genauso wie dem jungen. Diese verschiedenen Zeitebenen greifen ineinander und enthüllen Stück für Stück eine große Tragödie zwischen drei Menschen, einer Frau zwischen zwei Männern. Der Enkel ist der „allwissende Leser“, der weiß, wie „die Geschichte“ ausgeht, aber der im Nachhinein immer mehr Details vom „Davor“ herausfindet.


    Wie er diese Dinge überhaupt herausfinden kann, liegt an den Berufen der beteiligten Männer. Beide waren berühmte Schriftsteller. Beide haben, verklausuliert, immer wieder über ihre Beziehungen geschrieben. Für den einen war es die große unerfüllte Liebe, für den anderen der große Verrat. Sämtliche überlieferten Papiere des einen werden in einem Archiv aufbewahrt. Wichtige Unterlagen des anderen erhält der Autor vom Sohn des Mannes, ebenfalls Schriftsteller. Und während das in einem gänzlich erfundenen Roman wahrscheinlich sehr konstruiert (und ein wenig einseitig) daherkommen würde (so viele Schriftsteller!), kann man das dem vorliegenden Roman kaum vorwerfen, denn, platt gesagt: Das Leben schreibt manchmal Geschichten, die man dramatischer nicht erfinden könnte!


    Alex Schulman ist der Enkel von Jens Stolpe. Seine Großmutter Karin war unglücklich verliebt in Olof Lagercrantz. Dessen Sohn wiederum ist David Lagercrantz, den man hierzulande zumindest von seinen Fortsetzungen der Romanreihe des leider früh verstorbenen Stig Larsson kennt.


    Und wenn das dem Roman auch „Credibility“ verschafft, hatte ich an einer Stelle doch herbe Probleme, nämlich da, als zum ersten Mal der Ehemann Jens Stolpe seine Frau Karin auf wirklich schäbige, ja, grausame Weise bloßstellt; und der Enkel tut es leider in seinem Roman dann ein weiteres Mal. Bloß mit dem entscheidenden Unterschied, dass seine Großmutter damit nicht mehr konfrontiert wird, da sie inzwischen verstorben ist. Das, und der Umstand, dass der Enkel seine Großmutter, anders als der Mann seine Frau, nicht demütigen will, macht es nicht gar so schlimm. Auf der anderen Seite könnte man sich schon fragen, wen Schriftsteller für ein gutes Buch oder auch nur eine packende Szene eigentlich nicht verkaufen würden.


    Ich habe das Buch gerne gelesen. Es hat was, diesem Paar als junge Leute und im Alter zu begegnen. Tatsächlich machen die verschiedenen Zeitebenen die Geschichte als Roman besser, als wenn nur die unglückliche Beziehung dieses einen Paares inkl. Liebe der Frau zu einem anderen Mann geschildert würde. Solche Geschichten gibt es schließlich viele. Eine, in der ein Enkel Teil der Story wird, habe ich hingegen noch nie gelesen.

    Da steckt viel Brauchbares drin, aber mit # 6 gehe ich nicht mit. Wenn man schon auf Biegen und Brechen Synonyme suchen will, um Wortwiederholungen auszuschließen, sollte man daran sehr vorsichtig herangehen, meine ich. Manches vorgebliche Synonym verfehlt das, was gemeint ist.

    Was ich meine:

    „Hund“ - neutral

    „Köter“ - abwertend

    „Des Menschen bester Freund“ - überhöhend

    „Vierbeiner“ - ungenau

    Wer jetzt sagt, das versteht sich von selbst: Leider liest man immer wieder Texte, deren Verfasser offenbar dieser Regel unkritisch gefolgt sind und wo dann nichts Gutes bei rumgekommen ist.


    Ansonsten: Danke für den Beitrag!

    Ja, bis 2016.

    Was diesen Fall in gleich mehrfacher Hinsicht interessant macht.

    Vance hat seine Ansichten offenbar geändert. Legitim!
    - Wer kauft denn jetzt aber dieses Buch, wenn es eine überholte Einstellung transportiert? Mich würde das Buch gerade jetzt nicht mehr reizen. (Und ich mochte es.) Warum dann jemanden, der es ja zumindest anziehend finden muss (?), ein Buch des kandidierenden republikanischen Vize-Präsidenten zu lesen, wenn er sich doch sonst/bislang nicht dafür interessiert hat?

    - Was mag da noch kommen? Ein neues Buch mit einer griffigen Erklärung, wie der Sinneswandel zu erklären ist?

    - Wieviele Exemplare mag Ullstein zuletzt noch verkauft haben (oder ist es so, dass zeitlich kein Effekt erkennbar war)?

    - Wie stark wiegt der Effekt, dass es ein anderer Verlag sein musste - was man ja auch „verdächtig“ finden könnte - auf den Verkaufserfolg?

    Fragen über Fragen …