Beiträge von Petra

    Hallo Silke,


    ich habe das nachträgliche Erzählen nicht als nachteilig empfunden. Da die Erzählerin in „Bleib“ in eine psychische Ausnahmesituation gerät, später raucht sie noch Gras, wäre hier ein direktes Erzählen wahrscheinlich viel zu konstruiert gewesen.

    Bei zwei Perspektiven würde ich Dir wahrscheinlich folgen, bei einer einzigen bin ich dem Aufbau der Romane gern gefolgt.

    Die folgenden Überlegungen befassen sich mit zwei neueren Briefromanen: „Bleib“ (2024) der Französin Adeline Dieudonné und „Dieser Beitrag wurde entfernt“ (2022) der Niederländerin Hanna Bervoets.

    Mich hat die Form der Romane mehr beschäftigt als der Inhalt (was nichts über die Qualität der Romane aussagt), deshalb habe ich keine Rezensionen verfasst.


    Was den Begriff „Briefroman“ angeht, hatte ich bisher nur eine vage Vorstellung: zwei Personen schreiben sich - literarisiert - Briefe, in der Regel abwechselnd. Damit ergeben sich automatisch zwei Perspektiven/zwei Erzählstimmen (Multiperspektive). Wahrscheinlich sind die beiden Personen in entscheidenden Punkten unterschiedlicher Meinung - wäre es anders und beide würden sich ständig nur zustimmen, gäbe es keinen Konflikt und mithin machte sich beim Leser wahrscheinlich schnell Langeweile breit. In der Regel sind die Briefe chronologisch geordnet.


    Das ist aber nur eine Möglichkeit. Tatsächlich gibt es auch Briefromane mit nur einem Erzähler (Monoperspektive). Entweder antwortet der Briefschreiber auf (fiktive) Briefe, die aber nicht Teil des Romans sind oder es erfolgt von vornherein eine einseitige Ansprache.

    Auch, was die Zahl der Briefe angeht, gibt es kein Minimum. (Damit wäre so ein Brief dann natürlich u. U. sehr lang! Natürlich ist es aber ja kein Brief - auch ein Briefroman bleibt ein Roman.)


    Stellt sich die Frage:

    Gibt es dann überhaupt Unterschiede?

    Was hat die Autorinnen dieser Romane veranlasst, ihre Protagonistinnen Briefe schreiben zu lassen?

    Hat die Briefform Vorteile gegenüber einer Ich-Erzählerin, die keine Briefe schreibt?


    Ein Unterschied zum Roman, der von einem „Ich“, aber nicht in Briefform erzählt wird, ist die direkte Ansprache des fiktionalen Lesers: des Briefempfängers. In den beiden genannten Romanen ist das jeweils eine Person, die die Briefschreiberin nicht persönlich kennt und die folglich gesiezt wird. Dies erfolgt nicht ständig, aber mehr als einmal.

    Trotzdem also nicht der Leser gemeint ist, passiert etwas, wie wenn im Theater die vierte Wand durchbrochen wird. Der Leser wird erinnert: Dies ist eine subjektive Geschichte. Jemand (die Ich-Erzählerin) hat diese Geschichte nicht nur erlebt, sondern auch bereits aufgeschrieben.

    Dadurch entsteht eine gewisse Distanz zum Stoff, aber nicht notwendigerweise zum Erzähler. Protagonist/-in und Leser/-in sind einerseits stärker voneinander getrennt. Andererseits wird man quasi stellvertretend zum Empfänger einer vertraulichen Informationen. Man „versinkt“ aber kaum je oder nur vorübergehend in der Handlung.

    (In den beiden geschilderte Fällen möglicherweise, weil die beschriebenen Sujets (siehe unten) ohnehin keine Identifikation zulassen?)


    Die Haupthandlung entwickelt sich nicht fortwährend, sondern ist (in einem Fall komplett, im anderen zweigeteilt) bereits abgeschlossen. Das Geschehen wird im Rückblick erzählt. Hierdurch sind reflektierende Gedanken möglich, wie auch Rückgriffe auf Dinge, die sich vor Einsetzen der Haupthandlung zugetragen haben.

    Es wäre wenig glaubhaft, von einem höchst dramatischen Geschehen, während es passiert, abzuschweifen. Genau das ist aber möglich, wenn das Geschehen abgeschlossen ist und darüber nachgedacht wird. Der Brief ist also auch eine Form der Verarbeitung durch den Schreiber (wobei der Schreiber nicht mit dem Autor verwechselt werden darf).


    In den beiden genannten Romanen gibt es nur jeweils eine Erzählperspektive. Es werden keine Briefe ausgetauscht. Nur eine Person legt einer anderen ihre Sicht der Dinge dar. Der Empfänger/die Empfängerin der Briefe bleibt stumm. Was man über diese Personen erfährt, erfährt man von der (in beiden Fällen) Briefeschreiberin, also aus deren Sicht. Das Gesagte kann, muss aber nicht zutreffen, gerade auch, wenn Briefe an unbekannte Personen gerichtet werden.


    In „Bleib“ werden zwei Briefe geschrieben. Einer unmittelbar nach dem auslösenden Ereignis, einer drei Monate später.

    In „Dieser Beitrag wurde gelöscht“ ist es nur ein einziger Brief.


    Empfängerin der Briefe in „Bleib“ ist die Ehefrau eines Mannes, der während eines Urlaubs mit seiner Geliebten verstirbt.

    Briefeschreiberin ist die Geliebte, die nicht (wie man erwarten sollte, was aber nur bedingt, allenfalls ein Auftakt zu einer Geschichte wäre) tut, was man so tut (Arzt, Polizei verständigen), sondern sich auf eine insgesamt dreitägige „Reise“ mit dem Leichnam macht.

    Empfänger der Briefe in „Dieser Beitrag wurde gelöscht“ ist ein Rechtsanwalt, der eine Sammelklage von Mitarbeitenden einer Firma vorbereitet, deren Aufgabe es war, verstörenden Content im Internet zu löschen.

    Briefeschreiberin ist eine ehemalige Mitarbeiterin.


    Auch wenn die genannten Romane unbekannt sein sollten: Wann ergibt die Form eines Briefromans Sinn? Wenn sie sich aufdrängen sollte: die Form ist trotzdem selten. Was also macht einen Stoff für einen Briefroman geeignet?


    PS: Ich hole hiermit einen Thread von 2010 nach oben, der sich auch mit Briefromanen befasst. Mehrfach geäußerte Meinung: Die Form des Briefromans taugt allenfalls noch für historische Stoffe.

    Das ist bei diesen beiden Romanen absolut nicht der Fall! Beide „trauen sich was“, der eine greift sogar ein hochaktuelles Thema auf.

    Entweder, die damals geäußerte Meinung traf damals schon nicht zu - z. B., weil man es mit der Form strenger nahm als eigentlich nötig - oder da hat sich was getan in den letzten Jahren. Auch möglich, dass man sich an die Form des Romans gar nicht erinnert, wenn der Roman an sich gut erzählt ist. Dass „Wir müssen über Kevin reden“ von Lionel Shriver ein Briefroman ist, hätte ich heute z. B. nicht mehr gewusst.

    Ein Sachbuch ist ein Sachbuch, eine Autobiografie ist eine Autobiografie, ein Roman ist ein Roman: Das gilt, wenn es überhaupt je allgemeingültig war, schon lange nicht mehr. Sachbücher werden mitunter so mitreißend erzählt, dass man sich teils in einem Roman wähnen kann. Manchmal (nicht hier) steht „Roman“ auf einem Cover, und man fragt sich, warum. Autobiografien sind ohnehin nie 1 : 1 Abbild von dem, was tatsächlich war, sondern gefärbt durch den Blick des Verfassers. Sie werden erzählerischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, es wird gestrafft, gerafft, umgestellt, maskiert, geschönt, weggelassen, übertrieben. In Romanen hat der Protagonist mitunter den Namen des Verfassers. Es ist daher nicht immer ganz einfach einzuordnen, womit ein Leser es eigentlich zu tun bekommt.


    Arno Geigers - in Ermangelung eines anderen Wortes - Buch „Das glückliche Geheimnis“ fällt wahrscheinlich in diese Kategorie des schwer Bestimmbaren. Es erzählt von Geigers Leben und seinem Werk, seinen Beziehungen zu Frauen und zu den Eltern, dem Altern und dem Sterben, seinen Romanen (!), dem Literaturbetrieb; wie es ist, von einem Niemand durch den ihm zuerkannten Deutschen Buchpreis zu plötzlicher Bekanntheit zu gelangen - und von seinen „Fangzügen“ zu Altpapiertonnen, immer auf der Suche nach (für ihn) Werthaltigem. Bücher, die er auf Flohmärkten verkaufte, meist Massentaugliches, aber ab und an waren auch Kostbarkeiten dabei, die sich als Antiquitäten erwiesen, gerade noch vor dem Zugriff durch die Müllabfuhr bewahrt. Und er findet persönliche Dokumente: Briefe und Tagebücher. Die Altpapiertonne ist „Filiale des Friedhofs“, enthält von jenen Weggeworfenes, die die Wohnung, das Haus leer räumen, nachdem jemand gestorben ist. Wer sich im Leben von alten Liebesbriefen trennt, hat zumindest die Beziehung zu Grabe getragen. Geiger begann damit als Unbekannter und führte es - in einer Art Doppelleben: Literat und Müllsammler - fort. Einmal fand er einen Roman von sich, ein schiefgelesenes Taschenbuch. (Immerhin schiefgelesen! Ungelesen weggeworfen wäre wahrscheinlich schlimmer gewesen, vermute ich.)

    Einer, der schlecht Dinge wegwerfen kann, ist Geiger dafür nicht: Im Gegenteil, hebt er hervor, wie wichtig es ist, sich auch von Dingen zu trennen.

    Geiger schreibt über Dinge, über die die Zeit hinweggeht, und er schreibt über Alter und Krankheit - weil es nicht nur Dinge sind, über die die Zeit hinweggeht. Er schreibt übers Schlittenfahren, während der Vater dement im Pflegeheim und die Mutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus in ihren Rollstühlen sitzen. Über Vergänglichkeit von anderen und der eigenen. Wenn er einen Bogen von den Buchstaben zieht, die seine Mutter mit Kreide auf die Tafel schrieb, um ihn das Lesen zu lehren, hin zu ihm, dem Sohn, der die Wörter, die seine altgewordene Mutter unvollständig schreibt, vervollständigt, dann sind das zwei alltägliche Dinge, aber in der Verbindung von beidem wird es zu in Form und Sprache gegossener Literatur.

    Geiger schreibt auch und gerade über das Leben als Schriftsteller. Seines und das anderer. Über Philip Roth. Über die Notwendigkeit, etwas sagen zu wollen. Darüber, was passiert, wenn Handwerk überhandnimmt. Über Schreibtische, die (meine unzureichende Wendung) zur Falle werden können. Über das Umgehen von Trampelpfaden. Über das Gift der Manier. Die Vergänglichkeit von Gedrucktem.


    Ich habe einige negative Stimmen zu dem Buch gelesen, wahrscheinlich mehr negative als positive: langweilig sei es, selbstverliebt - und dann diese Weibergeschichten! Tatsächlich hätte man da auch für mich etwas kürzen können, bloß: Mag da manchen Leserinnen nicht auch eigenes Unbehagen mit hineinspielen? Wenn es für Geiger ins Buch gehört, dann gehört es hinein. Geiger betont, dass das Leben vorm Werk komme. Und: dass seine Romane aus seinem Leben entstanden sind, auch die fiktiven. Dass seine Berührung mit Lebenszeugnissen von Nicht-Schriftstellern sein Schreiben auch beeinflusst habe, dass er es mitunter sogar dem perfekt Konstruierten der Literatur vorziehe. Was einem ungeschliffenen, weil nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen Brief oder Tagebuch fehle, mache das mitunter mit Authentizität wett.


    Ich habe „Das glückliche Geheimnis“ gerne gelesen, verstehe aber, wenn es bei manchen, gerade auch denen, die der schriftstellerische Aspekt nichts gibt, weil sie lieber das Resultat lesen, nicht über den Weg dahin, wie eine Art Nabelschau ankommt.

    Über das Schreiben geschrieben, jenseits von Regeln, die für Leute bestimmt sind, die selbst gern schreiben wollen, aber nicht wissen wie, haben viele: Ortheil, Herrndorf … Ortheil als Vielschreiber, als Verfechter des Alltäglichen. Und ja, wenn einem das zu viel ist, kann es einem vorkommen, wie etwas, wie einer, das/der sich selbst zu wichtig nimmt. Ich sehe das nicht so. Und auch die Uneindeutigkeit treibt mich nicht um.

    Man muss nicht mit allem, was Geiger schreibt, übereinstimmen - oder überhaupt. Man kann dem - natürlich - auch widersprechen. Das muss den Wert, den man aus einer Lektüre zieht, nicht schmälern.

    Es hilft vielleicht, sich zu fragen, ob man auch mal gerne ein Tagebuch oder ein Konvolut Briefe aus einem Altpapiercontainer ziehen würde. (Ich absolut.) Wenn nein, dann wird man mit „Das glückliche Geheimnis“ höchstwahrscheinlich auch nicht warm.

    Vielleicht ist das Buch ja das: Lebensnahes, literarisch bearbeitet, und demzufolge ein Zwischending, nicht nur, was die Buchgattung betrifft, sondern auch als Verschmelzung von Alltäglichem, das immer auch ein bisschen banal ist, und Literatur, die (im besten Fall) nicht nur Kunst ist, sondern der auch immer etwas Künstliches anhaftet. Das ist weit mehr als bloß über das Sammeln von Alltagszeugnissen zu schreiben.

    Am 13. März 1964 wird im New Yorker Stadtteil Queens die 30-jährige Catherine „Kitty“ Genovese überfallen, vergewaltigt und durch Messerstiche getötet. Der Täter, Winston Moseley, Büroangestellter, verheiratet, Vater zweier Kinder, kein Ersttäter, wird wenige Tage darauf festgenommen. Ein misstrauischer Nachbarn hatte die Polizei verständigt, der den schwarzen Mann dabei beobachtet hatte, wie der einen Fernseher aus einem Haus schaffte.

    Der traurige Fall erlangte wenig später Berühmtheit, mündete sogar in der Benennung als Genovese-Syndrom oder Bystander-Effekts, weil - angeblich - 38 Nachbarn Zeugen des Überfalls auf die junge Frau gewesen sein sollten und es fast alle nicht oder erst zu spät für nötig befunden haben sollten, die Polizei zu informieren oder gar der Frau direkt beizustehen.


    Warum? Aus Angst um die eigene Person? Weil keiner sich in eine vermutete Auseinandersetzung unter einander Bekannten einmischen wollte? Man darauf vertraute, dass bestimmt andere aktiv werden würden?


    Basierend auf diesem tatsächlich passierten Mord hat der französische Autor Didier Decoin den im Original 2009 (2011 auf deutsch) veröffentlichten Roman „Der Tod der Kitty Genovese“ geschrieben.

    Erzähler ist ein Mann, der seinerzeit mit seiner Frau im Haus gegenüber von Kitty Genovese gewohnt hat (später zieht er weg, und zwar in die Nähe eines guten Angelgewässers). Noch in Queens, schreibt er eigentlich einen Roman übers Angeln.

    Das gut situierte, intellektuelle Paar (sie ist Übersetzerin) war in der betreffenden Nacht nicht zu Hause, wird aber dennoch in den Fall hineingezogen, als sie der Journalist aufsucht, der Wochen später, als längst andere Themen die Gazetten bestimmen, den Artikel veröffentlichen wird, der die Gewalttat gegen Kitty Genovese erst richtig bekannt macht.


    Der Roman ist teils berichtend nüchtern erzählt, teils aber auch durchaus opulent, zum Beispiel da, wo in einem Satz über 10 Zeilen von Jack Kerouac die Rede ist, der im selben Viertel wie der Täter gewohnt und „unzählige Versionen von Unterwegs“ überarbeitet hatte. Kerouac hatte nichts mit dem Fall zu tun, es tut auch „eigentlich“ nichts zur Sache, wer er ist und woran er gearbeitet hat - und doch ist er Teil dieses Umfelds und der Zeit und bereichert das Setting dieses Romans (dem man zudem mit gut 150 Seiten nicht gerade den Vorwurf der Geschwätzigkeit machen kann).

    Ich hatte Schwierigkeiten, in den Roman hineinzukommen, weil er durch die nüchternen, zum Teil, wie es scheint, rein zitierenden Passagen auch nicht allzu gefällig aufgebaut ist. Als diese anfänglichen Schwierigkeiten mit der Montage aber erst einmal überwunden waren, habe ich den Roman gerne gelesen. Der Erzähler, auch wenn sein Interesse „eigentlich“ bei Fischen liegen mag, scheut sich nicht, in die handelnden Charaktere zu schlüpfen, einschließlich der des Opfers und des Täters. Das kann heikel sein, gelingt ihm (und damit Decoin) aber geradezu beklemmend gut.

    Eine Szene, die ich geradezu für ein Musterbeispiel von „Show don’t tell“ halte: Das Paar überlegt, ob sie Genovese vielleicht in einer Vorführung zweier Kurzfilme (Jean Genet und Andy Warhol) gesehen haben könnten, die sie letztendlich in Handschellen verlassen mussten, da diese Filme ihres Inhalts wegen ganz offensichtlich gegen herrschende Moral verstießen. Dieses und andere Details bewirken, dass man dem Roman sofort sowohl den Ort als auch die Zeit abnimmt: So muss es gewesen sein, das New York der 1960-er Jahre.

    Für einen Krimi halte ich den Roman nicht, geschweige denn ein nacherzähltes Stück True Crime. Er enthält allerdings Passagen, die gerade wegen der offenen, reflektierten, kaltblütigen Art des Täters und des Vermögens des Autors, aus seiner (angeblichen) Sicht zu erzählen, mitunter schwer erträglich sind.


    Heute weiß man: Kaum etwas ist vollständig so, wie es zunächst behauptet wird. (Dass der Täter ausgerechnet durch einen vermuteten Einbruch einem Nachbarn auffiel (wenn es um Eigentum geht, passt immer einer auf, wenn eine Frau um ihr Leben kämpft, eher nicht?!), ist ein Detail, das man einem Autor eines fiktiven Romans wahrscheinlich nicht abnehmen würde.) 38 Augenzeugen des Mordes an sich waren es nicht, wohl aber etliche Augen- und Ohrenzeugen des ersten Angriffs. Und davon verließen sich die meisten auf andere, die an ihrer Stelle handeln sollten (während andere Schwierigkeiten hatten, einen Notruf schnell genug abzusetzen; die zentrale Nummer 911 wurde erst nach dem Mord an Kitty Genovese eingerichtet). Auch zeigt der Roman, dass Verkehrungen der Tatsachen mitunter länger im kollektiven Gedächtnis bleiben als deren wahrer Kern.


    Der Franzose Didier Decoin ist Jahrgang 1945 und hat 1977 den Prix Goncourt für einen Roman namens „John l’enfer“ („Das Fenster zur Hölle“) erhalten, der ebenfalls in New York spielt. Er kommt aus dem Journalismus und hat neben Romanen auch Drehbücher geschrieben.

    Ein Mann erschrickt über sich selbst, als er bemerkt, dass seine Kinder ihn fürchten. Er hat sie nie geschlagen, aber so, wie sie ihm begegnen, mit einer übergroßen Vorsicht, muss er der Tatsache ins Gesicht sehen: Seine Kinder wissen um den Zorn, der tief in ihm steckt und der jederzeit und immer wieder ausbrechen kann. Also begibt sich der Mann auf die Suche nach der Ursache dieser Eigenschaft. Er vermutet sie in der Person eines seiner Großväter.


    Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Generationen einer Familie sich „verpassen“ würden. Der Autor des Romans „Verbrenn all meine Briefe“ hat in diesem Werk das Kunststück geschafft, sich über die natürlichen Grenzen der Zeit hinwegzusetzen. So erzählt er nicht nur von der Gegenwart, in der sich Konflikte zwischen ihm und seinen Kindern auftun, sondern geht auch zurück in seine eigene Kindheit - und in eine Zeit vor seiner Geburt, in die ersten Jahre der Beziehung zwischen seinen Großeltern Anfang der 1930-er Jahre. So begegnet man dem alt gewordenen Paar genauso wie dem jungen. Diese verschiedenen Zeitebenen greifen ineinander und enthüllen Stück für Stück eine große Tragödie zwischen drei Menschen, einer Frau zwischen zwei Männern. Der Enkel ist der „allwissende Leser“, der weiß, wie „die Geschichte“ ausgeht, aber der im Nachhinein immer mehr Details vom „Davor“ herausfindet.


    Wie er diese Dinge überhaupt herausfinden kann, liegt an den Berufen der beteiligten Männer. Beide waren berühmte Schriftsteller. Beide haben, verklausuliert, immer wieder über ihre Beziehungen geschrieben. Für den einen war es die große unerfüllte Liebe, für den anderen der große Verrat. Sämtliche überlieferten Papiere des einen werden in einem Archiv aufbewahrt. Wichtige Unterlagen des anderen erhält der Autor vom Sohn des Mannes, ebenfalls Schriftsteller. Und während das in einem gänzlich erfundenen Roman wahrscheinlich sehr konstruiert (und ein wenig einseitig) daherkommen würde (so viele Schriftsteller!), kann man das dem vorliegenden Roman kaum vorwerfen, denn, platt gesagt: Das Leben schreibt manchmal Geschichten, die man dramatischer nicht erfinden könnte!


    Alex Schulman ist der Enkel von Jens Stolpe. Seine Großmutter Karin war unglücklich verliebt in Olof Lagercrantz. Dessen Sohn wiederum ist David Lagercrantz, den man hierzulande zumindest von seinen Fortsetzungen der Romanreihe des leider früh verstorbenen Stig Larsson kennt.


    Und wenn das dem Roman auch „Credibility“ verschafft, hatte ich an einer Stelle doch herbe Probleme, nämlich da, als zum ersten Mal der Ehemann Jens Stolpe seine Frau Karin auf wirklich schäbige, ja, grausame Weise bloßstellt; und der Enkel tut es leider in seinem Roman dann ein weiteres Mal. Bloß mit dem entscheidenden Unterschied, dass seine Großmutter damit nicht mehr konfrontiert wird, da sie inzwischen verstorben ist. Das, und der Umstand, dass der Enkel seine Großmutter, anders als der Mann seine Frau, nicht demütigen will, macht es nicht gar so schlimm. Auf der anderen Seite könnte man sich schon fragen, wen Schriftsteller für ein gutes Buch oder auch nur eine packende Szene eigentlich nicht verkaufen würden.


    Ich habe das Buch gerne gelesen. Es hat was, diesem Paar als junge Leute und im Alter zu begegnen. Tatsächlich machen die verschiedenen Zeitebenen die Geschichte als Roman besser, als wenn nur die unglückliche Beziehung dieses einen Paares inkl. Liebe der Frau zu einem anderen Mann geschildert würde. Solche Geschichten gibt es schließlich viele. Eine, in der ein Enkel Teil der Story wird, habe ich hingegen noch nie gelesen.

    Da steckt viel Brauchbares drin, aber mit # 6 gehe ich nicht mit. Wenn man schon auf Biegen und Brechen Synonyme suchen will, um Wortwiederholungen auszuschließen, sollte man daran sehr vorsichtig herangehen, meine ich. Manches vorgebliche Synonym verfehlt das, was gemeint ist.

    Was ich meine:

    „Hund“ - neutral

    „Köter“ - abwertend

    „Des Menschen bester Freund“ - überhöhend

    „Vierbeiner“ - ungenau

    Wer jetzt sagt, das versteht sich von selbst: Leider liest man immer wieder Texte, deren Verfasser offenbar dieser Regel unkritisch gefolgt sind und wo dann nichts Gutes bei rumgekommen ist.


    Ansonsten: Danke für den Beitrag!

    Ja, bis 2016.

    Was diesen Fall in gleich mehrfacher Hinsicht interessant macht.

    Vance hat seine Ansichten offenbar geändert. Legitim!
    - Wer kauft denn jetzt aber dieses Buch, wenn es eine überholte Einstellung transportiert? Mich würde das Buch gerade jetzt nicht mehr reizen. (Und ich mochte es.) Warum dann jemanden, der es ja zumindest anziehend finden muss (?), ein Buch des kandidierenden republikanischen Vize-Präsidenten zu lesen, wenn er sich doch sonst/bislang nicht dafür interessiert hat?

    - Was mag da noch kommen? Ein neues Buch mit einer griffigen Erklärung, wie der Sinneswandel zu erklären ist?

    - Wieviele Exemplare mag Ullstein zuletzt noch verkauft haben (oder ist es so, dass zeitlich kein Effekt erkennbar war)?

    - Wie stark wiegt der Effekt, dass es ein anderer Verlag sein musste - was man ja auch „verdächtig“ finden könnte - auf den Verkaufserfolg?

    Fragen über Fragen …


    Dass Bücher „gemacht“ werden, glaube ich unbesehen. Der Verlag, der „Feuchtgebiete“ ins Programm genommen hat, hat ja wahrscheinlich viel Geld damit verdient: Warum hat (ich glaube, es war) Kiepenheuer und Witsch (die einen Rückzieher gemacht haben) dann nicht genauso kalkulieren können - derselbe Verlag übrigens, der wahrscheinlich mittlerweile das Autorenporträt von Till Lindemann von der Wand genommen hat? Wie erfolgreich dessen Buch war, weiß ich nun nicht, aber ich glaube, es birgt ein Risiko, solche Titel zu verlegen, und letztendlich kann niemand wissen, ob man mit einem Roman/Gedichtband/whatever mit Skandalpotential Kasse macht oder fies auf die Nase fällt, über den wirtschaftlichen Verlust hinaus.


    Reiner Effekt? Sehe ich nicht so. Effekt, ja. Nur Effekt, nein. Da ist mehr als nur die unappetitliche Beschäftigung mit Körperflüssigkeiten, meine ich ????

    Ein Beispiel für einen der vielen Skandalromane, in dem Fall aus dem Jahr 2008: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche. Gewiss keine Weltliteratur, aber: ein durchschlagender Erfolg. Ich habe mir grade den Wikipedia-Artikel durchgelesen: Indizierung geprüft und abgelehnt, 30 Wochen an der Spitze der Charts, Auflage 2 Millionen, verfilmt, Bühnenstück … Roche hat damit lebenslang ausgesorgt und musste noch nicht mal erfolgreich nachlegen … Man mag zu dem Roman stehen wie man will (ich fand ihn gut - nein, nicht wegen der Details, über die sich am besten zu echauffieren war, sondern trotzdem): Das, was dieser Roman ausgelöst hat, ist schon eine herausragende Story, eine absolute Ausnahmeerscheinung. Ein Erfolg, der so gewiss nicht vorstellbar gewesen wäre, wenn man die Autorin, zurecht oder nicht, nicht mit ihrer Figur hätte gleichsetzen können. Das - die Person des Autors/der Autorin - machte in diesem Fall viel aus - was bei den im Eingangs-Post genannten Werken, auch denen aus jüngerer Zeit, überhaupt nicht wichtig war.


    Ist es dafür ein „gemachter Skandal“ gewesen? Ich glaube eher nicht; wer dieses Manuskript alles abgelehnt haben mag, kann nicht gewusst haben, dass es dermaßen erfolgreich sein würde. Kann man überhaupt Skandale in der Buchbranche provozieren? Man muss ja immer mit Ächtung, Namensverlust und wirtschaftlichem Verlust rechnen, die Tabubrüche im Schlepptau haben könnten, viel wahrscheinlicher als so ein Publikumserfolg, wenn Leute letztendlich Bücher kaufen, die sie möglicherweise dann nur querlesen, weil sie „Stellen“ suchen, über die gerade jeder spricht.

    Von den „Meisterwerken“ habe ich mich nach dem Ausgangs-Post gelöst - sonst hätte ich auch einige andere Beispiele nicht nennen dürfen ????

    Vielen Dank, Katla, für diesen Beitrag!


    Ich habe von Easton Ellis vor gefühlt hundert Jahren „Unter Null“ gelesen. Es hat mich nicht vom Hocker gerissen, aber das kann auch andere Gründe gehabt haben. Mangelnder Zugang durch fehlenden Hintergrund zum Beispiel. So ging es mir u. a. auch mit „On the Road“ von Jack Kerouac. Manche Bücher liest man und ist bei Weitem nicht reif genug dafür, andere erschließen sich einem auch nie. Obwohl ich es für gut halte, Dingen auf den Grund zu gehen, treibt mich das nun auch nicht um: Mit manchen Wissenslücken kann ich leben.


    Ich kenne keines der genannten Bücher und bin, wenn man das so sagen kann, sehr viel zahmer unterwegs ???? Ich habe Bücher im Regal, die ich nicht weiterlesen mochte, weil sie so explizit unterwegs waren. Hierbei spreche ich nicht von „Weltliteratur“, sondern von „Unterhaltungsliteratur“ (!), die tatsächlich eher nicht in den Verdacht gerät, Literatur zu sein. Richard Laymon ist ein Autor, den ich früher gelesen habe und auch lesen konnte, wenn das Thema der Phantastik zuzuordnen war (der Gore ist teils so überzogen, dass es tatsächlich ins Lächerliche driftet), nicht aber, wenn es um realistische Dinge ging. Sonst bestimmt kein Befürworter von Zensur, gibt es Romane, für deren Verbot ich tatsächlich, ja, Verständnis habe. Weil es nur um platte Vermittlung von Gewalt geht, Gewalt als Selbstzweck. - Natürlich könnte man hier auch sagen, ich habe Laymon nicht verstanden. Ok.


    Dabei fällt mir ein weiteres „skandalöses Buch“ ein: „Ein wenig Leben“ von Hanya Yanagihara. Hierauf halte ich große Stücke, obwohl es schwer erträglich ist. Nicht nur, weil es gut geschrieben ist (was auch immer das bedeuten mag), sondern weil ich der Meinung bin, dass man manche Themen (hier Kindesmissbrauch) nicht nur mit distanzierten Worten beschreiben darf, sondern mitunter drastisch sein muss.


    „Frau findet sexuelle Erfüllung außerhalb der Ehe/ihres Standes“ ist fast (wahrscheinlich nicht nur fast) ein Topos für sich. Mir fallen da spontan ein „Das Piano“ (Film von Jane Campion), „Ryans Tochter“ (Film von David Lean und, wie ich jetzt lese, eine lose Adaption von „Madame Bovary“), „Salz auf unserer Haut“ von Benoîte Groul, „Der lange heiße Sommer“ (Verfilmungen, die lose basieren auf Kurzgeschichten von William Faulkner) oder auch „Die Dornenvögel“. (Ich sage ja, zahm ????). Allerdings erschöpft sich dieses Thema (derzeit): Je liberaler eine Gesellschaft ist, kann das Skandalöse hieran nur noch im Rückgriff auf frühere Zeiten oder in Kombination mit auch heute noch bestehenden (oder wieder aufflammenden) Tabus entstehen.

    Es endet komplett anders als der Film.

    Den Film kenne ich bisher nicht, aber über das Buch heißt es in der Doku, dass Burgess seinen Lektoren überlassen habe, wie der Roman endet, daher hatte die englische Ausgabe ein anderes Ende als die amerikanische. Ein Lektor neigte zu einem versöhnlicheren Ende, der andere zum düstereren (der Unterschied lag im Weglassen eines Kapitels).

    In der arte-Mediathek sind aktuell Dokus abzurufen, die sich mit „Skandalromanen“ befassen, als da wären:

    • „Lolita“ von Vladimir Nabokov
    • „American Psycho“ von Bret Easton Ellis
    • „Clockwork Orange“ von Anthony Burgess
    • „Die Wohlgesinnten“ von Jonathan Littell
    • „Die Nonne“ von Denis Diderot
    • „Madame Bovary“ von Gustave Flaubert
    • „Die Kunst der Freude“ von Giliarda Sapienza


    Werke, mit denen ihre Autoren -


    bis auf eine Ausnahme männlich; „können“ Frauen keine Skandalromane? Doch können sie, mir fiele auf Anhieb zumindest noch Virginie Despentes ein … wer noch … Erica Jong? -


    Grenzen überschritten: der herrschenden Moral, des „guten Geschmacks“, Romane, die man (rückblickend) verkannte, fehlinterpretierte oder deren Verfasser man sogar in gewisser Weise akut fürchtete, weil sie womöglich subversives Gedankengut aufgeschrieben hatten, das sich tunlichst nicht verbreiten sollte.


    So wurde Diderots Geschichte einer Frau, die gegen ihren Willen in ein Kloster gesteckt wird, in Frankreich erst 1796 (davor in Deutschland), zwölf Jahre nach dem Tod des Autors, veröffentlicht, nachdem die Macht der Kirchen durch die Revolution (vorübergehend) ausgehebelt worden war. (Der Roman war damals übrigens einer von zwei Romanen überhaupt, der aus der Sicht einer Frau erzählt wurde.)


    Bret Easton Ellis ist einer der wenigen Autoren, die sich in einer anderen Zeit über eine andere Sicht auf ihr Werk erfreuen können; er kommt in der Doku am umfangreichsten, nicht nur im Rückblick persönlich zu Wort.


    Sexualität und Gewalt, verschärfend eine Kombination von beiden, scheinen demnach - wenig überraschend - am ehesten für einen Skandal getaugt zu haben/zu taugen. Diese Romane darauf zu reduzieren, wäre aber eine grobe Fehlinterpretation. Gewiss hat es viele, viele Romane gegeben, die diese Tabus gebrochen haben, die heute aber zurecht vergessen sind, weil sie darüber hinaus nichts zu bieten hatten: zum Beispiel berechtigte Gesellschaftskritik.


    Man kann sich leicht vertun, wenn man Romane, die man selbst nicht gelesen hat, nach ihrem Ruf beurteilt und demnach meidet: weil sie gewaltverherrlichend seien, zum Beispiel. Überbordende Gewalt ist bei mehreren der genannten Romane zweifellos vorhanden - bloß: Es hat diese Exzesse ja gegeben oder es gibt sie noch. In der Folge über Littell sagt ein Historiker, dass seine Zunft, die Wissenschaft, gewisse Aspekte des Holocaust nicht derart deutlich habe beschreiben können.


    „American Psycho“ müsste ich noch irgendwo haben; demnächst mache ich vielleicht einen zweiten Anlauf, den Roman zu lesen. Und auch auf die anderen Werke bin ich zumindest neugierig geworden.

    Von „Abschiedsfarben“ heißt es, dass es „ein typisches Alterswerk“ sei.

    Was ist das, ein Alterswerk? Ein Werk, in das all das oder zumindest manches von dem einfließt, was dem Schöpfer im Leben bisher wichtig war? Ist so ein Werk genährt, befeuert, möglicherweise auch getrieben von seinen Erfahrungen? Ein Resümee? Ein Vermächtnis?


    Stellvertretend für die weiteren Erzählungen ein paar Zeilen zu den ersten drei Texten:

    „Künstliche Intelligenz“ erzählt in der Ich-Form von der lebenslangen Freundschaft zweier Mathematiker und Informatiker in der DDR, der allerdings ein großer Verrat innewohnt: Der Erzähler hat die Fluchtpläne des anderen an die Stasi verraten, woraufhin der zuerst ins Gefängnis gesperrt wurde und fortan (zu brillant, um ganz auf ihn zu verzichten) in zweiter Reihe wirkte - zugunsten des Freundes. Der Erzähler wähnt sein Geheimnis bis zum Tod des Freundes gewahrt, bis dessen Tochter Akteneinsicht beantragt.

    In „Picknick mit Anna“, berichtet der Ich-Erzähler vom Mord an einer 17-Jährigen, den er, ein älterer Mann, vom Fenster seiner Wohnung gegenüber beobachtet, aber weder einschreitet noch die Polizei verständigt.

    In „Geschwistermusik“ lernt ein junger Mann aus der Mittelschicht eine junge Frau aus reichem Haus kennen, die ihn mit ihrem querschnittsgelähmten Bruder bekannt macht. Enttäuscht, dass seine Liebe zu Susanne scheinbar nicht erwidert wird, gleichzeitig überfordert von der Rolle, die er für den Bruder spielen soll, flüchtet er sich in ein Auslandsschuljahr nach Amerika. Jahrzehnte später gibt es ein zufälliges Wiedersehen, das zur Offenbarung ihrer Beweggründe führt.


    So und ähnlich haben alle Erzählungen einen Twist in Richtung Rückschau, Lebenslügen, Entscheidungen oder auch begangene Fehler, die das Leben des Protagonisten in eine bestimmte Richtung gelenkt haben.

    Die Erzählungen in „Abschiedsfarben“ handeln, wollte ich es auf einen einzigen Nenner bringen, ja, offensichtlich, von Abschieden - unter Personen, auch vom Leben - aber mehr noch von Verstrickungen. Von gefühlsmäßigen Bindungen, die gekappt werden, von lebensverändernden Entscheidungen, die im Rückblick (länger oder kürzer während) enthüllt, betrachtet, (neu) bewertet werden. Es sind teils dramatische Blicke in die Vergangenheit, Konfrontationen mit verpassten Möglichkeiten, aus Gründen, die der Leser als falsch oder richtig oder irgend etwas dazwischen interpretieren kann, die er womöglich übertragen kann auf selbst erlebte Dinge. Schlink hat seine Erzählungen mit charakterlich tiefgründigen Personen bevölkert, und die Art, wie er von ihnen erzählt, wie er Vergangenheit und Gegenwart miteinander verflicht, ist gekonnt und eingängig. So sieht man sie förmlich vor sich, die Schülerin Susanne und Susanne mit offenen weißen Haaren in der Oper, und erkennt die alte Frau in der jungen wieder. Wiewohl man Geschichten als erfunden betrachten sollte, kann aber wohl niemand, der selbst schreibt, verhehlen, dass auch immer etwas oder sogar viel von eigenen Erfahrungen ins Schreiben miteinfließt. Ob oder eher wie weit das in dieser Sammlung passiert, ist die Frage. Es gibt sie auf jeden Fall, die autobiografischen Bezüge. Man muss das aber natürlich nicht offenbaren, den Leser nicht aufklären.


    Die Geschichten sind nicht alle gleich gut - oder wahrscheinlich sollte ich sagen, sie haben mir nicht alle gleich gut gefallen. Zuletzt gingen mir ein paar betuliche Formulierungen auf die Nerven wie auch der berichtende Stil allgemein. Da wird nur aufgezeigt, zusammengefasst, bewertet, hin und her gewendet - tatsächlich passieren tut mitunter lange nichts. Es sind Resümees, auch mal ein Räsonieren, es plätschert manchmal etwas dahin (besonders wahrscheinlich wenn man das vom Autor selbst eingelesene Hörbuch gewählt hat) in einer Sprache, die Bildung im Kreuz hat, aber gleichzeitig auch etwas blutleer daherkommt - gewählt, höflich, distanziert, sehr gefasst. Mag sein, das bringt das Alter mit sich: Die entscheidenden Dinge sind in der Vergangenheit, in der Jugend passiert. Auch ein zorniger Blick zurück verspräche keine Änderung. Und ja, womöglich denken und sprechen akademisch gebildete Männer um die Siebzig so. Man muss das mögen. Mir wurde es gegen Ende zuviel.


    ASIN/ISBN: 3257246439

    Die achtzehnjährige Mary Katherine Blackwood, genannt Merricat, lebt mit ihrer älteren Schwester Constance und ihrem Onkel Julian, der im Rollstuhl sitzt, in einem herrschaftlichen Haus in Vermont. Nach einer Familientragödie, durch die vor sechs Jahren die Eltern der Schwestern, ihr jüngerer Bruder und die Tante umkamen, nach einem Prozess, in dem man Constance einen Giftmord an ihrer Familie nicht nachweisen konnte, leben die Drei ein zurückgezogenes, geradezu einsiedlerisches Leben. Allein Merrycat verlässt das Grundstück für den wöchentlichen Einkauf. Damit begibt sie sich jedesmal auf einen Spießrutenlauf, denn die Dorfbewohner verspotten sie, Erwachsene wie Kinder. Regelmäßig bekommen sie Besuch von einer alten Freundin der Mutter, aber selbst diese verhält sich ambivalent, indem sie zum Beispiel klar sensationslüsterne Freundinnen mit in das Haus der geächteten Blackwoods schleust. Dabei tut Merrycat alles, um sich und die ihren abzuschotten: Sie kontrolliert nicht nur regelmäßig den Zaun, der das Grundstück umschließt, sondern betreibt allerhand Abwehrzauber. Der Onkel schreibt an seinen Memoiren, die Schwestern halten das Haus in all seinem verschwenderischen Überfluss in einer festen Routine peinlich sauber. Constance kocht mit Leidenschaft und kümmert sich um ihren Garten. Es ist ein immer gleicher, aber auch irgendwie idyllisch anmutender Alltag, unter dessen Oberfläche der Abgrund gähnt: Die „überlebenden“ Blackwoods leben - im übertragenen Sinne - mit den Gespenstern ihrer toten Verwandten und verschanzen sich vor Dämonen, die außerhalb ihres Grundstücks darauf lauern, ihnen etwas anzutun.

    Eines Tages wird ihr Leben durch einen Cousin gestört, der sich zunehmend aggressiv bei ihnen einnistet. Constance, die mittlerweile daran zweifelt, dass ihr abgeschiedenes Leben richtig sein kann, zeigt sich aufgeschlossen gegenüber Charles. Merrycat hingegen versucht in einer kindlich-hilflosen Art alles, um ihn zu vertreiben.

    Schließlich kulminieren die Geschehnisse in einem furiosen Akt der Zerstörung.

    Hier beende ich die Zusammenfassung der Handlung, der Roman endet hier nicht.


    Erzählt wird der Roman aus der Perspektive der Ich-Erzählerin Merrycat. Ihre Sicht auf die Welt ist geprägt von Feindseligkeiten der Außenwelt gegen ihre Familie. Ihre Familie, die wahrscheinlich - Einzelheiten bleiben dem Leser vage - ja selbst nie ein sicherer Ort war, ist geschrumpft auf den Onkel und die geliebte Schwester, die sie, aus der untypischen Rolle der jüngeren Schwester heraus, vor der bösartigen Welt außerhalb ihres Anwesens beschützen möchte.

    Es wird nicht oft klar, dass der Roman (wahrscheinlich) in den 1960-er Jahren spielt, denn es gibt wenige zeittypische Anker im Text. „Modernes“ - Auto, Bus, Taschenlampe … - kommt meistens im Außen vor. Im Haus und darum herum gibt es vornehmlich ältere und nicht eindeutig zu datierende Dinge. Die Schwestern und der Onkel leben mit Gegenständen, die Generationen von Blackwood-Frauen angeschafft haben, mit selbstgezogenem Gemüse und dem Wald, der das Haus umgibt. Das, und die Sprache der Merrycat, welche oft jünger wirkt als sie ist, im Setting der 1960-er-Jahre aber auch tatsächlich noch nicht volljährig war, naiv und klar zugleich, geben dem Roman als solches über weite Strecken etwas Zeitloses.


    „Wir haben schon immer im Schloss gelebt“ gilt als der beste Roman von Shirley Jackson. Er wird dem Mystery-Genre zugerechnet, und dort der (als solches umstrittenen, nicht klar zu umreißenden) Gattung Slipstream. Damit bewegt er sich auf einer Grenze: Es ist kein phantastischer Roman, denn tatsächlich gibt es keine übernatürlichen Elemente. Dafür bedient er sich Methoden wie der eines unzuverlässigen Erzählers und Auslassungen. Die „phantastische“ Welt existiert alleine im Kopf der Ich-Erzählerin Merrycat, die an Magie glaubt und Abwehrzauber praktiziert, um die Realität von ihrer Schwester und sich fernzuhalten, die Realität, die für die eingeschworene Gemeinschaft der Schwestern (mit dem eher nur geduldeten, aber dennoch umsorgten Onkel) aus der tatsächlichen Feindseligkeit und Grausamkeit der Außenwelt, der Einwohner des Dorfes, besteht. Da ist der Zaun um das großzügige Anwesen, den der Vater gebaut hat, die Agoraphobie der Schwester, die zunehmende geistige Eintrübung und der körperliche Verfall des Onkels, das Gefühl der Abgeschiedenheit, aber auch ein großzügiges, vermeintlich sicheres Refugium. Merrycat sucht Halt und Heil in der von dieser erwiderten Liebe zu ihrer Schwester, der Verbundenheit mit Kater Jonas und im Glauben an Magie. Sie sind eine verschworene Gemeinschaft, die fest zueinander steht, obwohl (von innen betrachtet) den beiden „unschuldig“ Beteiligten klar sein muss, dass einer der beiden anderen der Mörder ihrer übrigen Familie ist. Das ist eine gewagte psychologische Konstellation, die eines Autors bedurfte, der dies tatsächlich glaubhaft vermitteln konnte. Oft liest man, der Roman sei in einer einfachen Sprache geschrieben: Dem stimme ich nicht zu. Vielmehr hat die Sprache der Merrycat oft etwas Klarsichtiges und Doppelbödiges. Shirley Jackson ist so ohne Einschränkung gelungen, eine zunächst unwahrscheinlich scheinende Geschichte glaubhaft zu erzählen.


    Würde man Shirley Jackson (1916 - 1965), die hauptsächlich durch Werke bekannt wurde, die im Grusel- und Horror-Genre angesiedelt sind („Spuk in Hill House“) mit dem Etikett einer Autorin von Spukromanen versehen, würde man sie damit deutlich unterschätzen. Andere ihrer Bücher befassen sich (autobiografisch und aus Zeitungskolumnen hervorgehend) mit Familie und Haushalt („Life among the Savages“, in der deutschen Übersetzung weit weg vom Original 1954 betitelt mit „Nicht von schlechten Eltern“, 2022 noch weiter weg mit „Krawall und Kekse“). Tatsächlich hat sie auch früh Topoi, launige wie düstere, behandelt, die sich in späteren Werken anderer Autoren, Filmschaffenden etc. wiederfinden. Wäre Jackson heute eine „Mama-Bloggerin“ und gleichzeitig Autorin besonders düsterer Romane, die Abgründe unter biederen Fassaden enthüllen? Wer weiß.

    Vor zwei Jahren gingen schon Artikel durch die Presse, die darauf hinwiesen, dass hier eine von weiten Kreisen unterschätzte Autorin wiederzuentdecken sei. Dem schließe ich mich an.