Beiträge von Christian J.

    Hallo, Christian.


    Ich habe nirgendwo erklärt, man müsse die Biografien irgendwelcher Leute kennen, um sich ihren Werken nähern zu können. Tatsächlich halte ich das für einen Fehler; Texte sollten für sich selbst sprechen und alleine funktionieren. Aber das ist auch nicht das, worüber ich hier gesprochen habe. ;)

    Na gut, dann muss ich wohl weiter auf eine Gelegenheit warten, dir zu widersprechen :P

    Denn ein Prosatext [...] ist nicht schöpferunabhängig. Niemals.

    Da möchte ich widersprechen.

    Zunächst ganz praktisch: Ich zumindest habe keine Ahnung, wer Scott Fitzgerald oder Gabriel Garcia Marquez waren, von den ganz basalen Eckdaten wie Staatsbürgerschaft und Jahrhundert einmal abgesehen. Insofern ist mein Erlebnis ihrer Werke schöpferunabhängig in diesem Sinne.


    Aber auch theoretisch: Was hat man Kafkas Texte nicht mit biografischen Erkundungen zugemüllt, und was ist das alles anderes als Boulevard fürs Bürgertum? Texte wie Der Proceß und Co. bedürfen keiner Kafka-Biografie, um zu überzeugen, und ihre Interpretation anhand einer solchen ist für mich immer nur Ausflucht, ein Hilfe-Suchen der Überforderten.

    Im Ergebnis produziert das ohnehin nur Binsenweisheiten: Kafka hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, oho, und er sah sich von den weltlichen Forderungen bedrängt, soso, und stellt euch vor, deshalb sind seine Texte von übermächtigen Autoritäten durchwirkt, mensch, was eine Erkenntnis. Hat dieser Autor doch tatsächlich Erlebtes in seinen Werken verarbeitet!!


    Das nur am Rande.

    Sich die Biografie eines Künstlers zu Gemüte zu führen ist ja auch nichts anderes als BILD-Zeitung lesen für Akademiker.


    Davon ab sind Verwandlung, Proceß und auch Der Verschollene durchaus voll von Slapstick (stummfilmartig), Komik und dergleichen, aber nur als Element möchte ich meinen, als Mittel, nicht als Grundton der Geschichten.

    Bei Verwandlung zeigt sich das schön: Samsa im Bett denkt als erstes daran, wie er den 5-Uhr-Zug noch erwischen könnte, das ist schon sehr komisch. Gleichzeitig ist es diese innere Ignoranz gegenüber der äußeren Katastrophe, aus der sich das Grauen und die Tragik speisen.


    Dennoch ein wichtiger Hinweis, allein schon weil es die Logik von Kafkas Leben = Kafkas Werk aufbricht.

    Und ist "wie er in meiner Vorstellung lebt" nicht auch "ein Bildnis machen"? ?!?

    Aber ich verstehe die Anmerkung. Für mich hat die Besetzung auch nicht funktioniert.

    :P

    ja, ich weiß aber nicht, ob das wirklich so sehr am Darsteller lag, oder mehr an der Entscheidung (seine? die des Regisseurs?), sich so gar nicht für irgendetwas zu entscheiden hehe, sondern die ganze Figur blank und blass zu lassen, vom Kichern einmal abgesehen. Also da war ja kein Funken von: So, das ist mein Kafka.

    Für mich entsprach der Darsteller nicht meiner Sicht von Kafka. Der Film interpretiert sehr viel in den Menschen Kafka hinein, das sich mir nicht erschließt. Ich möchte Kafka so behalten, wie er in meiner Vorstellung und durch seine Bücher lebt. Es heißt nicht umsonst "Du sollst dir kein Bildnis machen".

    Was ist denn deine Sicht auf Kafka?

    Wichtig zu wissen hierbei noch: basiert auf der dreiteiligen Kafka-Biografie von Reiner Stach, also der Kafka-Biografie (lesenswert). Dementsprechend sind auch die Dialoge sehr oft originalgetreu, entstammen also Briefen oder belegten Äußerungen aus den Tagebüchern (was den Kehlmann-Einfluss einschränkt Tom ).


    Hab drei Folgen intus und kann die Begeisterung nicht teilen, das Großartige daran sind eben die Kafka-Zitate. Visuell hat man für mein Empfinden keine Wege und Mittel gefunden, jedenfalls keine originellen. Mir fehlt jeglicher Eigensinn. Bemüht enthält man sich jeglicher Deutung, kann dabei aber aufgrund der Vorlage doch nicht anders, als die allerbanalste nahezulegen: Der Schlüssel zum Verständnis der Werke liegt in der Biografie des Künstlers.


    Dabei, das sagt auch Stach, würden wir Kafkas Texte doch auch lesen, wüssten wir nicht das Geringste über deren Verfasser. Nunja. Die Tage mal Orwells Prozess gucken.

    Ich würde den Film wirklich gern sehen, aber bei dreieinhalb Stunden stellen sich mir alle Haare auf !oo-)

    Oppenheimer fand ich trotz der beängstigenden drei Stunden wirklich kurzweilig, würdest du das über Killers of the Flower Moon auch sagen? Ich liebe DiCaprios Arbeit, aber ich habe leider die Aufmerksamkeitsspanne einer Eintagsfliege.

    Das ist auch meine Befürchtung, zumal Scorsese in den meisten Fällen nicht das richtige Maß findet und zu ausschweifend erzählt.

    So rein aus pragmatischer Sicht halte ich es für die wichtigste Aufgabe des Deutschunterrichts (mittlerweile?), den Kindern und Jugendlichen überhaupt die Freude am Lesen zu vermitteln, sie also zum Lesen zu bringen und ihnen damit eine Welt zu eröffnen und eine Kulturtechnik an die Hand zu geben, die sie vielleicht nicht mehr unmittelbar und selbstverständlich besitzen.


    Aus dieser Sicht würde ich dann Qualität & Vermarktbarkeit (an den Mann / die Frau-Bringbarkeit) an erste Stelle setzen und gerade nicht mehr einen Kanon, der sich, wie Tom ausgeführt hat, in erster Linie der Geistesgeschichte verpflichtet fühlt.

    Hieße für mich:


    - Götz von Berlichingen (überhaupt: 80 % aller Dramen, ich bitte euch), Kohlhaas usw. streichen

    - Faust, Proceß, Werther (vermarktbar wie Sau!), Wanderer kommst du nach Spa, Nachts schlafen die Ratten doch, Katz und Maus usw. beibehalten

    - ein Platz pro Schuljahr freihalten für das Lieblingsbuch der Lehrkraft, Stichwort An-den-Mann-bringen, das gelingt sicher besser, wenn die Lehrerin überzeugt ist, dass es sich um ein grandioses Werk handelt


    Das Ganze dürfte dann automatisch das richtige Maß Feminismus enthalten.

    Ob KI kreativ sein kann, und wenn ja, inwiefern, ist natürlich super spannend für uns Schreiberlinge.


    Die Quintessenz bzgl. ChatGPT lautet meiner Ansicht nach allerdings: Nein, kann sie nicht, denn Kreativität bedeutet, das Unwahrscheinliche zu kombinieren. ChatGPT arbeitet aber immer nur mit Wahrscheinlichkeiten. Kreativität ist in der Logik des Algorithmus also ein Fehler und wird daher von ihm nicht ausgespuckt.


    (ausführlicher in einem Artikel auf literaturcafe.de, den ich da kürzlich veröffentlicht hab)

    Ich habe kürzlich einen hinreißenden Absatz aus einem offenbar sehr klugen Buch gelesen, und ich muss unbedingt rausbekommen, welches und von wem das war, jedenfalls schrieb der Autor sinngemäß, dass Bücher, in denen es um „etwas“ geht, deren Inhalt man problemlos in wenigen Sätzen zusammenfassen kann, nach seinem Dafürhalten nichts wert, keine Kunst sind, weil, wenn es um „etwas“ geht, es um zu vieles nicht geht. Natürlich ist das extrem überspitzt und hat mit der Thematik hier nur am Rande zu tun, aber ich selbst habe auch regelmäßig Schwierigkeiten damit, wenn ich eine kurze Zusammenfassung liefern soll, weil die Geschichte, der Plot bei mir meistens eigentlich nur der Rahmen um viel mehr ist. Womit ich nicht sagen will, dass ich hohe Kunst mache und andere nicht, sondern dass es auch (möglicherweise sogar gute) Erzählungen gibt, deren Inhalt sich nicht auf einer Fahrstuhlreise wiedergeben lässt, weil das ihrem Inhalt nicht auch nur annähernd gerecht würde. Und an dieser Stelle habe ich großes Verständnis für Autoren und -innen, die vor dieser Aufgabe fast kapitulieren.

    Ich würde vielleicht ergänzen, dass wirklich große literarische Kunst beides leistet: sie lässt sich einerseits leicht als Plot zusammenfassen und ist andererseits so viel mehr als die eigentliche Handlung.

    Natürlich gibt es da Gegenbeispiele ("Mann ohne Eigenschaften" fällt mir spontan ein, obwohl man da vielleicht schon wieder diskutieren könnte :P), vielleicht ist es also keine notwendige, sondern nur eine hinreichende Bedingung.

    Aber "Der Herr der Ringe", "Der Proceß", "Ilias", "Moby Dick", "Herz der Finsternis" etc.: Die könnte man alle ohne Mühe mit einer simplen Log Line zusammenfassen und trotzdem wird keiner ihren künstlerischen Wert in Abrede stellen (ich behaupte: auch gerade deswegen).

    Volle Zustimmung, würde noch ergänzen, dass in solchen Fällen oft einfach die Distanz zum eigenen Stoff fehlt, also eben alles wichtig und schön erscheint, aber der Leser und dessen Bedürfnisse völlig außen vor bleiben.

    Schließe mich an, sehe auch eher ein Problem der Qualität im erzählerischen Sinne, denn der Aufteilung.

    Das ist natürlich einerseits anmaßend, kenn ich doch kein Wort deines Textes. Andererseits sagst du recht deutlich: eine Geschichte gibt es auf den ersten knapp 300 Seiten nicht.

    Hier begegnet mir immer wieder dasselbe Phänomen: Autoren wissen sehr viel über ihre Geschichte & Figuren, ihr Kopf droht daran zu zerplatzen. Und dann schreiben sie das auch alles auf. Meinen es gut. Aber erzählen keine Geschichte.


    Zu Der Herr der Ringe gibt es drei Zeitalter Vorgeschichte. Tolkien hat die auch ausgearbeitet. Aber in Der Herr der Ringe kommt die nicht vor, nur am Rande, als geschichtlicher Hintergrund.


    Vielleicht wäre das ein Weg.


    Alternativ: nicht stur chronologisch erzählen, sondern Zeitebenen abwechseln. Aber das klappt nur, wenn die Vorvergangenheit auch irgendwie eine Geschichte für sich ist.