Alles was aber der Darstellung durch andere Bedarf, auf dem Theater, durch ausführende Musiker etc., ist erst dann abgeschloissen, wenn diese zusätzliche Leistung hinzukommt.
Das bestreite ich auch gar nicht und gehe sogar so weit zu sagen, dass zum Beispiel jedes gelesene Buch durch die spezifische Rezeption jeder einzelnen Leserin und jedes einzelnen Lesers zu einem Unikat wird und erst dadurch abgeschlossen ist.
Aber ich habe ja geschrieben: „Insofern ist jedes Kunstwerk abgeschlossen“ und meine dies in Bezug auf die Eindeutigkeit, die dadurch gegeben ist, dass die schwarz auf weiß gedruckten Noten der Partitur und der Text eines Librettos so und nicht anders für jeden auf die gleiche Weise zu lesen sind. Und wenn da ein Fis steht, dann hat der Musiker auch ein Fis zu spielen und kein F oder G und dem Sänger auf der Bühne steht es auch nicht frei, statt „Wie eiskalt ist dies Händchen“ „Mädel, ich glaub’, du hast Covid zu singen.
Und es macht auch einen Unterschied, ob ich mich mit der Interpretation eines Vortragenden auseinandersetze oder mit der Interpretation einer vermittelnden Instanz wie zum Beispiel der eines Theaterregisseurs. Im ersten Fall ist mein Zugang zum Werk und der Interpretation des Vortragenden unmittelbar und mein Beifall oder mein Missfallen gelten ihm und niemandem sonst.
Vor Jahrzehnten hat mich die Musik von Gruppen wie Ekseption oder Emerson, Lake and Palmer begeistert, die sich hemmungslos an klassischer Musik bedienten und die das zumindest im Fall von Emerson, Lake and Palmer auf teilweise grandiose Weise getan haben. Und ich erinnere mich an die Aufführung einer Wagner-Oper, es war eine der Ring-Opern, Die Walküre, glaube ich, vielleicht war es auch Götterdämmerung, egal, eine für damalige Verhältnisse jedenfalls recht avantgardistische Neuinszenierung, die von einem Teil des Publikums mit Beifall aufgenommen und von einem anderen Teil mit Buhrufen quittiert wurde. Und schon damals haben mir die beteiligten Musiker sowie die Sängerinnen und Sänger leidgetan, die sich vier Stunden lang die Seele aus dem Leib gespielt und gesungen hatten und sich den verdienten Beifall abholten und gleichzeitig die Buhrufe anhören mussten, die aber einzig und allein der Inszenierung galten. Wer an jenem Abend nicht vor dem Vorhang erschien, war der Regisseur.
An diesem Beispiel wird für mich ein Teil des Problems deutlich. Der Einzige, dessen Funktion zur Not entbehrlich ist, ohne den die Aufführung eines Werks theoretisch dennoch möglich wäre, was bei einer Schallplattenaufnahme ja auch tatsächlich der Fall ist, ist derjenige, dem der größte Interpretationsspielraum zugestanden wird. Seine Machtfülle ist immens. Ihm stehen ein ganzes Ensemble von Sängerinnen und Sängern, 60, 70 oder noch mehr Musiker mitsamt Dirigenten, Bühnenbildner und Bühnenbauer etc. etc. zu Diensten, um seine und nur seine Sicht auf ein bereits geschaffenes Werk zu präsentieren. Die Mehrzahl der Theaterregisseure ist sich der damit einhergehenden Verantwortung vermutlich bewusst und versucht ihr gerecht zu werden. Die, über die wir hier reden, sind aber die, die das erkennbar nicht tun. Solche Inszenierungen wirken auf mich so, als hätte jemand ein Gemälde fotografiert und das Foto hernach am Computer mit Photoshop verfremdet. Soll er meinetwegen. Verfremdung ist ein legitimes Stilmittel. Bedenklich wird die Sache an dem Punkt, an dem das ursprüngliche Werk beginnt hinter der vom Regisseur geschaffenen Interpretationsebene zu verschwinden oder er dieses Werk bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt.
Ich glaube, zwischen Werktreue und "Metaebene" gibt es eine Menge
Natürlich, Anja. Und ich habe auch kein Problem damit, wenn Romeo und Julia im New York der Fünfzigerjahre angesiedelt wird. Es gibt Stoffe, Themen und Settings, die sind so universal, dass sie problemlos immer und überall als solche wiedererkannt werden, egal wie exzentrisch die Wahl des Regisseurs in Bezug auf den Ort und die Zeit ist, in der er die Handlung eines Werks ansiedelt.
Aber manche Geschichten sind so komplex oder auch für eine bestimmte Epoche spezifisch, dass es schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, sie losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext zu erzählen, trotz der universalen Themen, die auch sie so wie jede Geschichte behandeln.
Die für mich einzige wirklich relevante Frage ist die, inwieweit das ursprüngliche Werk in einer Inszenierung sichtbar bleibt. Wenn ich das Gefühl habe, dass ein Regisseur ein Werk primär zur Staffage im Rahmen der Darstellung eigener Bilder und Assoziationen degradiert oder als Medium zur Verkündung irgendeiner Message missbraucht, hat er mich als Zuhörer und Zuschauer verloren.
Herzliche Grüße,
Jürgen