Beiträge von Juergen P.

    Ich habe mir mal gerade die Leseprobe gegönnt und muss sagen: Der Text ist schon beeindruckend :anbet

    Ich persönlich finde, dass in dem Text (Leseprobe) schon eine Menge mehr steckt als Selbstinszenierung. Ich weiß nicht, ob ich mir das ganze Buch antun werde (ganz schön anstrengend). Aber dennoch: Ja, es IST Literatur und nicht die schlechteste.

    Ich stimme dir ohne Einschränkung zu, auch der Tatsache, dass ich mir dennoch das ganze Buch vermutlich nicht antun werde. Aber in meinen Beiträgen in diesem Thread geht es mir auch nicht um dieses eine Buch, sondern ich habe Cora Stephans Text zum Anlass genommen, meine Verwunderung über die doch sehr unterschiedliche Wahrnehmung von Gruppen zu formulieren, deren Mitglieder regelmäßig Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden und stelle die Frage, warum diese Wahrnehmung und das damit korrelierende mediale Echo so unterschiedlich ausfällt.

    Schöner Nebeneffekt: Man wird auch noch ein besserer Mensch.

    Im Sinne welcher Definition? Oder vielmehr: Wessen Definition?

    Niemandem wird verboten, ganz profan hetero zu bleiben und einander in der Missionarsstellung zu poppen, bis einer schreit. Oder eine.

    Mist aber auch. Weil, ich hab immer geglaubt, hetero und Missionarsstellung wären Synonyme füreinander. Und jetzt deutest du an, dass auch Heteros ... :schmoll


    Es ist unmöglich, es allen recht zu machen, alle jederzeit zu berücksichtigen, zu nennen. Aber man kann es verlangen. Das ist immer zulässig.

    Darum geht es mir. Die Disparitäten zu benennen, die hinsichtlich der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit und der medialen Präsenz von Gruppen und Individuen bestehen, die allesamt Opfer von Diskriminierung werden. Ob jemand aufgrund schlimmsten Mobbings in den Suizid getrieben wird oder jemand wegen seiner Hautfarbe oder seiner geschlechtlichen Identität Opfer von Gewalt und Diskriminierung wird, spielt aus Sicht des Opfers zunächst einmal keine Rolle. Das tut es aber offensichtlich sehr wohl in der gesellschaftlichen Wahrnehmung und mehr noch hinsichtlich des medialen Echos, sobald es um die konkreten Anlässe von und die Gründe für Diskriminierung und Gewalt geht, so als würde unter diesem Aspekt eine Rangordnung der Diskriminierung existieren, so als könnte eine solche Rangordnung existieren. Und doch sind einige offensichtlich gleicher als gleich. Das kann es auch nicht sein. In der Tat.


    Wie oft wird zum Beispiel die unfassbare Gewalt gegen behinderte Frauen thematisiert? Die Gewalt gegen Frauen überhaupt, die mit 50,7% der Gesamtbevölkerung im Jahre 2020 immerhin die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland stellten, von denen im gleichen Jahr 139 Opfer eines Femizids wurden, mithin eine Frau jeden dritten Tag. In den Jahren 2015 bis 2018 waren es sogar mehr als eine Frau pro Tag, die nur aus dem einen Grund getötet wurde, weil sie eine Frau war. Und ich rede nur von Deutschland, nicht von Lateinamerika und den Karibikinseln oder dem aktuellen Iran.


    Sendezeit und Redezeit sind begrenzte Ressourcen, desgleichen die Aufmerksamkeitsspannen der Zuschauerinnen, Zuschauer und Leser. Ich merke das ja auch an mir selbst, dass ich angesichts von Klimakatastrophe, Ukrainekrieg, Pandemie, Hunger, Folter und Vertreibung immer öfter in einen Zustand der Überforderung gerate, in dem ich mir mittlerweile ganz genau überlegen muss, wie viel Zeit und Energie ich einem bestimmten Irrsinn widmen kann und wie viel dann noch für alles andere und vor allen Dingen wie viel davon zuletzt noch für konkretes Handeln übrig bleibt.


    So wie mir geht es zweifellos vielen anderen Menschen und weil das so ist, halte ich es für gerechtfertigt, eine Art von Verhältnismäßigkeit anzumahnen, was die Aufmerksamkeit sowie die mediale Präsenz und die Gelegenheit zur (Selbst)Darstellung einer jeden Gruppe betrifft, die unverhältnismäßig oft Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt ist, und dass diese Verhältnismäßigkeit auch die Anzahl der Individuen spiegelt, die sich einer solchen Gruppe zugehörig fühlen.


    Herzliche Grüße


    Jürgen

    Ja. Menschen, die nonbinär oder trans oder vergleichbar unterwegs sind, ob nun tatsächlich oder nur behauptet, bekommen derzeit Aufmerksamkeit in einem Maß, das sicher für viele nicht leicht auszuhalten ist, und das fraglos in einem etwas bizarren Verhältnis zur Größenordnung des Phänomens steht.

    Ja, genau daran reibe auch ich mich.


    Jeder soll, wie er oder sie will, kann und muss. Wir leben im Jahr 2022 und da haben wir weiß Gott andere Probleme als uns auch weiterhin den Luxus erlauben zu können, Diskussionen von vorgestern Beachtung zu schenken, zum Beispiel der Diskussion darüber, wie viel Anderssein es denn nun sein darf. Alles darf! Nichts muss! Genau.

    Aber angesichts der medialen Omnipräsenz einiger Gruppen und ihrer Anliegen frage ich mich dann doch, ob die Aufmerksamkeit, die diese Gruppen beanspruchen und auch erhalten, nicht eher einer geschickten Lobbyarbeit und einer erstklassigen Vernetzung geschuldet sind als einer tatsächlich alle anderen Anliegen weit überragenden Dringlichkeit.


    Und wenn Cora Stephan schreibt Und das Buch? Ach ja, das Buch. Schwänze kommen drin vor. Und Sternchen! Und penetrierte Ärsche! dann rührt sie damit an einen Punkt, der auch mich schon seit langem beschäftigt. Woher kommt diese Fixierung auf Geschlechtliches und Sexuelles? Sind wir mehrheitlich in der Pubertät steckengeblieben? In unserer Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung zu eingeschränkt? Oder einfach nur zu faul, um uns mit der ganzen Komplexität des Menschseins und zwischenmenschlicher Beziehungen auseinanderzusetzen und beschränken uns deshalb auf das, was unmittelbar an der Oberfläche sichtbar ist oder auf dieser mit dem Hinweis Achtung: besonders wichtig! plakatiert wird: geschlechtliche Identität, Hautfarbe, Religion.

    Dabei wäre ich in diesem Punkt sehr einfach zu beruhigen: Der nächste Deutsche Buchpreis oder ein Preis vergleichbaren Kalibers geht an eine(n) bekennende(n) asexuelle(n), atheistische(n) Autor(in) mit Kartoffelhintergrund. Oder ohne Kartoffelhintergrund. Egal. :)


    Wer sein Besonderssein für so besonders besonders hält, dass er oder sie dieses Besonderssein für eine übergeordnete Qualität der eigenen Identität hält, grenzt sich ab, propagiert in einem Akt der Selbstüberhöhung das Primat des Unterschieds auf Kosten des Gemeinsamen. Das gilt im Besonderen für Künstlerinnen und Künstler, die ausschließlich oder überwiegend sich selbst zum Gegenstand ihres Schaffens machen. Nun denn ... An dem Punkt wäre es vielleicht hilfreich, einmal vom Spiegel wegzutreten und stattdessen aus dem Fenster zu schauen. Auf diese unsäglichen Inszenierungen und Selbstinszenierungen zu verzichten, und stattdessen wieder das Werk anstelle des Künstlers in den Fokus zu rücken. Sich immer wieder mal ins Gedächtnis zu rufen, dass sich die detailreiche Erinnerung an die Person eines Künstlers und das Mindesthaltbarkeitsdatum seiner Werke in der Regel gegenproportional zueinander verhalten.


    Standing Ovations. Dafür, dass jemand sich die Wolle vom Kopf schert. Grundgütiger!

    Worum ging es eigentlich nochmal? Ach ja, richtig. Um Literatur geht es. Der Deutsche Buchpreis.


    Aber vermutlich bin ich zu naiv. Oder einfach nur zu doof, um dieses Geschäftsmodell zu kapieren.

    Also. Morgen kommt der Lindner-Habeck-Dreitagebart ab.


    Herzliche Grüße


    Jürgen

    ... mir scheint, die Verfechter des Begriffs "kulturelle Aneignung" definieren ihn gerade mit mangelnder Wertschätzung.

    Danke für den Hinweis, Alexander. Für mich ist der Begriff nicht negativ besetzt, weil ich Wertschätzung als Voraussetzung für meinen Wunsch begreife, Elemente einer Kultur, die nicht meiner eigenen entstammen, in mein Leben und in meine Arbeit zu integrieren. Etwas anderes ergibt für mich keinen Sinn. Aber natürlich hast du recht. Die Mehrzahl der Beteiligten in solchen Diskussionen benutzt den Begriff "Kulturelle Aneignung" als Kampfbegriff. Das hätte ich bedenken sollen.

    Und natürlich hängt die Definition dieses Begriffes auch maßgeblich davon ab, ob ich Kultur als etwas Statisches begreife, infolgedessen jede Kultur messerscharf von jeder anderen Kultur zu unterscheiden wäre. Was nicht der Fall ist. Abgesehen von indigenen Völkern, die völlig abgeschottet vom Rest der Welt leben, ist der Austausch zwischen Kulturen, zumindest zwischen Handel treibenden Gesellschaften, seit jeher Normalität. Komplette Musikgenres wie zum Beispiel der Jazz in seiner ganzen Bandbreite würden ohne diesen Austausch nicht existieren, was schon mit den benutzten Instrumenten beginnt.


    Eine Kultur ist niemals "rein". Diskussionen darüber könnten angesichts der globalen Probleme sowie deren Dringlichkeit anachronistischer nicht sein. Die Polkappen werden auch weiterhin schmelzen, wie besessen Menschen russische, chinesische, amerikanische, englische oder welche Fähnchen auch immer schwenken mögen. Auch viele woke Aktivisten scheinen mir nicht frei zu sein von dieser Besessenheit, wenn sie sich der grundsätzlichen Wichtigkeit der von ihnen vertretenen Anliegen zum Trotz manchmal an Dingen abarbeiten, die ... ich will es mal sehr, sehr zurückhaltend ausdrücken ... nicht gerade zu den TopTen der aktuellen ToDo-Liste der Menschheit zählen, wie zum Beispiel diese Winnetou-Geschichte und regelmäßig auch noch in der Wahl ihrer Mittel und/oder deren Verhältnismäßigkeit danebengreifen. Hat sich irgendein Apache beim Ravensburger Verlag beschwert? Nicht, dass ich wüsste. So what?

    Ich bin optimistisch, was den Austausch der unterschiedlichen Auffassungen angeht. Ich glaube an Popper und die Offene Gesellschaft.

    Ich kämpfe mit dieser Aussage. Einerseits stimme ich zu, doch ein ums andere Mal bringt mein Verstand gewichtige Argumente vor, die dagegen sprechen.

    Und dennoch ... Optimist sein ... Ich glaube, wir haben da keine Wahl. Aber dann sollten wir schleunigst wieder damit anfangen, miteinander zu reden. Fragen zu stellen. Die Fragen anderer verstehen wollen. Ihre Argumente. Wenn nötig nachhaken. Antworten. Und zuallererst und mehr als alles andere dem anderen zuhören. Einer dem anderen. Aufrichtig darum bemüht sein, die Bedürfnisse des anderen zu verstehen. Sein Leiden. Seine Verletzungen. Seine Sorgen. Seine Ängste. Seine Befindlichkeit zu ergründen. Anders geht es nicht. Alles andere ist der sichere Weg ins Desaster, alles andere als sich auf einen Austausch einzulassen, der diesen Namen verdient, der also auch die ehrliche und permanente Überprüfung des eigenen Standpunkts einschließt.


    Herzlich Grüße,


    Jürgen

    Welcher Stoff würde euch mehr reizen:


    1. Die Lebensgeschichte eures Nachbarn und Grillbuddies Hans-Egon Müller, seit 48 Jahren verheiratet mit Annegret, geborene Becker, mit der er zwei wundervoll langweilige Kinder, den Frachtexpedienten Sven und die Parfümeriefachverkäuferin Nadine, großgezogen hat, und der jetzt nach 45 Jahren im Dienste der Landesfinanzverwaltung NRW in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet wurde.


    2. Die Geschichte eines Serienkillers, der als Frau verkleidet ausschließlich freitags und in den Toilettenräumen von Chinarestaurants überwiegend ältere Frauen mit den Vornamen Hildegard, Elke und Martina tötet und am Tatort stets eine weiße Chrysantheme hinterlässt.


    3. Die bewegenden Schicksale der Japanerin Keiko, die von Moussa aus Burkina Faso, Arvo aus Estland, Kala aus Indien, Jonas aus Köln-Sülz und Luana aus Brasilien, die in der Geschichte des Restaurants „No One’s Cuisine“ miteinander verschmelzen, einer Geschichte über sechs Menschen, die aus den unterschiedlichsten Gründen schon am Boden waren und sich wieder ins Leben zurückgekämpft haben, die über viele Missverständnisse und Konflikte schließlich zueinanderfinden und die gemeinsam ein Restaurant eröffnen, in dem sämtliche angebotenen Speisen mindestens eine Zutat von jedem Kontinent enthalten mit Ausnahme der Antarktis, und die das „No One’s Cuisine“ binnen kurzem zu einem Tempel der Crossover-Küche werden lassen - zwei anrührende Liebesgeschichten inklusive.


    Wir schreiben über das, was wir nicht sind. Über den anderen. Die anderen. Das Andere. Fremdartige. Über das uns Wesensfremde. Weil wir instinktiv wissen, dass sich nur zwischen dem Pol des Gekannten und Bekannten sowie jenem des Unbekannten das Kraftfeld aufbauen kann, in welchem im Aufeinandertreffen mit dem Andersartigen, dem Abweichenden, dem Nonkonformen jene Konstellationen und Dynamiken mitsamt der daraus resultierenden Konflikte und einer oftmals skurrilen Komik entstehen können, die eine Geschichte überhaupt erst erzählenswert und lesenswert machen. Darin besteht der Reiz des Fiktionalen, nicht in seinem Wahrheitsgehalt.


    Wir nehmen wahr und halten das, was wir für wahr nehmen, oftmals für die Wahrheit selbst, die sie aber niemals ist, die niemand kennt, weil wir kein Sinnesorgan dafür haben, um sie in ihrer Unteilbarkeit erfassen zu können. Es ist unsere eigene Perspektive, die wir mit keinem anderen Menschen teilen, die darüber entscheidet, was wir wahrnehmen und wie wir dies tun und das schließt unsere Selbstwahrnehmung mit ein. Unsere Wahrnehmung ist so richtig oder falsch wie die eines jeden anderen Menschen. Und in der Kunst im Besonderen geht es nie um richtig oder falsch. Jedes literarische Werk ist das Ergebnis der ganz persönlichen Auseinandersetzung einer Autorin oder eines Autors mit einem frei gewählten Stoff. Nicht mehr und nicht weniger. Insofern kann Kunst niemals ein perfekter Spiegel der Realität sein, selbst dort nicht, wo ein Künstler dies anstrebt. Aber zu meinem Verständnis künstlerischen Schaffens gehört auch eine Sorgfalt, die sich unter anderem darin äußert, so weit wie irgend möglich Stereotype und Klischees zu vermeiden, weil sie fast immer die Gefahr beinhalten, andere Menschen zu verletzen und herabzusetzen. Eine Ausnahme ist das bewusste Spielen mit Klischees, um diese aufzubrechen.


    Ob mir bei alldem aber Sensitivity Reader zu helfen vermögen, bezweifle ich hingegen sehr stark. Sie sind auch nur Menschen und keine unfehlbare Instanz, dürften also gleichfalls nicht vor Stereotypen und Klischees gefeit sein, positiven im Blick auf die Gruppen, denen sie selbst angehören oder nahestehen, und negativen gegenüber der sogenannten weißen Mehrheitsgesellschaft und dementsprechend ihre Wertungen Vorurteile mit umgekehrten Vorzeichen transportieren.


    Verstärkt wird meine Skepsis noch dadurch, dass sich in den Köpfen vieler Menschen Überzeugungen festgesetzt haben, die angesichts des Grades ihrer Verallgemeinerung bereits eine Diffamation darstellen:

    Weiß = Täter

    Nicht-Weiß = Opfer

    Von dieser Grundannahme ausgehend fächert sich das immer weiter auf:

    Weiß, männlich und heterosexuell = rassistisch, sexistisch, homophob

    Nicht-Weiß und/oder schwul/lesbisch und/oder trans = diskriminiert, edel, hilfreich und gut

    Differenzierungen finden aufgrund eines ideologischen Dogmatismus, der eine kritische Überprüfung eigener Positionen von vornherein als unzulässig erklärt, kaum noch statt. Stattdessen verfestigen sich diese pauschalisierenden Zuschreibungen zu Stereotypen und Vorurteilen, die ihrerseits rassistisch sind. Das trägt in der Praxis zu einer Diskreditierung der überwiegend berechtigten Anliegen bei und schafft ein Klima des wir gegen sie, das am allerwenigsten denen hilft, die tatsächlich Diskriminierung erfahren.


    Was mich aber mehr als alles andere pessimistisch stimmt, was die etwaige Überwindung des Grabens zwischen woken Aktivisten und den Verfechtern der künstlerischen Freiheit betrifft, ist das Kunstverständnis jener Aktivisten, falls es überhaupt ein Kunstverständnis zu nennen ist:

    Kunst hat eine dienende Funktion und ist als Lehrmittel im Sinne einer notwendigen Umerziehungskampagne zu begreifen.

    Was dabei noch an Literatur übrigbleiben wird: Autobiografien im Stil reportagenhafter Nacherzählungen und Betroffenheitsliteratur.


    Aber ist das noch Kunst?


    Zum Schluss möchte ich noch folgende Annahmen zur Diskussion stellen (vielleicht in einem eigenen Thread):

    1. Es gibt keine kulturelle Reinheit.

    2. Kultur ist dynamisch.

    3. Jede Kultur bedient sich der kulturellen Aneignung.

    4. Kulturelle Aneignung auf der Basis von Wertschätzung ist die Voraussetzung für das Schaffen und die Weiterentwicklung von Kunst.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Hallo Tom,


    Jetzt hast du mich trotz des Themas tatsächlich zum Lachen gebracht.:)


    Aber ganz im Ernst: Autorinnen und Autoren, die einen Sensitivity Reader an der Seitenlinie benötigen, um einen Mangel an Einfühlsamkeit zu kompensieren, dürften kaum in der Lage sein, eine lesenswerte Geschichte zu erzählen.


    Und apropos Mikroaggressionen und -diskriminierungen sowie all die versteckten little tiny Angriffe, die möglicherweise als rassistisch, misogyn, ableistisch, sexistisch usw. zu bewerten wären: existieren hierzu als allgemeingültig anerkannte Definitionen?

    Für Autorinnen und Autoren von unschätzbarem Nutzen wäre zum Beispiel ein umfassendes Nachschlagewerk ähnlich dem Pschyrembel in der Medizin.8)

    Linda: Es tut mir so leid für dich. Aber vielleicht ist es noch zu früh, die Flinte ins Korn zu werfen und es findet sich ein anderer Verlag, der etwas sturmfester ist als dein aktueller Verlag. Ich drücke dir die Daumen.

    Silke: Auch dir drücke ich die Daumen, dass die Meinung deiner Testleserin eine Einzelmeinung bleibt, die der Verlag nicht teilt. Aber ich gebe zu, bedrückend ist das alles schon.


    Damit ich das richtig verstehe:

    Sensitivity Reading bedeutet doch, dass ein(e) Angehörige(r) einer bestimmten Community, der ich selbst nicht angehöre, mein Manuskript im Hinblick auf eine in der Geschichte vorkommende Romanfigur begutachtet, die dieser Community zuzuordnen ist, und er oder sie hinter jede Beschreibung dieser Figur, hinter jede von dieser Figur vorgenommene Handlung sowie von ihr gesprochene Dialogzeile seinen Approved- oder Not Approved-Stempel setzt und der Verlag im Falle des Überwiegens Letzterer mein Manuskript ablehnen wird, wenn ich mich zögerlich zeige hinsichtlich einer entsprechenden Umarbeitung. Richtig?

    Aber warum geschieht das konsequenterweise oder mit der gleichen Rigorosität nicht auch im Falle der Romanfigur eines Rollstuhlfahrers oder einer alleinerziehenden Mutter auf Hartz IV, einer Magersüchtigen oder einem Menschen mit Tourette-Syndrom, deren spezifische Erfahrungen ich gleichfalls allesamt nicht aufgrund eigenen Erlebens teile?


    Nebenbei gefragt: Warum schaffen die Sensitivity Reader die Literatur, wie sie ihrer Meinung nach sein sollte, nicht gleich selbst? Auf etwaige Antworten bin ich gespannt. Ehrlich.


    Bei alldem ist auch ein gerüttelt Maß intellektueller Unaufrichtigkeit im Spiel. Die im Übrigen bereits mit der Ungeheuerlichkeit beginnt, dass Vertreter dieses neuen Jakobinertums dekretieren, wer sich überhaupt diskriminiert und marginalisiert fühlen darf und wer grundsätzlich privilegiert ist und wer dies ebenso grundsätzlich nicht ist. Die Diskriminierung mit Diskriminierung bekämpfen und die sich den Teufel um die Konsequenzen scheren, die aus ihrem Handeln folgen. Die sogar ihre in der Sache selbst oftmals nur vermeintlichen Gegner dämonisieren und dehumanisieren, so als befänden sie sich auf einem Kreuzzug gegen das Böse. Kreuzzug. Dieser Begriff kommt mir in diesem Zusammenhang des Öfteren in den Sinn. Schwarz oder weiß. Deus lo vult. Us or them.

    Und von all dem einmal abgesehen vermag ich auch nicht zu sehen, worin die Privilegien des Rollstuhlfahrers und der alleinerziehenden Mutter auf Hartz IV bestehen sollen verglichen mit denen des einer Migrantencommunity entstammenden studierten Soziologen oder der einer Theaterwissenschaftlerin aus dem gleichen Milieu.


    Das alles trägt mehr und mehr groteske Züge und wenn die Entwicklung in diesem Umfang weitergeht, bedeutet es zuletzt das Ende des fiktionalen Schreibens. Und ich verstehe nicht, warum die Verlage dabei so bereitwillig mitmachen, statt sich schützend vor ihre Autorinnen und Autoren zu stellen, und ohne Wenn und Aber deren Freiheit, die Freiheit der Kunst verteidigen, ohne die keine Autorin und kein Autor seine Werke schaffen könnte und die ja letztendlich überhaupt erst die Daseinsberechtigung der Verlage begründen.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    In dieser Diskussion wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass die Verlage deswegen sofort zurückzucken würden, sobald etwas Gegenwind aus der Ecke der Erwachten kommt, weil sie ansonsten Umsatzeinbußen riskieren. Frage: Gibt es dazu belastbare Zahlen? Und falls es solche Zahlen nicht gibt, könnte es dann nicht sein, dass es sich genau umgekehrt verhält, dass Menschen, die genug haben von dieser Zensur durch die Hintertür, diese Tatsache bei der nächsten anstehenden Kaufentscheidung berücksichtigen werden? Schaue ich mir die Zahlen von Umfragen zu diesen Themen an, würde es mich nicht überraschen, in Kürze zu lesen, dass sich Entscheidungen wie die von Ravensburger umsatzmäßig als Bumerang erwiesen hätten.


    Wobei sich mir sofort ein anderer Gedanke aufdrängt. Mich wundert immer wieder, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit von besorgten Bürgern angezeigter, weil in ihrem Verständnis unkoscherer Content in den Printmedien ebenso wie in digitalen Medien zu einem Thema hochgejazzt wird, neben dem der Klimawandel, die Kriege in Syrien und der Ukraine sowie das Hungern und Sterben im Jemen und am Horn von Afrika wie nebensächliche Faits divers erscheinen. Was also, wenn einige woke Ghostbuster nicht nur maximal Radau in den Medien machen, sondern Mitglieder derselben Blase bereits in immer größerer Zahl die Redaktionsstuben bevölkern? Dass Erstere also als Stichwortgeber fungieren, damit Letztere die gewünschten Reaktionen provozieren und gleichzeitig der Mehrheit unwoker Schlafschafe verklickern können, was sie gefälligst zu denken und zu meinen haben, und die zu schlechter Letzt die Kunst zum Schoßhündchen eines moralinaffinen neuen Spießbürgertums abzurichten versuchen.


    Ich vermische mit voller Absicht Termini der Aluhütefraktion mit solchen der moralisch Dauereregten, weil ich glaube, dass sich beide aus einer ähnlichen, wenn nicht gar identischen Persönlichkeitsstruktur speisen, die einen tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex vermittels eines elitären Absolutheitsanspruchs zu kompensieren versucht.


    Ich würde gerne über all das lachen, wenn es nicht so traurig wäre und, ehrlich gesagt, macht mir diese Entwicklung auch Angst. Aber dann, hin und wieder, frage ich mich, ob wir diese Leute vielleicht nicht doch zu ernst nehmen? Stattdessen ihrer Realsatire mit echter Satire begegnen sollten, auch und gerade, weil Satire seit geraumer Zeit eben wegen dieser Leute einen so schweren Stand hat. Spontan fallen mir ein paar Überschriften zu entsprechenden Texten ein:


    - Darf man das? Heute: Die Kunst der Aneignung

    - Summer Challenge – Kampf der Titanen: „Der Duden“ versus „Das Lexikon der Tabuwörter“ – Wer hat mehr Seiten?

    - Der Shitstorm: Eine unerschöpfliche Energiequelle für die Windmühlen der Kunst

    - Der Krieg der Knöpfe oder: Das Königreich der himmlischen Moral gegen die Hölle der künstlerischen Freiheit


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Soweit ich es sehe, geschehen solche Exzesse ja auch nur bei Stücken von Autoren, deren Urheberrecht bereits erloschen ist.

    Diese Einschätzung entspricht zweifellos der Realität, zumindest insoweit es die materiellen Aspekte einer solchen Aneignung berührt.


    Skandalumwitterte Inszenierungen sind keine „Erfindung“ der Neuzeit. Dennoch habe ich den Eindruck, dass sich seit dem Tannhäuser-“Skandal“ von 1861 etwas im Grundsätzlichen verändert hat, dass etwas ins Rutschen geraten ist, dass zuletzt, mit zuletzt meine ich die letzten 15 bis 20 Jahre, etliche Dämme gebrochen sind und sich viele Menschen jetzt ungeniert an dem von anderen Geschaffenen bedienen und damit verfahren als wär’s ihr Eigenes. Es ist nicht der einzige Grund, aber zweifellos hat zu dieser Entwicklung auch das Internet beigetragen. Mittlerweile ist es bereits die zweite Generation, die damit groß wird, dass alles immer und überall und, wenn man sich den Teufel um Legalität schert, noch dazu gratis verfügbar ist und dies auch zu sein hat.


    Für mich steht es außer Frage, dass diese Hemmungslosigkeit im Umgang mit von anderen geschaffener Kunst die Arbeit ihrer jeweiligen Urheber entwertet, was wiederum die Hemmungslosigkeit nur noch weiter steigert. Ein klassischer Circulus vitiosus. Zuletzt wird diese Selbstbedienungsmentalität als Gewohnheitsrecht ausgegeben.


    Aber unabhängig davon, ob querdenkende Verfassungsschützer die Freiheit gefährdet sehen, die sie anderen vorenthalten wollen oder „Erweckte“ mit dem Impetus religiöser Eiferer im Sinne einer sich selbst zugemessenen moralischen Autorität literarische Werke umschreiben oder ob ein narzisstischer Theaterregisseur eine Oper zum Zweck einer Markenbildung in eigener Sache schreddert: Die damit einhergehende Enthemmung entwickelt sich stets auf der Grundlage ein und derselben Pathologie, einer Pathologie, für die Selbstüberhöhung und Missionierungsdrang kennzeichnend sind.

    Mit 50 oder 60 Euro wirst Du bei den Salzburger Festspielen vermutlich noch nicht ganz weit kommen ;) .

    Das will ich gerne glauben.:)


    Und ja, Anja, es ist schwierig. Ich habe mich in dieser Diskussion recht eindeutig positioniert. Aber ich erkenne an, dass man hinsichtlich deiner eingangs gestellten Frage unterschiedliche Perspektiven einnehmen kann, dass je nach Perspektive Aspekte anders gewichtet und die Prioritäten dementsprechend gesetzt werden.


    Für mich besteht der Zweck von (Theater)Regie zuallererst darin, dem Zuhörer und Zuschauer einen Zugang zum Werk zu verschaffen, den er ohne die Arbeit eines Regisseurs sonst womöglich nicht hätte, hier also Zugang verschaffen primär im Sinne von Zugang erleichtern. Dass dabei die eigene Sicht des Regisseurs auf das Werk und damit seine Interpretation in die Inszenierung einfließen, liegt in der Natur der Sache, ist unvermeidlich und bis zum einem gewissen Punkt durchaus auch wünschenswert.


    Schwierig wird es spätestens dann, wenn die „Handschrift“ des Regisseurs beginnt das Werk zu überlagern bis hin zu einer Verfremdung, hinter der das ursprüngliche Werk kaum noch zu erkennen ist. Und manchmal kommt es mir so vor, als bestünde zwischen einem Teil der Theaterregisseure und Teilen der Kritik eine stillschweigende Übereinkunft, wonach die einen möglichst skandalträchtige Inszenierungen zu schaffen haben, damit die anderen umso mehr zu schreiben haben und die sich wiederum revanchieren, indem sie Erstere für ihre „bahnbrechenden Visionen“ und „wegweisende Neuinterpretation“ feiern und nachfolgend zu absoluten Autoritäten erklären. Und manchmal sieht es für mich so aus, als hätten Skandale im Allgemeinen und durch eine Inszenierung ausgelöste Skandale im Besonderen auch die Funktion eines Rituals zu erfüllen, so wie zum Beispiel im Fall der Bayreuther Festspiele, bei denen ein handfester Skandal alle paar Jahre mittlerweile schon zur Tradition geworden ist.


    Ich bin in der Frage der Werktreue nicht so rigide, wie es hier möglicherweise hin und wieder rübergekommen ist. Wenn zum Beispiel ein Kritiker zur Ring-Inszenierung des Jahres 1976 schreibt, dass Pierre Boulez ‚Rheingold‘ dirigiert, als wär’s von Debussy“ , dann klingt das für mich ungemein spannend und macht mich neugierig. Das ist dann eine Interpretation im ursprünglichen Sinn des Wortes. Vom Werk wird nichts weggenommen und ebenso wenig wird ihm etwas hinzugefügt, sondern dem Zuhörer eine andere Perspektive angeboten.

    Etwas völlig anderes aber sind Inszenierungen, die Werk und Künstlerensemble zur Geisel nehmen, nur um die Weltsicht des Regisseurs mitsamt seiner Fantasien und Assoziationen zu propagieren.


    Ich habe größten Respekt vor Regisseuren und Regisseurinnen, die sich dieses Unterschieds bewusst sind und die ein feines Gespür dafür haben, wie viel Interpretation einem Werk guttut und wo je nach Werk die Grenze für diese Interpretation verläuft, deren Überschreitung das Werk beschädigen würde.

    Und den anderen wünsche ich etwas mehr Bescheidenheit.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Deine Befindlichkeit beim Hören und Sehen einer Oper sind für Dich wichtig.

    Ja. Für dich nicht?

    Ich bin weder Musik- noch Literaturwissenschaftler und auch kein Kunstkritiker, Menschen, die schon von Berufs wegen völlig andere Maßstäbe in der Bewertung eines Werks und seiner Interpretation anlegen, anlegen müssen. Für mich stellt sich vor allem anderen die Frage, ob mich ein Film, eine Oper, das Hören eines Musikstücks oder die Lektüre eines Buchs berührt oder nicht und auf welche Weise dies geschieht.

    Wenn ich einen Schachtelsatz fünf Mal lesen muss, um mir halbwegs sicher sein zu können, ihn auch verstanden zu haben, dann wirft mich das aus der Geschichte, nicht anders wie ein schiefes Bild oder eine unpassende Metapher. Vielleicht noch nicht beim ersten Mal, aber ganz sicher, wenn es zum wiederholten Mal geschieht. Wie so oft, macht auch hier die Dosis das Gift. Nicht anders verhält es sich bei einer Oper, wenn die Inszenierung immer wieder vom Libretto abweicht.

    Allein ein allgemeingültiges Urteil kannst Du nicht abgeben darüber.

    Sowenig wie jeder andere. Aber ich erlaube mir, eine Meinung dazu zu haben. So wie jeder andere.

    Ich glaube, wir reden aneinander vorbei.

    Mit Mehrwert meine ich hier die Hinzufügung einer Qualität, die dem Werk ohne die vorgenommene Abweichung vom Libretto fehlen würde.

    Erdolchen, erdrosseln, erschlagen, ertränken, aus dem Fenster werfen, mit einer Bratpfanne totprügeln ... In der Tat: Who cares? Aber warum es dann nicht gleich bei der vom Libretto vorgegebenen Wahl der Methode belassen? Ich finde es jedenfalls irritierend, wenn ich etwas anderes sehe als das Bild, welches das Hören des Textes in mir erzeugt.

    Der Erfolg beim Publikum soll ausschlaggebend sein für die Relevanz von Kunst?

    Das habe ich nicht behauptet und ist das Gegenteil dessen, was ich denke. Aber jede Film-, Musical- und Opernproduktion kostet Geld. Sehr viel Geld. Und wenn der kommerzielle Erfolg über längere Zeit ausbleibt, wird sich irgendwann auch niemand mehr finden, der solche Projekte finanziert und das entsprechende Genre oder sogar eine ganze Kunstform über kurz oder lang in der Bedeutungslosigkeit verschwinden, ob wir das nun gut finden oder nicht.

    In der Literatur ist es nicht anders. Natürlich sind die Bestsellerlisten kein getreuer Spiegel der literarischen Qualität der dort aufgelisteten Werke. Aber warum reden wir dann wiederkehrend über Themen wie "Die Suche nach der Bestseller-Formel", über Marktgängigkeit, Trends, über "das, was der Markt will"? Insofern, ja, ist der Erfolg beim Publikum durchaus von Bedeutung.

    Tot ist er aber auch nach dem Erdrosseln - oder? Ich halte das für keinen allzugroßen Stilbruch.

    Für sich allein genommen ist das tatsächlich keine große Sache, aber in der Wiederholung nerven solche Abweichungen vom Libretto. Wozu soll das gut sein? Worin besteht der Mehrwert? Für das Werk? Für das Publikum?

    Autor oder -in haben das Rezept geschrieben, Regisseure und -innen sind die Köche.

    Ein Rezept ist eine Anleitung. Die Partitur und das Libretto wären demnach also nichts weiter als eine Anleitung? Eine Anleitung zu was?


    Ich stelle mir vor, beim Zappen mit der Fernbedienung bei der Fernsehübertragung der modernen Inszenierung einer klassischen Oper hängenzubleiben. Aber der Ton ist ausgefallen. Vermutlich werde ich auch eine Stunde später noch nicht die leiseste Ahnung davon haben, um welche Oper es sich handelt. Im umgekehrten Fall, Ton ist da, Bild ist weg, bräuchte ich nur ein paar Sekunden, um das Werk zu identifizieren. Was also ist wesentlich für eine Opernaufführung? Die Musik und das Libretto oder die Inszenierung?

    Während es anfangs darum ging, die Interessen der Autoren und -innen möglichst unmittelbar, bestenfalls sogar verstärkt darzustellen, also den Text und die Musik und ggf. die Handlungsanweisungen so direkt wie möglich in Szene zu setzen

    Inszenierung, so verstanden, ist hilfreich und notwendig. Sie stellt sich in den Dienst der Sache, in diesem Fall die einer Oper. Bei vielen modernen Inszenierungen und Adaptationen verhält es sich aber genau andersherum, stellen Regisseur oder Regisseurin die Sache, die Oper, in den Dienst ihrer eigenen Vorstellungen und Assoziationen oder wie Alexander schreibt:

    Zugespitzt formuliert: Mir scheinen die Verhältnisse bei Aufführungen heutzutage mitunter auf den Kopf gestellt. Wer ist Koch und wer Kellner? Meiner Ansicht nach ist der Autor der Koch. Der Regisseur der Kellner. Und der Darsteller ein Hilfskellner. Diese Sichtweise scheint mir heute im Allgemeinen umgekehrt vertreten zu sein.


    Die Wandlung der Kunstform Oper hin zu einer musealen Kunstform ist unbestreitbar und daran ändern auch die von Horst-Dieter genannten Beispiele (die Opern von Philipp Glass, Porgy and Bess von Gershwin und Tommy von The Who) nichts. Auch die haben bereits einige Jährchen auf dem Buckel und das Ausbleiben weiterer solcher Werke, zumindest was einen messbaren Erfolg beim Publikum angeht, ist ein weiteres Indiz für diese Wandlung.

    Aber die Leute gehen ja auch ins Museum und das, um die Werke der alten Meister im Original zu betrachten und nicht die als Original ausgegebene Nachempfindung eines Kunststudenten.


    Eine Opernaufführung ist für mich immer auch eine Zeitreise und in dieser besteht ein nicht unbeträchtlicher Teil meines Vergnügens, ist die Einbettung des Werks in den Kontext seines Entstehens somit eine unabdingbare Voraussetzung, auch um den Preis, mir ob der Schwülstigkeit einiger Libretti manchmal am Liebsten die Ohren zuhalten zu wollen. Aber ich bin nicht bereit, einen Eintrittspreis von 50 oder 60 € für einen mittelprächtigen Platz in der Oper zu bezahlen, der, wie Tom zurecht anmerkt, noch dazu mit beträchtlichen Steuermitteln subventioniert wird, nur um mir den Abend durch die möglicherweise vergebliche Mühe einer versuchten Entschlüsselung der Chiffren eines selbstverliebten Theaterregisseurs versauen zu lassen.

    Oder kürzer formuliert: Ich erwarte, dass, wo Don Giovanni draufsteht, auch Don Giovanni drin ist.

    Ich halte von Kulturadaption im Sinne einer zeitgemäßen Transformation nichts. Dann lieber das Motiv aufgreifen und etwas Neues schreiben.

    Exactly.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    Auf deine Frage in Posting 9, Horst-Dieter, möchte ich zunächst noch allgemein antworten. Zur Kategorie solcher Werke, die zu spezifisch für die Epoche ihrer Entstehungszeit sind, um sie losgelöst von ihrem ursprünglichen Kontext erzählen zu können, werden nach meiner Einschätzung vor allen Dingen solche Werke zählen, die zu ihrer Zeit großen Anklang beim damaligen Publikum gefunden haben, heute aber nur noch sehr selten auf den Spielplänen der Opernhäuser stehen. Jedenfalls würde ich dort anfangen zu suchen. Aber möglicherweise kann ich mir diese Mühe sparen und dir fallen ja spontan ein paar Beispiele hierzu ein.


    Um dann aber doch etwas konkreter zu werden: Die Odyssee, um ein Beispiel zu nennen, ist für mich nur sehr schwer in die Neuzeit zu „beamen“. An entsprechenden Versuchen hat es ja nicht gefehlt, aber in der Regel lehnen sich diese Werke nur lose an das Original an und benutzen darüber hinaus vielleicht auch noch den einen oder anderen Namen aus der Originalgeschichte, so wie in dem immer wieder als Beispiel für eine solche „Adaptation“ zitierten Film der Coen-Brüder O Brother, Where Art Thou? Die von George Clooney gespielte Hauptfigur heißt Ulysses, seine Ex-Frau Penny (!), Sheriff Cooley soll wohl Assoziationen an den Poseidon des Originals wecken und der einäugige Bibelverkäufer Big Dan Teague ist für jedermann unschwer als Zyklop zu identifizieren. Aber das ist mir zu plakativ, und doch ist es zu wenig. Dieser Film, den ich davon abgesehen grandios finde, würde auch ohne diese Verweise als Roadmovie wunderbar funktionieren.

    Ähnlich verhält es sich bei dem Film König der Fischer (Original: The Fisher King) des Ex-Monty Python Terry Gilliam. Auch diesen Film habe ich mit großem Vergnügen geschaut, aber was diesen Film abgesehen von seinem Namen und einem obskuren Pokal, den die von Robin Williams gespielte Figur des Parry Sagan, der Professor für Mediävistik war, bevor ihn der gewaltsame Tod seiner Frau aus der Bahn warf, für den Heiligen Gral hält, mit der Gralslegende und der Parzivalgeschichte verbindet, hat sich mir bis heute nicht erschlossen.

    Wenn man sich schon auf so große Vorbilder beruft, sollte das Original dann doch auf etwas substanziellere Weise im eigenen Werk erkennbar sein. Einige Namen einzuflechten und hier und da ein auch im Original benutztes Motiv zu variieren, reicht meiner Meinung nach nicht.


    Jede Geschichte ist von tausendundeiner vorangegangenen Geschichte inspiriert, und in vielen Fällen werden wir uns dessen vermutlich nicht einmal bewusst sein. Aber daran ist nichts Schlimmes und es ist wohl auch unausweichlich. Aber eine Adaptation ist etwas anderes als sich von einer Geschichte inspirieren zu lassen.

    ... werden Inszenierungen heutzutage häufiger als Adaptionen verstanden, und der Stoff, der inszeniert wird, wird immer mehr zum Motiv, zur Inspiration, zum Ausgangspunkt einer Reise, an deren Ende möglicherweise etwas ganz anderes wartet.

    Genau das ist der Punkt, an dem sich mein Widerspruch entzündet.

    Denn was in der Literatur und bei Filmen absolut akzeptabel ist, ohne dass sich der Urheber eines Werks deswegen des Vorwurfs des Etikettenschwindels aussetzen würde, ist im Falle einer Operninszenierung, und über diese diskutieren wir ja in diesem Thread vornehmlich, schlicht ein Ding der Unmöglichkeit.


    Ich sehe nicht, wie es möglich sein sollte, eine Oper aus ihrem ursprünglichen Kontext herauszubrechen und auf eine Weise an unsere Zeit oder an irgendeine Zeit zu adaptieren, die das Werk dennoch als ein homogenes Gesamtkunstwerk erscheinen lässt. Wie soll das funktionieren? Die Musik und das Libretto sind bis auf das Tüpfelchen auf dem I genau vorgegeben – und nichts anderes meinte ich mit meinen von dir, Horst-Dieter, kritisierten Beispielen – und das einzige, das veränderbar ist, sind das Bühnenbild, die Kleidung der Sängerinnen und Sänger, vielleicht ihre Berufe und das soziale Umfeld, ist in dem sie sich bewegen sowie der gesamte materielle Fundus, der für eine bestimmte Epoche kennzeichnend ist, aber das war’s dann auch schon. Die Musik und die Libretti sind Pi mal Daumen 150 Jahre alt und Letztere klingen häufig für heutige Ohren dermaßen schwülstig, dass selbst an derlei Texte gewöhnte Menschen wie ich zuweilen Ohrenschmerzen davon bekommen. Und wenn dann ein Theaterregisseur meint, er müsse das vor zehn Generationen Geschaffene auf Biegen und Brechen an die Moderne adaptieren, dann wirkt das auf mich anmaßend und das Resultat regelmäßig und im günstigsten Fall befremdlich und manchmal ob seiner Beliebigkeit einfach nur noch grotesk bis hin zu purer Absurdität.

    Schade. Schade um die Musik. Schade um die ausführenden Künstler. Schade ums Publikum.

    Und dass mir ein Theaterregisseur den Zugang zu einer neuen Bedeutungsebene zu öffnen vermag? Ich bleibe skeptisch. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Genius der Jetztzeit eine solche Bedeutungsebene findet, die 150 bis 200 Jahre lang allen anderen Menschen verborgen geblieben ist?


    Herzliche Grüße,


    Jürgen