Es geht bei dieser Bewegung vom vermeintlichen Rand in die Mitte der Gesellschaft nicht "nur" um Diskriminierung, um Gewalt und um die Thematisierung von vergleichbaren Missständen.
Betroffene selbst bezeichnen die als zu langsam oder unzureichend beklagten Fortschritte hinsichtlich ihrer Inklusion als Diskriminierung und empfinden diese wiederum als eine Form von Gewalt. Das ist für mich nachvollziehbar, weshalb ich in diesem Fall bei der Abgrenzung der Begriffe voneinander keine allzu strengen Maßstäbe anlege.
Eine Replik, nicht auf die Einfassungen von Cora Stephan, aber warum Kim de l’Horizon nicht einmal selbst zu Wort kommen lassen:
https://www.nzz.ch/feuilleton/…ktcid=smsh&mktcval=E-mail
https://www.nzz.ch
© NZZ AG - Alle Rechte vorbehalten
Danke Petra für den von dir verlinkten Text von Kim de l’Horizon. Dieser Text enthält viele kluge Gedanken und zeugt von einer hochentwickelten Fähigkeit der Selbstreflexion des Autors. Aber ...
Gegen Ende des Textes stellt Kim de l’Horizon die Frage: „Warum werden wir alle auf das Geschlecht reduziert?“ Weiter oben in diesem Thread habe ich ähnlich gefragt: „Woher kommt diese Fixierung auf Geschlechtliches und Sexuelles?“
Für mich ist die Info, dass jemand hetero oder schwul, bisexuell, pansexuell, asexuell, cisgender oder transgender ist, so bedeutungsvoll wie die Info, dass gerade eben erst wieder in China ein Sack Reis umgefallen ist. Aber sind es nicht gerade die öffentlich auftretenden Vertreter der genannten Minderheitengruppen die immer wieder ihre Geschlechtlichkeit, ihre sexuelle Orientierung sowie ihr sexuelles Erleben als maßgeblich für die Determinierung ihrer Identität herausstellen? An wen also richtet Kim de l’Horizon seine Frage?
Ich habe bereits ein Problem mit dem Verständnis des Begriffs Identität. Er ist für mich auf eine seltsame Weise schwer fassbar. Würde mich jemand auffordern, zu beschreiben, worin meine Identität besteht, wüsste ich keine Antwort. Natürlich könnte ich etliche körperliche Merkmale nennen, desgleichen tatsächliche oder nur vermeintliche Charaktereigenschaften, meine Nationalität, mein Welt- und Menschenbild und meine religiösen Überzeugungen oder deren Abwesenheit sowie eine Vielzahl von Präferenzen und Abneigungen benennen. Und doch hätte ich bei jedem einzelnen dieser Merkmale das Gefühl, dass sie wenig bis nichts mit mir zu tun haben, und dass diese Zuschreibungen auch in der Summe nicht annähernd den ausmachen, der ich fühle zu sein und mehr noch den, der ich werde. Denn das kommt noch hinzu: Identität ist für mich allenfalls als Work in Progress vorstellbar und als nicht vollendbar. Das mich im Übrigen zu was macht? Zu einem identitätsfluiden Unmenschen?
Umso mehr irritieren mich Menschen, die ihre Forderung nach Inklusion oder, wie Tom es formuliert, ihren Wunsch als integral wahrgenommen zu werden, mit einer Hervorhebung ihrer Identität begleiten und damit in der Wahrnehmung durch Menschen außerhalb ihrer Gruppe die Gefahr heraufbeschwören, zwischen sich und diesen anderen einen Abstand zu schaffen oder einen solchen zu vergrößern und damit in vielen Fällen gerade das zu verhindern, was sie zu erreichen suchen.
Mich stört, dass Verpackung zunehmend über Inhalt dominiert. Mehr habe ich nicht zu sagen.
Diese Tendenz ist ja nun wahrhaftig nichts Neues. Und es betrifft nicht nur die Kunst, sondern ich empfinde das schon seit geraumer Zeit so in beinahe allen Bereichen unserer Gesellschaft. Viel hochgestochenes und dabei dennoch floskelhaftes Reden ... ja, wofür eigentlich? Des Kaisers neue Kleider als immer wieder neu gefeierte Fashion Revolution. Und viel Lärm um nichts allerorten. Darüber kann man sich echauffieren, muss es aber nicht. Natürlich.
Aber es kann nicht ohne Konsequenzen für die Kunst bleiben, wenn der Fokus überwiegend auf den Künstler gerichtet wird, wenn die Künstlerin oder der Künstler als das eigentliche Kunstwerk wahrgenommen wird und sein Werk als Accessoire. „Ach ja. Stimmt. Der hat ja auch ein Buch geschrieben. Wie war auch noch der Titel?“
Aber das Publikum will es so. Die Medien verlangen danach. Und die Verlage können natürlich nicht anders. Und die Autorinnen und Autoren? Werden wollen müssen. Liefern. Die einen mit Lust, die anderen mit Frust.
... aber Kritik daran darf dann doch gerne Substanz haben und sollte zuallererst nicht auf die Protagonisten abzielen, sondern auf Publikum, Gesellschaft, Unternehmen, Medien etc.
Einverstanden. Dass Autorinnen und Autoren die Bühne nutzen, die ihnen geboten wird, wird ihnen wohl niemand ernsthaft zum Vorwurf machen können.
Erstaunlich aber sind in der Tat die euphorisch-hysterischen Reaktionen von Publikum und Medien. Wenn sich eine genderstatische Frau im Iran die Haare abschneidet, bezahlt sie dafür im Extremfall mit ihrem Leben. Ein genderfluider queerer Autor, der in Frankfurt das gleiche als „große Geste einer globalen Solidarisierung“ zelebriert, wird dafür mit Standing Ovations gefeiert. Peinlicher geht’s nimmer. Und es entlarvt Teile des Publikums und der Medien als sich selbst feiernde selbstgerechte Trittbrettfahrer.
Auch auf die Gefahr hin, einige hier zu nerven, möchte ich meine bereits weiter oben gestellte Frage noch einmal wiederholen: Wo sind all diese weltoffenen, coolen, moralisch untadeligen, immer auf der „richtigen“ Seite stehenden Apologeten eines fortschrittlichen Zeitgeistes, wenn es darum geht, denen eine Bühne zu bieten, denen eine solche Bühne in der Regel verwehrt bleibt, den Opfern von Missbrauch und sexueller Gewalt, Behinderten, Kindern und Jugendlichen aus sogenannten bildungsfernen Milieus, Menschen, die allenfalls von Inklusion und Teilhabe träumen können? All denen eine Stimme zu geben, die nicht über die Eloquenz eines Akademikers und die damit in der Regel einhergehende Selbstsicherheit verfügen, um selbst über ihre Befindlichkeit und über ihre Wunden zu sprechen, und die folglich auch nicht gehört werden.
Aber klar, ein Autor in all seiner queer schillernden, farbenfrohen Pracht wird von vielen natürlich als attraktiver empfunden und eignet sich auch prima für so mancherlei Projektionen, mehr jedenfalls als die abweisenden dicken Mauern einer Klosterschule, die Tristesse eines Pflegeheims für Behinderte und die deprimierende Eintönigkeit einer Plattenbausiedlung.
Wie viele Schubladen sollen da aufgemacht werden?
Über Schubladen also reden wir hier? Und falls ja, interessiert mich erst recht die Frage, warum manche Schubladen 24 Stunden am Tag, sieben Tage pro Woche und 365 Tage im Jahr geöffnet sind, bis auch noch der letzte Bewohner einer solchen Schubladenblase ein Statement in eigener Sache verlesen durfte, während andere Schubladen, wenn überhaupt, allenfalls mal für ein paar Minuten außerhalb der Prime Time einen Spalt breit geöffnet werden. Welche Mechanismen sind da wirksam?
Herzliche Grüße,
Jürgen