Beiträge von Juergen P.

    Monika

    Ja, wenn Madame am Ende sterben soll, sind Lachtränen wohl eher keine Option.

    „... und ich lasse eine sterben ... wäre schön dramatisch und würde auch passen ...“ Das klingt für mich so, als wäre die Entscheidung unbewusst bereits gefallen, trotz aller Grübelei deinerseits. Und sich in der Mitte zu treffen, wird schwierig werden, wenn du deine Protagonistin sterben lassen willst und sie will ihr schnüffelnd-tränenreiches Finale, und zwar quicklebendig. Entweder es wird gestorben oder es wird gelebt. Da ist nicht viel Spielraum für einen Mittelweg. Es sei denn, du schreibst eine Fortsetzung und lässt sie erst am Ende von Teil zwei sterben. Und dass sie zugemacht hat, nix mehr erzählen will, kann ich inzwischen gut verstehen. Würd ich genauso machen, wenn man mich auffordern würde, am Ende doch bitte freundlichst im Dienst einer größeren Sache zu sterben.:)


    Anja

    Danke für deine ausführliche Antwort, Anja.

    Das mit dem Zeitdruck hat bei mir bislang zuverlässig nur bei der jährlichen Steuererklärung funktioniert. Mangels Erfahrung vermag ich natürlich nicht zu sagen, ob es für mich auch beim Schreiben so wäre. Wie ich mich kenne, würde ich vermuten nein, und dass ich stattdessen eher Panikattacken bekäme und darüber komplett den Zugang zu meiner Kreativität verlöre.

    Aber mein Arbeiten ist natürlich sehr ineffizient. Durch meine Überarbeitungssucht, anders kann ich es nicht nennen, verliere ich wahnsinnig viel Zeit. Ich denke, am sinnvollsten wird es sein, mir immer wieder die Frage zu stellen, warum ich mich wider besseres Wissen an diesen Perfektionsdrang zum falschen Zeitpunkt klammere. Vielleicht eine Art Vermeidungsstrategie??!?

    Zweifellos ist das Sich-in-der-Mitte-treffen im alltäglichen Miteinander oft die beste Lösung. Aber am Ende einer Geschichte? Ich weiß nicht recht. Möglicherweise wäre damit erst recht keiner zufrieden. Wie wär’s denn, wenn Madame ihren tränenreich-schnüffelnden Auftritt kurz vor dem Ende bekäme, und dann passiert irgendwas Ungewolltes, aber Saukomisches und alles entlädt sich in einem lauten Lachen? Natürlich weiß ich nicht, ob das zur Geschichte passen würde. Aber Chaos und Lachen sind für mich potentielle Freunde.


    Anja Bislang „genieße" ich den Luxus, ohne Termindruck schreiben zu können. Aber die Frage interessiert mich brennend, wie ihr es geschafft habt, von diesem immensen Überarbeitungsdruck noch während des Scheibens loszukommen. Vielleicht können wir das ja mal in einem anderen Thread diskutieren.

    Sollte mir das passieren, dass ein Protagonist komplett zumacht, würde ich als Erstes versuchen, das wie in einer freundschaftlichen Beziehung zu handhaben: „Was ist los mit dir? Du bist schon die ganze letzte Zeit über so knatschig. Redest kaum noch mit mir. Willst mir nicht mal einen Grund dafür nennen. Und ich bin mir keiner Schuld bewusst. Also halt ich’s fürs Beste, dass wir uns ein paar Tage nicht sehen.“ Aber während dieser Zeit würde ich mich selbst besonders intensiv beobachten. Es könnte ja sein, dass ich derjenige bin, der nix mehr erzählen will, zum Beispiel, weil ich gedanklich mehr und mehr mit anderen Dingen beschäftigt bin und der andere sich daraufhin notgedrungen zurückzieht.

    Nein, Monika, das ist mir gottseidank bisher noch nie passiert. Wenn einer zwischendurch lahm wird, dann bin ich das, und das passiert leider viel zu häufig.

    Vielleicht liegt es daran, dass ich das bis dahin Geschriebene permanent überarbeite. An manchen Tagen überarbeite ich stundenlang, ehe ich den ersten neuen Satz schreibe. Aber wenn mir eine Formulierung nicht gefällt, eine Pointe nicht sitzt, oder ich keinen passenden Cliffhänger finde für eine Stelle, an der einer sein sollte ... oder ... oder ... Ich schaffe es einfach nicht, den Mist einstweilen Mist sein zu lassen und zunächst einmal die Geschichte zu Ende zu erzählen.

    Immerhin konnte ich mich bislang noch stets auf meine Protagonisten verlassen. Wenn es denen zu lange dauert, dann veranstalten die in meinem Kopf so lange Tamtam, bis ich weiterschreibe.:slz

    Warum? Das klingt doch nach ehrlichem Miteinander.

    Das empfinde ich genauso. Amos’ Worte verweisen auf Dinge, die im täglichen Miteinander immer mehr verlorengehen, erzählen von menschlichen Grundbedürfnissen, die immer weniger erfüllt werden - dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Angenommensein, nach sozialer Teilhabe, um nur diese drei zu nennen - und die in den großen Debatten unserer Zeit kaum eine Rolle spielen, weil sie als für diese entbehrlich gesehen werden. Und doch bin ich mir ziemlich sicher, dass manche jener Debatten anders verlaufen würden, vor allen Dingen lösungsorientierter, würde diesen „kleinen“ Dingen im unmittelbaren Miteinander die Aufmerksamkeit geschenkt, die sie verdienen. Stattdessen geht es primär um Dogmen, um Prinzipien, und ehe man sich’s versieht, artet eine solche Debatte in einen Religionskrieg aus.

    Vielleicht sind wir überfordert mit dieser Art der Kommunikation, mit diesem ungefilterten permanenten Stimmengewirr von überallher.

    Ich bemerke das an mir selbst, dass ich bereits beim Schreiben einer eMail dazu tendiere, „härtere“ Formulierungen zu wählen, als wenn ich mit ein und der derselben Person ein Telefongespräch führe, und in noch viel stärkerem Maße gilt das, wenn mir diese Person direkt gegenübersitzt. In der Kommunikation über das Internet fehlt der Klang der Stimme und es entfällt die mit den Worten parallel laufende Kommunikation über Mimik und Gestik, die wir in ihrer Gesamtheit nicht einmal näherungsweise bewusst wahrnehmen und die unseren Worten im Extremfall eine völlig andere, auch komplexere Bedeutung geben können - komplexer im Sinne von Vervollständigung. Wenn ich zum Beispiel hier im Forum jemanden ohne weitere Erklärung als „Idiot“ anreden würde, dann käme das beim Empfänger zweifellos anders an, als wenn ich ihm das in einen bestimmten Kontext eingebettet mit einem Grinsen bis zu den Ohren direkt ins Gesicht sage und ihm gleichzeitig Kaffee nachschenke.


    Der Wertungsprozess entzieht sich unserer Kenntnisnahme, und zuweilen kennen wir einen Großteil der Leute, vor denen wir unsere Gedankenkostüme da ausziehen, nicht einmal persönlich. Die Verletzlichkeit ist sehr viel höher, aber weil wir umgekehrt auch diejenigen nicht sehen können, denen wir einschenken, gilt das außerdem für den Grad der Bereitschaft zur aktiven Verletzung. Umso näher liegen dann radikale Maßnahmen, wenn es ans Eingemachte geht.

    Daran kann kein Zweifel bestehen. Es reicht mir aber nicht als Grund, um das Internet zum alleinigen Sündenbock all dessen zu machen, was in unserer Kommunikation seit geraumer Zeit entgleist. Das Internet ist für mich zunächst einmal nichts weiter als ein riesiger Werkzeugkasten, aus dem ich mir nehme, was mir brauchbar erscheint, um es auf eine meinen Absichten förderliche Weise zu benutzen.


    Die Diskussionskultur war 2000, um mal ein Jahr zu nennen, eine vollkommen andere als jetzt.


    Ich weiß nicht, wann das gekippt ist, dieses Verhalten. Gefühlt würde ich sagen, irgendwann ein paar Jahre nach der Jahrtausendwende, mindestens aber vor einem Jahrzehnt.


    So etwas kippt nicht in zwei oder drei Jahren. Wenn es sich überhaupt um eine Art Kippen handelt, dann dauert das eher ein Jahrzehnt, und zu Ende ist das noch nicht. Nicht ganz zufällig scheint es sich um den Zeitraum zu handeln, in dem auch der Aufstieg der Sozialen Medien stattfindet.

    Ja, wann ist das gekippt? Ganz sicher nicht erst, seit uns das Internet so „wundervolle“ Möglichkeiten bietet, einander zu verletzen, dazu bräuchte es ja nach wie vor noch eine entsprechende Intention. Und ebenso wenig ist es wegen eines einzelnen Großereignisses wie 9/11, der Lehmann-Pleite sowie der darauf folgenden Wirtschaftskrise gekippt.

    Ich glaube, es hat auch schon viel früher angefangen, bereits in den Achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts, schleichend zuerst und dann nach der Jahrtausendwende immer schneller. Nicht, dass an der Globalisierung alles schlecht wäre, aber die neoliberale Wende mit ihren beiden Galionsfiguren Ronald Reagan und Margaret Thatcher hat eine Entwicklung in Gang gesetzt, die unter dem Getöse von Schlachtrufen wie „Der Markt hat immer recht“, „Der Markt regelt alles“, „Wettbewerb über alles“ und „Gier ist geil“ komplette Industriebranchen verschwinden ließ, ohne dass den dort zuvor Beschäftigten ein ihrer Qualifikation entsprechendes alternatives Arbeitsangebot gemacht worden wäre, stattdessen Hartz IV, prekäre Arbeitsverhältnisse und Minijobs allerorten, für diejenigen, die noch gebraucht werden, eine unmenschliche Arbeitsverdichtung, deren Ende nicht abzusehen ist einschließlich eines allgegenwärtigen Zwangs zur Selbstoptimierung und der Forderung nach mehr Flexibilität und Mobilität, Familien werden auseinandergerissen, bestehende Freundeskreise lösen sich auf, kaum jemand hat noch die Zeit und Energie unter solchen Umständen neue Freundschaften aufzubauen, Vereinzelung und eine ungewollte Selbstisolation folgen, jeder wird zu seinem eigenen winzigen Universum, aus dem heraus andere Menschen nur noch als Konkurrenten und Rivalen wahrgenommen werden, eine zwangsläufige Entsolidarisierung schließlich von denen, die akuter Hilfe bedürfen, und all das findet statt unter dem Dauerbombardement der Medien, die uns mit ihren Livestreams rund um die Uhr an den aktuellen Topmassakern, Tophurrikans, Topseuchen an jedem Ort der Welt teilhaben lassen und uns tagesaktuell die neuesten Vorboten der nahenden Apokalypse präsentieren.

    Wie soll ein Mensch unter diesen Bedingungen noch Mensch bleiben können? Wie kann er sich selbst noch spüren, wie die Kraft aufbringen, sich auf andere Menschen mit all ihren Facetten und ihrer Widersprüchlichkeit einzulassen? An diesem Punkt eines insgesamt bereits weit fortgeschrittenen Prozesses der Entmenschlichung kommt das Internet gerade recht. Nur ein Mausklick und sofort vermeint man wieder, so etwas wie Macht auszuüben, glaubt, ein wenig die Kontrolle zurückzugewinnen, zumindest aber eine Art Zeichen zu setzen, wie Tom es ausdrückt. Und ja, es ist eine Kapitulation vor sich selbst, auch und gerade vor der Mühsal, weiterhin Widerstand zu leisten. Denn, und ohne jetzt gleich in Apfelbäumchenrhetorik zu verfallen: Immerhin besteht die Möglichkeit, dass dies noch nicht das Ende des Weges sein muss.


    Miteinander reden bedeutet für mich, gegenüber sitzen, miteinander spazieren gehen, wichtig ist, das miteinander sehen können. Sich gemeinsam an den Küchentisch zu setzen, - die besten Feiern sind immer in der Küche- so heißt es ja nicht umsonst, Tässchen Kaffee dazu, das ist etwas anderes , als eine e-mail zu schicken oder einen Artikel zu veröffentlichen.

    Ja, Amos, genau das.

    Während des gerade vergangenen Wochenendes hat hier in unserer Straße das jährliche Straßenfest stattgefunden. Es war eine bunt zusammengewürfelte Nachbarschaft anwesend, Junge und Alte, einige der Letzteren in Rollstühlen, junge Eltern mit mehr kleinen Kindern als jemals zuvor, Kinderlose, Singles, Alteingesessene und frisch Zugezogene, und während der gesamten Dauer des Festes waren nur angeregtes Reden und Lachen zu hören, und das, obwohl bei weitem nicht nur Kochrezepte ausgetauscht oder Banalitäten abgehandelt wurden.

    Seitdem komme ich aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Denn ich will mir nichts vormachen. Es sind dieselben Menschen, die zumindest zum Teil vermutlich ein paar Ressentiments haben und die an anderer Stelle auch äußern. Was also war bei unserem Straßenfest anders?

    Im Französischen gibt es dieses wunderbare Wort convivialité. Ins Deutsche wird es immer nur mit Geselligkeit und Gemütlichkeit übersetzt und klingt überdies so schrecklich nach Friede, Freude, Eierkuchen. Die Bedeutung im Französischen geht weit darüber hinaus und meint sinngemäß das als freudvoll empfundene Teilen von etwas - die gemeinsam verbrachte Zeit, das gemeinsam genossene Essen - und ich denke, es ist die dadurch entstandene Basis einer Mitmenschlichkeit im ursprünglichen Sinn des Wortes, die es unmöglich macht, wieder hinter diese Linie zurückzufallen, so sehr man über ein bestimmtes Thema auch streiten mag.

    Die Kommunikation im Internet bietet diese Möglichkeit nicht. Aber vielleicht hilft ja bereits die Vorstellung, dass wir mit dem Menschen hinter dem Avatarbildchen gestern gemeinsam gefrühstückt haben oder, wahlweise, gestern Abend beim Griechen ein Gyros essen waren.

    Amos:

    Danke für das Teilen des Gedichts. Es sind solche Dinge, die wieder etwas Hoffnung geben, dass eine Fünfzehnjährige ein solches Problembewusstsein hat und dies in einem beeindruckenden Gedicht in Worte zu fassen vermag.


    Das waren wieder viele Worte. Aber das Thema ist mir halt sehr wichtig.


    Ich wünsch euch einen schönen Abend,:)


    Jürgen

    Aus Zeitgründen werde ich erst am späteren Nahmittag oder im Verlauf des Abends dazu kommen, auf einige Postings in diesem Thread einzugehen, wollte mich aber schon jetzt bei allen bedanken, die mitgelesen haben und insbesondere bei denen, die sich bisher zu Wort gemeldet haben.


    Bis später,


    Jürgen

    Als Willy Brandt vor bald fünfzig Jahren vor dem Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghetto-Aufstands niederkniete, kam es in der Folge jenes Ereignisses - zu dem Zeitpunkt war ich neunzehn - in meiner damaligen Freundesclique zu äußerst hitzigen Diskussionen, in deren Verlauf wir manchmal einander Ausdrücke an den Kopf warfen, die heutzutage viele Menschen als Beleidigung empfinden würden. Die Heftigkeit der Diskussionen war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass wir eine sehr heterogene Gruppe waren, in der von ziemlich weit rechts bis sehr weit links inklusive Anarchisten und Spontis das gesamte damalige politische Spektrum vertreten war. Und so war für die einen Willy Brandt ein Held, für andere ein Vaterlandsverräter und für wieder andere nur ein berechnender Schauspieler. Irgendwann im Verlauf einer solchen Diskussion mündeten Argumente und wechselseitige Unterstellungen in einen ermüdenden Kreisverkehr, bis jemand in die Runde fragte: „Wie isses, Leute, trinken wir erst hier noch ’n Bier oder gehn wir jetzt gleich in Theos Pinte ein Gyros essen?“ Ja, und von dem Moment an haben wir noch stundenlang über dieses und jenes gequatscht und gelacht, und keinem von uns wäre es in den Sinn gekommen, einem anderen die Freundschaft nur deshalb aufzukündigen, weil er hin und wieder eine andere Meinung vertrat.

    Solch heterogene Gruppen gibt es heute kaum noch. Stattdessen wird „geliked“, wer so denkt wie ich und ruckzuck „entfreundet“, wer vermittels einer abweichenden Meinung das eigene Wahrnehmungsfenster zu beschmutzen wagt, so als wäre dieser Mensch nichts weiter als ein Fliegenschiss.

    Natürlich hat die Toleranz eines jeden Menschen ihre Grenzen, gibt es immer auch Themen, die uns näher, Themen, die uns nahe gehen und infolgedessen die Messlatte für zu verteilende „Likes“ höher legen lassen als üblich. Aber warum sollte das ein Grund dafür sein, sich frühzeitig aus einer Diskussion zu verabschieden, nur weil andere die eigene Meinung nicht zu hundert Prozent teilen, oder sich hinter der resignativen Feststellung zu verschanzen, es lohne einfach nicht mehr, sich an dieser oder jener Diskussion zu beteiligen, was vielfach sogar dann geschieht, wenn zwischen den Teilnehmenden Übereinstimmung im Grundsätzlichen sowie in der Benennung von Zielen besteht. Oft wird sich an einzelnen Formulierungen gerieben oder über den „Ton“ gestritten und nicht selten kommt es zu einem Rückzug auf Meinungsinseln und zu einer Abnahme der Beschäftigung mit Argumenten, bis hin zu der faktischen Weigerung, die eigenen Argumente derselben permanenten Prüfung auf Plausibilität zu unterwerfen wie die der anderen. Parallel dazu scheint sich die Tendenz herauszubilden, Behauptungen und Meinungen von vornherein mit moralisch begründeten Wertungen zu befrachten. Aber wer glaubt, die Moral für sich gepachtet zu haben, lässt dem abweichend Argumentierenden zwangsläufig nur die Rolle des moralisch Anzuzweifelnden, unabhängig davon, ob diese Diskreditierung beabsichtigt ist oder nicht.

    Erklärungen für diese Empfindlichkeit einerseits sowie der selektiven Intoleranz andererseits lassen sich stets auch aus der eigenen Biographie herleiten. Aber eben nur zum Teil. Und es trägt nichts Wesentliches zur Beantwortung der Frage bei, warum es vielen unter uns seit einiger Zeit so schwer fällt, anders Gedachtes als bedenkenswert zu achten und den Andersdenkenden als einen uns gleichwertigen Menschen zu respektieren, statt ihn auf seine Meinung, eine Meinung zu reduzieren. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich rede hier weder von faschistoiden Geschichtsleugnern noch von Hypermoralisten, deren Menschenbild in Bezug auf Andersdenkende hier und da gleichfalls bereits totalitäre Züge trägt - nein, ich meine hier ausschließlich die geschätzten 80 Prozent diesseits der beiden genannten Gruppen, ich rede von denen, die auf der Basis eines gemeinsamen Wertekanons bislang den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gesichert haben, so sehr sie sich auch in der Analyse eines Problems sowie hinsichtlich der zu dessen Lösung als zielführend erachteten Herangehensweise uneins waren und sind.


    Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir einer nach dem anderen von einem Virus befallen, der uns in den Wahn eines unbedingten Rechthabenmüsssens treibt. Schwarz oder weiß. Us or them. Oder wir mutieren in der sprachlichen Kommunikation zu Autisten, die einander nicht mehr zuzuhören wissen, die in parallel gesprochenen Monologen aneinander vorbeireden und das Missverständliche mit unfehlbarer Zwangsläufigkeit tatsächlich missverstehen.


    Woher kommt mit einem Mal dieses Bedürfnis, sich vorzugsweise nur noch mit gleich oder ähnlich Denkenden abzugeben? Die zuweilen besserwisserische Arroganz? Woher die große Empfindlichkeit, die eine abweichende Meinung häufig bereits als einen Angriff auf die eigene Person interpretiert und mit einem Beleidigtsein ahndet, das sich mir hier und da fast schon aus einem Beleidigtseinwollen zu speisen scheint?

    Was also hat sich geändert? Nein, früher war nicht alles besser. Ganz gewiss nicht. Aber seit dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 habe ich zum ersten Mal wieder richtig Angst. Angst, dass schon bald nur noch die Stimmen derer zu hören sein werden, die am lautesten schreien. Angst, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft zerbricht und an deren Stelle eine Gesellschaft tritt, in der vermutlich niemand von uns leben möchte.


    Reden löst nicht alle Probleme. Weder in der Paartherapie noch im Austarieren der Interessen vieler verschiedener Gruppen innerhalb einer mittlerweile sehr heterogenen, einer sehr bunt gewordenen Gesellschaft. Aber miteinander zu reden ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir uns nicht gänzlich fremd werden, fremd bleiben.

    Aus Sprachlosigkeit kann nichts Gutes erwachsen.


    Wie seht ihr das?

    Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich die Rechtsprechung in Sachen Zitate fortlaufend ändert.

    Das hatte ich vielleicht ein wenig missverständlich formuliert. Meine Feststellung bezog sich auf alle rechtlichen Aspekte, die für eine aktive Nutzung des Internets - Teilnahme an Forumsdiskussionen, das Betreiben eines Blogs, die eigene Website et cetera - relevant sind.

    Und der Grund, dass es im Internet zu allen Themen immer genau eine Meinung mehr gibt als Meinungsäußerer liegt einfach darin, dass viele sich für kompetenter halten als alle Anderen um sie herum.

    Ich habe noch immer nicht ganz die Hoffnung aufgegeben, dass eines Tages Gesetze geschrieben werden, die ich zumindest im Grundsätzlichen ohne das Verbleiben von Zweifeln verstehen kann. Und wenn das schon nicht möglich sein sollte, sich in der Auslegung von Gesetzestexten wenigstens diejenigen, die schon von Berufs wegen Experten in diesen Dingen sind, zumindest in den wesentlichen Punkten einig sind. Aber vielleicht bin ich mit meiner Hoffnung nur naiv.

    Hallo Tom,


    herzlichen Dank dafür, dass du dir bei allem, was dir derzeit um die Ohren fliegt, die Zeit nimmst, auf meine beiden Fragen zu antworten.

    Ich muss gestehen, dass ich in juristischen Dingen völliger Laie bin und dementsprechend verunsichert, zumal sich ja auch die diesbezügliche Rechtssprechung fortlaufend ändert, was vermutlich auch der Grund dafür ist, dass die im Internet zu findenden Aussagen zu vielen Themenkomplexen oft voneinander abweichen, zum Teil sogar einander widersprechen.

    Aber wenn das Zitieren eines einzelnen Satzes unproblematisch ist, dann reicht mir das schon. Ich hatte eh nicht vor, längere Textpassagen zu zitieren.


    Auch dir alles Gute!

    Ich wünsch dir einen schönenTag,


    Jürgen

    Liebe 42er,


    seit mehreren Monaten bin ich im Forum nicht mehr aktiv gewesen. Das ist ausschließlich gesundheitlichen Gründen geschuldet, die zum Teil bis heute fortdauern. Allein die Nebenwirkungen einiger Medikamente, die ich im Rahmen einer Schmerztherapie einnehmen musste, waren zum Teil gruselig. Aber wenigstens zeigt diese Therapie inzwischen Wirkung und nach einer Dosisreduzierung fühle ich mich endlich nicht mehr wie ein Zombie. Das lässt mich zumindest hoffen, während der kommenden Tage und Wochen allmählich wieder in die Spur zu finden.


    Soweit es meine Mitwirkung hier im Forum betrifft, habe ich jetzt einige Fragen:


    - Wie setze ich in einem Posting einen Link, zum Beispiel auf einen Blogbeitrag oder einen Zeitungsartikel?


    Zu den beiden folgenden Fragen widersprechen im Internet gefundene Aussagen zum Teil einander, weshalb ich sie sicherheitshalber hier stelle.


    - Verlinkte Inhalte. Bin ich in einem juristischen Sinn verantwortlich für die verlinkten Inhalte? Mein bescheidenes Wissen in diesen Dingen hat seit dem Urteil des OLG Hamburg gegen den Heise-Verlag kein Update mehr erfahren, und das ist ja bereits eine Weile her.

    - Zitate. Wen und in welchem Umfang darf ich im Rahmen eines Postings zitieren? Braucht es dazu eine Einwilligung des Zitierten? Muss für jedes Zitat die Quelle genannt werden, zum Beispiel bei Aussagen, die im Rahmen eines Interviews gemacht werden? Existieren rechtliche Unterschiede hinsichtlich der Quelle - Privatpersonen, Printmedien, Onlinemedien, Firmenschriften, Regierungsverlautbarungen, Wahlpropaganda et cetera?


    Vielleicht kennt sich ja jemand von euch in diesen Dingen aus und kann mir weiterhelfen.


    Ich wünsch euch einen schönen Abend,:)


    Jürgen

    Hallo Tom,


    danke für die Mühe, diesen Beitrag verfasst und im Literaturcafé veröffentlicht zu haben.

    Dessen Inhalt, mit dem ich zum überwiegenden Teil übereinstimme, will ich hier nicht weiter kommentieren. Umso mehr beschäftigen mich aber die Reaktionen auf den Artikel, insbesondere dort, wo er Widerspruch hervorruft.


    Bereits die Tatsache, dass gerade jene hypersensiblen Wächter über das geschriebene Wort, die mit ihrem Tunnelblick das Universum permanent auf tatsächliche oder vermeintliche Mikroaggressionen absuchen, selbst jedoch mal hämisch, mal mit offener Feindseligkeit ohne jede Empathie, und ohne einen Funken Sensibilität verbal auf all die eindreschen, die ihnen nicht mindestens zu hundert Prozent beipflichten, irritiert. Mehrmals tauchen in den Kommentaren auch Worte wie „widerlich“ und „ekelhaft“ auf, und eine Person „konnte gar nicht so viel kotzen, wie sie lesen musste“. Nun wüsste ich beim besten Willen nicht zu sagen, was an dem Artikel ekelhaft und widerlich sein sollte. Womit ich in meiner Naivität und Unschuld in deren Augen jetzt vermutlich auch zu einem Rassisten, Sexisten und AFDler geworden bin, als die sie all jene diffamieren, die die genannte 100-Prozent-Quote nicht schaffen.

    Merke: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber offensichtlich gilt das nicht für alle.

    Auch die von mir als solche wahrgenommene Abwesenheit etlicher jener Dauerempörten in den Medien, in Blogs und Foren ist auffällig, sobald es dort um strukturelle Gewalt, Gewalt schlechthin sowie Diskriminierung außerhalb ihres Wahrnehmungsrahmens geht. Warum melden sie sich nicht mit der gleichen Vehemenz bei Themen wie sexuellem Missbrauch und Kindesmisshandlung zu Wort? Und was ist mit den unzähligen Mobbingopfern innerhalb der sogenannten Mehrheitsgesellschaft, was mit den Verarmten, den Aussortierten oder auf andere Weise an den Rand der Gesellschaft Gedrängten? Ist deren Leiden von geringerer Wichtigkeit oder gar irrelevant? Liegt es vielleicht daran, dass in diesen Fällen das ansonsten omnipräsente Feindbild eben jenes Popanzes „Mehrheitsgesellschaft“ nicht anwendbar ist und man sich stattdessen auf eine mühsame Ursachenforschung einlassen müsste? Denn das ist ja das Schöne an Feindbildern: Sie passen in jede Hosentasche, kann sie also überallhin mitnehmen, und sie erklären auf leicht verständliche Weise jede Fehlfunktion des Universums inklusive des Verweises auf den jeweiligen Schuldigen.

    Aber okay. Hab’s schon kapiert. Alle sind gleich. Aber manche sind halt gleicher. Auch in ihrem Leiden.


    Wenn ich Diskussionen über stark polarisierende Themen verfolge, stelle ich mir immer wieder die Frage, woher der Glaube mancher Menschen an ihre eigene Unfehlbarkeit kommt, woher sie die Sicherheit nehmen, immer und überall recht zu haben oder, einfacher formuliert: die Guten zu sein. Aber wer recht hat, muss es sich ja von irgendwoher genommen haben. Also: wer entscheidet, was edel, hilfreich und gut ist und was verachtenswert? Und an welcher Stelle exakt das Verachtenswerte beginnt? Wer folglich ein Rassist ist und wer nicht? Nur als Beispiel. Und womit die Rechthaber ihre Anmaßung begründen, dies bis in den alltäglichen Sprachgebrauch hinein ausformulieren zu dürfen und festzulegen, welche Wörter „rein“ und welche „unrein“ seien?


    Jeder hat seine eigene, ganz persönliche Perspektive auf die Wahrheit, aber jene bereits mit der Wahrheit selbst gleichzusetzen, ist fatal und tötet am Ende jede Debatte. Andersherum ist der ernsthafte Versuch, die Perspektive anderer Menschen einzunehmen oder sich zumindest mit deren Perspektiven auseinanderzusetzen der einzige Weg, um zuletzt, vielleicht, hoffentlich, endlich auch Rassismus, Sexismus, Ableismus und andere diskriminierende Denkmuster aufzulösen, zu denen auch die reflexhafte Vorverurteilung Andersdenkender zählt. Das ist ein mühseliger und langwieriger Prozess. Aber anders geht es nicht.

    Deshalb: eine größere Achtsamkeit, ja, selbstverständlich. Mehr Diversität in Romanen, ja, wenn es die Geschichte hergibt. Aber nicht mit der Brechstange, nicht anhand quotenähnlicher Checklisten, nicht mit erzwungenen neuen Sprachregelungen, mit Eklats und der Androhung von Klagen, nicht über den Versuch der Bevormundung oder gar Einschüchterung von Autorinnen und Autoren ... nicht vermittels neuer Stigmatisierungen und Diskriminierungen anstelle der alten.

    Auch das irritiert, dass die Hardcore-PCler nicht bemerken, wie sie mit ihrem Dogmatismus und ihrer Intransigenz den Rechten den Weg ebnen. Denn das Einzige, was dieser moralisch begründete Rigorismus hervorbringt, ist die stetige Verstärkung eines bereits jetzt beängstigende Ausmaße annehmenden gesellschaftlichen Rollbacks.

    Aber um Argumente geht es diesen Menschen ja schon längst nicht mehr, ist es ihnen vermutlich auch nie gegangen.


    Dennoch ist es wichtig, diese kontroversen Diskussionen zu führen, immer und immer wieder, so frustrierend es auch sein mag. Schon allein, um die Nachdenklichen, die Abwägenden zu erreichen, die nach meiner Beobachtung weit zahlreicher sind, als ihre Zurückhaltung vermuten lässt, und ohne deren Hilfe der von mir als unabdingbar empfundene Prozess einer fortwährenden Überprüfung der eigenen Position schwierig, wenn nicht gar unmöglich ist, und, ebenso wichtig, um nicht den Dialog mit jenen um politische Korrektheit Bemühten abreißen zu lassen, die diesen Dialog auf der Basis von Argumenten zu führen bereit sind.


    Nochmals danke, Tom, für diesen wichtigen und notwendigen Artikel.