Die Steinzeitnomaden hatten eine bessere Work-Life-Balance und mehr individuelles Lebensglück als wir (und vor allem als ihre unmittelbaren Nachfolger, die Ackerbauern und Viehzüchter): Ist diese These originell oder nicht?
Vielleicht ist die spezielle These von Harari originell, ich kann das nicht beurteilen, mit Ur- und Frühgeschichte kenne ich mich nicht besonders aus. Nicht sehr originell ist der Ansatz, in eine zurückliegende Zeit eigene Wünsche nach z. B, nichtentfremdeter Arbeit, einem Leben mit schön viel Outdoor-Aktivität usw. zu projizieren. Der Verdacht, dass Harari etwas in der Art macht, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Geht mir jedenfalls so bei der Lektüre. Btw: Dass Horst-Dieter auch ohne eigene Lektüre auf diese Vermutung kam, beweist möglicherweise seinen guten Riecher.
Die These von Harari ist trotzdem nicht uninteressant. Vielleicht ist ja was dran. Das Dumme ist, wir werden es nie so richtig wissen. Aber das muss uns nicht hindern, in der Sache selber zu argumentieren.
Ich persönlich brauche eine solche These oder Sichtweise nicht. Ich halte die Frage nach dem individuellen Lebensglück von Steinzeitmenschen nicht für so bedeutsam. Harari braucht sie, glaube ich, für seine Gesamt-Diagnose der menschlichen Entwicklung.
Aber ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles zu abstrakt bleibt. Daher mache ich mal den Versuch, ins Detail zu gehen. Textanalyse ist bei Sachbüchern nicht weniger interessant als bei Belletristik.
Ich bleibe dafür mal bei den Steinzeit-Thesen.
ZitatWegen ihrer ausgewogenen und vielseitigen Kost, ihrer kurzen Arbeitszeiten und ihrer gesunden Lebensweise bezeichnen Historiker die Wildbeuter der Steinzeit gern als »die erste Wohlstandsgesellschaft«. Trotzdem sollten wir das Leben dieser Jäger und Sammler nicht durch eine rosarote Brille sehen. (S.72)
Ich habe ja irgendwo oben schon gesagt, dass Historiker gern mal scherzhaft von solchen Dingen sprechen. Erste Wohlstandsgesellschaft. In seriösen Fachpublikationen hält man sich mit solchen Dingen zurück. Weil solche Bewertungen viel zu weit gehen. In der Wissenschaft hütet man sich davor, Aussagen zu machen, die zwar lustig klingen, aber nicht belegbar sind.
Harari braucht das aber an dieser Stelle, die Behauptung, Historiker würden die Steinzeitgesellschaft gern so bezeichnen. Es geht um das gern. Dadurch kann er im nächsten Satz als derjenige in Erscheinung treten, der diese etwas zu enthusiastischen Forscher auf den Boden der Tatsachen holt. Bitte mal die rosarote Brille absetzen.
Er inszeniert das also so, dass (einige? viele?) Historiker gern die rosarote Brille aufhaben, und er nicht, im Gegenteil, er behält den Durchblick. Er ist seriös.
In Wirklichkeit hat er selbst das so dargestellt, niemand sonst. Und die rosarote Brille haben nicht irgendwelche Historiker auf, sondern seine Leser, und zwar deshalb, weil er sie ihnen vorher aufgesetzt hat. Jetzt möchte er, dass sie sie abnehmen.
Das ist Rhetorik vom Feinsten. Aber warum eigentlich? Wozu macht er das? Nur um sich selbst als seriös darzustellen? Ich denke, es gibt noch einen wichtigeren Grund. Das pseudoseriöse Absetzen der rosa Brille ist die Einleitung zu etwas, um das er leider nicht herumkommt. Er muss da etwas zur Sprache bringen, was nicht so schön ist. Und er muss das tun, weil es wirklich auffällig wäre, wenn er das ausspart. Also versucht er es wenigstens geschickt anzukündigen. Also, was kommt da jetzt?
ZitatSie lebten zwar besser als die meisten Menschen in Agrar- und Industriegesellschaften, doch ihre Welt konnte hart und erbarmungslos sein. Zeiten der Entbehrung waren nicht selten, die Kindersterblichkeit war hoch, und ein Unfall, etwa ein Sturz von einem Baum, konnte einem Todesurteil gleichkommen. Die meisten Menschen genossen vermutlich die Intimität der umherziehenden Gruppe, doch die Unglücklichen, die sich die Feindschaft oder den Spott der anderen zuzogen, hätten Sartre beigepflichtet, als er sagte, »die Hölle, das sind die anderen«. Auch heute lassen Jäger und Sammler ihre Alten und Kranken oft zurück oder töten sie, weil sie nicht mehr mit der Gruppe mithalten können. Unerwünschte Neugeborene und Kleinkinder werden getötet, und gelegentlich kommt es auch zu religiösen Menschenopfern. (S.72)
Hart und erbarmungslos. Besonders interessant finde ich den Satz mit den Unglücklichen, die sich die Feindschaft oder den Spott der anderen zuzogen. Das heißt ja wohl, dass alle möglichen Formen von Abweichung, von Anderssein hart und erbarmungslos sanktioniert wurden. Oder pardon, werden konnten. Ich muss sagen, das gefällt mir nicht so. Aber schauen wir mal weiter. Da kommt ja noch mehr. Am Beispiel der Aché (einer indigenen Ethnie in Südamerika) versucht Harari ein Bild zu skizzieren, was das Steinzeitleben so an Unannehmlichkeiten geboten haben könnte. (Die archäologisch ausgerichtete Ur- und Frühgeschichtsforschung bezieht seit einiger Zeit auch Forschungsergebnisse der Anthropologie mit ein.)
ZitatWenn alte Frauen der Gruppe zur Last fielen, schlich sich ein junger Mann von hinten an sie heran und erschlug sie mit einer Axt. Einer der Männer erzählte den neugierigen Anthropologen von seinen besten Jahren im Urwald. »Ich habe immer die alten Frauen umgebracht. Ich habe meine Tanten erschlagen … Die Frauen hatten Angst vor mir … Hier, bei den Weißen, bin ich schwach geworden. Ich habe viele alte Frauen umgebracht.« Kinder, die ohne Haare zur Welt kamen, galten als unterentwickelt und wurden sofort getötet. Eine Frau erinnerte sich, dass ihr erstes Baby umgebracht wurde, weil die Männer der Gruppe keine Mädchen mehr wollten. Bei einer anderen Gelegenheit erschlug ein Mann einen kleinen Jungen, »weil er immer schlecht gelaunt war und oft weinte«. Ein anderes Kind wurde lebendig begraben, »weil es komisch aussah und die anderen Kinder es gehänselt haben«.
Trotzdem sollten wir nicht vorschnell über die Aché urteilen. (…) Für sie war die Tötung von Kindern, Kranken und Alten nichts anderes als für uns Abtreibung oder Sterbehilfe. (S.73)
Uff. Jetzt wäre ein bisschen rosarot gar nicht so schlecht. Aber wir sollen ja nicht vorschnell urteilen. Gewalt ist nun mal ein kniffliges Thema. Mit dem wir auch immer noch nicht fertig sind.
ZitatUnd dann ist da noch die heikle Frage nach dem Krieg. Einige Wissenschaftler beschreiben die Welt der Jäger und Sammler als Paradies und behaupten, Krieg und Frieden begannen erst mit der landwirtschaftlichen Revolution, als die Menschen anfingen, Privatbesitz anzuhäufen. Andere Wissenschaftler beschreiben die steinzeitliche Welt dagegen als ausgesprochen grausam und blutig. Beide Theorien sind Luftschlösser, die auf mageren archäologischen Funden und der Beobachtung moderner Jäger und Sammler errichtet werden. (S. 80)
Einige Wissenschaftler sagen dies. Andere sagen das. Ich sage: Luftschlösser. Die können das doch gar nicht beweisen.
Das ist ganz hohe Kunst. Was macht man, wenn das, was man behaupten möchte, weniger gut belegt ist als das, was einem nicht so in den Kram passt? Gar nicht so einfach.
Erste Maßnahme: Man geht ein paar Schritte zurück, reckt den Daumen hoch und sagt Pi. Das Ergebnis ist ein bisschen verschwommen, und das soll es auch sein. Einige Wissenschaftler? Wer? Egal. Braucht niemand zu wissen.
Zweite Maßnahme: Es handelt sich ja um zwei konkurrierende Thesen. Im Prinzip sind die doch gleichwertig, wenn man keine so richtig beweisen kann, oder? Beides Luftschlösser. Voilà – Problem gelöst.
Meine These: Hararis Rhetorik ist viel subtiler, als man das bei normaler Lektüre so merkt. Der Mann hätte Prediger werden sollen. Aber vielleicht ist er das ja.
Morgen (oder falls ich es zeitlich nicht schaffe, übermorgen) setze ich das noch ein bisschen fort. Zum Thema Gewalt ist hiermit nämlich noch nicht alles gesagt.