Beiträge von Tom

    Ging mir tatsächlich nicht so, aber ich weiß, dass Mitchell das Selbstreferentielle sehr weit treibt, und dass seine Fans (Du bist ja auch bei den Eulen und liest wahrscheinlich, was Maarten dort anmerkt) das echt lieben. Nach meinem Dafürhalten bleibt auch ohne das mehr als genug übrig, um sein Zeug fantastisch zu finden. Alle Leute, denen ich "Utopia Avenue" empfohlen habe, waren total hingerissen, und keiner von denen hatte zuvor was von Mitchell gelesen.

    Man versteht es auch ohne das. So ging es mir bei "Utopia Avenue" übrigens auch, und das war mein erster Mitchell. Es gibt in "Der dreizehnte Monat" wohl hier und da Verweise auf "Der Wolkenaltlas", aber ich habe mich aufgrund des Fehlens dieser Kenntnisse beim Lesen nicht benachteiligt gefühlt. 8)

    Mmh. "Aufnahme in die Gruppe"? Durch wen? Verbunden mit vorsorglicher Bitte um Entschuldigung, aber für mich liest sich das wie eine mehrfach recycelte Botschaft.

    Zum Henker


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    Im Jahr 1982 ist Jason Taylor anfangs dreizehn, später vierzehn Jahre alt. Er lebt in Black Swan Green, einem Ort irgendwo zwischen London und Oxford, wo es dem Namen zum Trotz keinen einzigen Schwan gibt. In der lebensentscheidenden Hierarchie der – vor allem männlichen – Jugendlichen dort gehört Jason zum Mittelfeld, zu denen, die eher unauffällig sind und immerhin beim Nachnamen gerufen werden, und nicht zu den Aussätzigen, die mit irgendeinem fiesen Spitznamen belegt sind, wie sein Freund Dean, der in Verballhornung seines Nachnamens „Moron“ gerufen wird, also „Idiot“, obwohl Dean natürlich keiner ist. Eigentlich würde Jason auch in diese Gruppe gehören, denn er schreibt nicht nur heimlich Gedichte, die unter einem rebellischen Pseudonym im Gemeindeblatt veröffentlicht werden, was so „schwul“ wie nur irgendwas ist, und schwul kommt einem Todesurteil gleich. Nein, Jason ist auch noch Stotterer, und beim Sprechen peinlich darauf bedacht, Wörter zu meiden, die „Henker“, wie er den Sprachfehler nennt, derzeit als problematisch favorisiert. Eine heftige Stotterattacke vor versammelter Mannschaft würde ihn die Treppe hinunter zu den Nichtswürdigen befördern, deshalb ist Jason ständig extrem auf der Hut. Und darum bemüht, in der Hierarchie vielleicht sogar aufzusteigen, wofür es eines Tages tatsächlich die Chance gibt.


    Es ist das Jahr von Punk und New Wave, von Spandau Ballet und Joy Division, es ist ein Jahr unter Margaret Thatcher, es ist das Jahr, in dem der Falkland-Krieg ausbricht und endet. Es ist das Jahr, in dem Jasons Familie heftige Veränderungen durchläuft, nicht nur ausgelöst durch den Auszug von Julia, der inzwischen volljährigen Schwester, mit der Jason exakt das gleiche Verhältnis hat wie jeder männliche Teenager mit seiner älteren Schwester: Solide Hassliebe. Es ist das Jahr von Jasons erster Schwärmerei, die sich als Fehler erweist, und seines ersten Kusses mit dem richtigeren Mädchen.


    Es geschieht so einiges während dieser dreizehn Monate, von denen „Der Wolkenatlas“-Macher David Mitchell erzählt, beginnend im Januar 1982 und endend im Januar ein Jahr später, wenn fast nichts mehr so wie am Anfang sein wird. Der brillante Romancier baut in einem unvergleichlichen Duktus eine figurenreiche Coming-of-Age-Geschichte, die oft komisch und immer warmherzig ist, jederzeit unfassbar klug, meistens rasant, manchmal mysteriös und voller verblüffender Beobachtungen, die der liebenswürdige Junge einsammelt. Nicht nur Jasons selbst, auch im Ort passiert so einiges, als sich beispielsweise eine Front gegen den Stellplatz für die „Zigeuner“ bildet, als ein Junge aus Black Swan Green im Krieg umkommt, als die geheimnisvollen „Spooks“ neue Mitglieder rekrutieren und als im Hause der Taylors eigenartige Anrufe ankommen. Vor allem aber, als Jason endlich herausfindet, was in seinem Leben viel wichtiger ist, als den Jungen gefallen zu wollen, die von sich annehmen, in der Hierarchie über ihm zu stehen.


    „Der dreizehnte Monat“ ist ein von der ersten bis zur letzten Seite ganz und gar zauberhaftes Buch, ein Pageturner mit Herz und Anspruch und ganz viel Weisheit, und einer der besten Romane dieser Art, die mir bislang untergekommen sind.


    ASIN/ISBN: 349924876X

    Sehr würdiger (vorläufiger?) Abschluss


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    Im Jahr 1986 erschien mit „Der Sportreporter“ der erste Roman von Richard Ford, in dessen Mittelpunkt die Figur Frank Bascombe stand. Später folgten „Unabhängigkeitstag“ und „Die Lage des Landes“. Mit „Valentinstag“ (Originaltitel: „Be mine“) endet die Reihe um den etwas eigenbrötlerischen, klugen, eloquenten Mann (zumindest vorläufig), der außerdem ein exzellenter Beobachter ist, der allerdings sein eigenes Lebensglück nie so richtig auf die Kette bekommen hat, dem es aber immer gut ging.


    Inzwischen ist Bascombe 74 Jahre alt, arbeitet noch Teilzeit in jenem Immobilienbüro, das er schon vor Jahren an einen ehemaligen Partner verkauft hat. Er ist wieder solo, was irgendwie in Ordnung ist – es gelingt ihm anscheinend nie, der Ehemann zu sein, den seine Ehefrauen von ihm erwarten. Im Spätherbst 2020 erhält Bascombe die Nachricht, dass sein Sohn Paul, mit dem das Verhältnis nie einfach war, an ALS erkrankt ist, und dann auch noch an der aggressiven, schnell voranschreitenden Form der degenerativen neuronalen Erkrankung. Frank zieht mit dem erwachsenen Paul – er ist inzwischen 47 Jahre alt – deshalb kurze Zeit später nach Rochester in Minnesota, um dort an der legendären Mayo Clinic die bestmögliche Behandlung zu erhalten. Dass es dabei höchstens um minimale Verbesserungen der Lebensqualität und um geringfügige Verlängerung der Lebenserwartung gehen kann, ist allen klar. ALS ist kaum therapierbar, und heilbar auch nicht.


    Quasi eine Tradition von Frank und seinem Sohn sind etwas eigenwillige Ausflüge rund um irgendwelche Feiertage; vor gut dreißig Jahren, am Unabhängigkeitstag (Roman #2), führte das allerdings zu einem folgenschweren Unfall. Trotzdem will Frank noch ein letztes Mal mit Paul auf einen Roadtrip gehen, dieses Mal zum Mount Rushmore, wo die knapp zwanzig Meter hohen Portraits der vier vermeintlich bedeutendsten US-Präsidenten in den Stein geschlagen sind (auch dieser Bascombe-Roman ist sehr politisch, zeitlich angesiedelt zwischen den zwei Trump-Präsidentschaften). Es ist allerdings tiefster Winter, zuweilen herrschen zwanzig Grad minus, und Pauls Bewegungsfähigkeit nimmt täglich ab. Die Tour wird also nicht ganz einfach werden, auch wenn das gemietete, allerdings etwas in die Jahre gekommene Wohnmobil „Warmer Wind“ heißt. Natürlich geht es nur am Rand darum, irgendeine Sehenswürdigkeit mitzunehmen (die aus der Nähe betrachtet ohnehin weit weniger majestätisch ist, als man sich vorgestellt hatte). Es geht darum, diese letzte oder vorletzte Zeit gemeinsam zu verbringen, alte Wunden zu heilen, das Verhältnis zu klären, sich gegenseitig zu helfen, und einfach Vater und Sohn zu sein – also einander zu haben. Wenn das bei diesen beiden überhaupt geht, denn sie befinden sich in Sachen Bindungsunfähigkeit sozusagen auf Augenhöhe. Das ist – neben dem nahenden Tod, dem Sterben allgemein – auch das Hauptthema dieses Romans, der vielleicht der kurzweiligste aus der Bascombe-Reihe ist.


    Obwohl sich Frank aufopfernd um Paul kümmert, ist der Umgang von Vater und Sohn schnarrig, von starker Lakonie geprägt, aber auch vom gegenseitigen Belauern, und es ist nicht immer gut zu erkennen, ob etwas ein Scherz oder wirklich so gemeint oder beides ist. Die über die Jahre gewachsenen, durchaus auch liebenswürdigen Rituale bewegen sich hier auf einen Höhepunkt zu, während die Distanz zwischen den beiden stagniert, echte Nähe nie entstanden ist. Das ist schmerzhaft und amüsant zugleich, ergänzt darum, dass der brillante Beobachter Frank manchmal Schlüsse zieht, die sich als falsch erweisen, und das eine ums andere Mal besser beraten gewesen wäre, hätte er seine tiefgreifenden Gedanken geäußert, statt sie für sich zu behalten.


    „Valentinstag“ ist – natürlich – stilistisch vom Allerfeinsten, und obwohl oder gerade weil nicht alles rund läuft, manch ein Motiv auf der Strecke bleibt und unterm Strich sehr wenig geschieht, ist das ein fast perfekter Text, ein literarischer Genuss und eine bewegende Geschichte über das, was am Ende bevorsteht. Der Roman, der auch eine Milieustudie über die gegenwärtigen U.S. of A. ist, ist nicht ganz so geschwätzig wie seine Vorgänger, die das natürlich im besten Sinne waren, und, wenn es denn so kommt, ein mehr als würdiger Abschluss der Reihe.

    ASIN/ISBN: 3446277323

    Mmh. Ich weiß nicht, ob ich in dieser Phase schon zu Schreibratgebern raten würde. 8) Eher: Einfach weiterschreiben. Drauflos. Die Geschichte ausspinnen. Laufen lassen. Die Fantasie hyperventilieren. Das wird vermutlich sowieso noch nicht etwas, das in einem halben Jahr bei Diogenes heiß auf der Programmkonferenz diskutiert wird. Sondern etwas, das den Anfang eines Weges darstellt, an dessen Rand vielleicht irgendwann auch Schreibratgeber auftauchen, aber noch nicht jetzt.

    Herrlich erzählt! :)


    Am Rande, weil Du die Nutzungsbedingungen erwähnt hast: Ein großer Spieleanbieter hatte in den natürlich abzunickenden Nutzungsbedingungen seines neuesten Spiels, das vielhunderttausendfach gedownloaded und installiert wurde, weiter hinten einen netten kleinen Hinweis untergebracht, dass die erste Person, die eine Mail an eine dort genannte Adresse schreiben würde, 3.000 Dollar (es können auch zehntausend gewesen sein) bekommen würde. Es hat nach der Veröffentlichung des Spiels mehr als zwei Monate gedauert, bis jemand die Gewinnmail schrieb.


    Die (Terminvereinbarungs-)Digitalisierung im Gesundheitswesen ist so eine Sache. So eine sehr, sehr eigenartige Sache. Aber das gilt nicht nur dort: Mein knapp zwei Jahre altes Auto ist krass vernetzt (und hat einen hypersensiblen Kollisionswarner, aber das ist ein anderes Thema), und wenn beispielsweise ein Wartungstermin droht, kann man, im Auto sitzend, über das zentrale Display seine favorisierte Werkstatt aussuchen und dort direkt online einen Termin buchen. Und zwar minutengenaue Termine, also nix nur alle 5 oder 10 Minuten. Obwohl man die Karre ja abgibt, aber ich habe mir das auch nicht ausgedacht. Sondern einen Termin gebucht. Vierzehnter Januar, 7.42 Uhr. Kein Witz. Das Display zeigte in fröhlichem Grün an, dass die Wartung nun geplant sei und ich bis dahin feini herumfahren könnte.

    Am Ziel angekommen, fand ich dann auch noch eine Bestätigungsmail vor. Ich freute mich und nahm mir vor, auch wirklich exakt um 7.42 Uhr am Counter der Werkstatt zu stehen, keine Sekunde früher oder später.


    Aber dann kam der Anruf.

    "Wir sind an diesem Tag leider ausgebucht."

    "Aber das Terminplanungssystem ..."

    "Ja, wir checken da nicht alle Termine aus, wenn hier jemand direkt einen Termin vereinbart. Ich kann Ihnen noch was im, äh, April anbieten. Ach, nee, da sind ja die ganzen Reifenwechselaktionstage. Also Mai. Wäre Mai okay?"

    "Welches Jahr?"

    "Sehr witzig."

    "Ich will mit dem Auto im Februar in den Urlaub fahren. Wissen Sie, ich bringe es einfach jetzt gleich vorbei, und wenn ein Termin ausfällt, schneller fertig ist oder wenn jemand absagt, machen Sie einfach die Inspektion und sagen mir Bescheid. Einverstanden?"

    "Aber ..."

    "Heute Abend noch. Ich schmeiße die Schlüssel in den Briefkasten."

    "Dann haben Sie aber keinen Wagen."

    "Das ist mir wurscht. Ich kann laufen oder mit den Öffis fahren."


    Am nächsten Tag am Nachmittag kam der Anruf, dass mein Wagen fertig sei. Das war gestern. Sieben Tage vor dem per App vereinbarten Termin.

    aber wem interessiert die eigene Biografie, wenn man nicht Promi ist?

    Eine Biografie unterscheidet sich doch ganz erheblich von einem Erfahrungsbericht, um den es sich hier ganz offensichtlich handelt, bester Dietmar. Und ein weit- und tiefgehender Erfahrungsbericht über das soziale, kulturelle und gesellschaftliche Leben als Ausländer in einem Land, das zur Gruppe der drei mächtigsten Staaten der Welt gehört, mag auch Leute interessieren, die sonst nur Promibios in sich hineinschaufeln. Sogar weit mehr Leute.

    Wohl eher "Anzahl der Zeichen"

    Nö. Das ist alles, was Verlage zumindest von mir in den letzten Jahren als Kennzahl für die Produktionsplanung hören wollten: Die Anzahl der Wörter. 90.000 Wörter sind ungefähr ein 400-Seiten-Roman, mit 50.000 ist man bei knapp 250 Seiten. Die Zahl ist meiner Kenntnis nach viel gebräuchlicher als jede andere, die übrigens genauso wenig verlässlich ist, denn exakt vorhersagen, was sich im Satz ergibt, kannst Du mit beiden nicht.


    Aber man kann ja beides angeben bzw. mit einem Klick sehen.

    Hallo, Tom.


    Das hört sich tatsächlich interessant an. In "meiner" vorletzten Agentur gab es einen Autor mit ähnlichem Background, der auch vergleichsweise bekannt ist, und ansonsten wird das zutreffen, was Du über populäre Literatur über China schreibst. Insofern sollte es Chancen geben, und Du scheinst ja auch mit der Schriftsprache umgehen zu können. Übrigens muss das nicht stimmen, was Du über das Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag beim Selfpublishing schreibst - stellt jemand fest, der mal energischer Gegner dieser Option für Erstveröffentlichungen war. Aber, ja, diejenigen, die damit wirklich nennenswert verdienen, sind in einer krassen Minderheit. Das sind die, die mit Verlagsveröffentlichungen ordentlich einsacken, aber ebenso.


    Es gibt im Literaturcafé u.a. Word-Vorlagen, die sich an der "Normseite" orientieren, aber nicht nur ich, sondern auch viele andere Autoren und -innen, die mir bekannt sind, nutzen derlei längst nicht mehr, weil in 12-Punkt-Courier gesetzte Seiten einfach scheiße aussehen und sich irgendwie blöd lesen lassen. Es gibt eine einzige wichtige Kennzahl, um die Länge eines Manuskripts und damit die Umrechnung in Druckseiten zu bestimmen, das ist die Anzahl der Wörter. Die zeigt jede Standardtextverarbeitung aber inzwischen automatisch an. Und wie auch immer Du das machst - die meisten Verlagsleute schießen eingehende Texte, mit denen sie sich weiter befassen wollen, ohnehin in ihre eigenen Vorlagen ein.

    Hallo, äh, Tom.


    "In Eigenregie über einen Verlag" ist oxymorotisch. Entweder in Eigenregie oder über einen Verlag.


    Die Idee, die richtigen Verlage auszuwählen und anzuschreiben, ist nicht die schlechteste. Man bietet ein Exposé und eine Leseprobe an, ergänzt um eine Vita (von sich selbst) und ein knappes, professionelles Anschreiben. Wenn es fertig ist, kann man auch gleich das gesamte Manuskript anbieten (in aller Regel wird derlei inzwischen per Mail entgegengenommen). Ob man einen Sachbuchverlag wählt, der das Thema bereits beackert, oder einen, der bislang nur ähnliche Themen beackert, aber beim fraglichen noch eine Lücke hat, muss man selbst entscheiden. Oder man macht beides. Kostet ja nüscht, wenn man per Mail streut.


    Oder man geht über eine Agentur, aber das ist inzwischen genauso schwierig wie die direkte Verlagssuche, zumindest bei Belletristik.


    Oder man wählt das Selfpublishing, aber diese Möglichkeit hat man nach erfolgloser Verlagssuche ohnehin noch.


    Ich kann mir vorstellen, dass es derzeit durchaus eine gute Idee ist, Texte über China anzubieten, vor allem, wenn sie neue/bislang unbekannte Blickwinkel eröffnen. China ist ein recht großes Thema. Aber es hängt nicht nur vom Was ab, sondern auch davon, wie es gemacht ist. Das ist sogar fast immer entscheidend.

    Eigentlich hört sich das nicht so gut an, wenn man von Bedürfnissen penetriert wird, und ist das nicht ohnehin ein unzeitgemäß sexistisches Bild? 🤔


    So oder so, neun Seiten sind noch kein Roman, zumal eine Struktur ja nur "grob drin" ist, und letzter beim PoetrySlam sollte auch nicht in der ersten Zeile der Vita stehen. Ich würde davon abraten, diese ersten im Adrenalinrausch verfassten Ergüsse (um im Bild zu bleiben) auf/in/über die weitgehend anonyme Menschheit zu verklappen, auch wenn diese nur durch ein paar Leute im öffentlichen Forum der 42er repräsentiert wird. Lieber ein paar Tage oder, besser, Wochen sacken/liegen/reifen lassen, möglicherweise mit etwas Abstand noch einmal anfassen, kritisch selbst lesen, möglicherweise überarbeiten, vielleicht sogar auf einem geeigneteren Device. Und dann, falls es sich immer noch gut anfühlt, wiederkommen. Bitte nicht vorher den hier erteilten Anmeldetipps folgen und daraus einen Besprechungstext machen.


    Danke. 🫶

    So, hier nun die Rezension:


    Meister-Werk


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    Jeder Roman von Frank Schulz ist ja sowieso ein Meister-Werk (okay, abgesehen von diesem blöden Kreuzfahrt-Ding), weil Schulz einfach der Meister ist, weil er wie niemand sonst schreibt, weil seine Sprachgewalt, sein Witz, seine Klugheit, seine Stilsicherheit, sein Wissen und sein Umgang mit Figuren und Dramaturgie alle ausnahmslos in den dunkelsten Schatten stellen, weil er bis in die feinste Nuance beobachtet und beschreibt und nacherlebbar macht, weil er die hohe Schriftsprache reitet wie ein unfassbar schönes, ungestümes Wildpferd, das nur ihn und sonst niemanden auf seinen Rücken lässt. Puh (und was für ein herrlich klebriger Vergleich!). Ja, ich bin ein Fan, das dürfte subtil zwischen diesen Zeilen hindurchscheinen, ein glühender Verehrer dieser Kunstfertigkeit, dieser Cleverness, dieser skalpellenen Präzision, das war und wurde ich schon, als ich vor nicht wenigen Jahren zum ersten Mal „Morbus Fonticuli“ lesen durfte, den zweiten Teil der Hagener Trilogie, ein Zufallsfund aus dem zweitausendeins-Merkheft, der mir schlicht den Stecker zog, um es mit Herrndorf zu sagen. Aber „Amor gegen Goliath“ lässt selbst das wie eine bemühte Erstlingsskizze erscheinen, wie eine Schreibübung.


    Dabei macht es einem der Einstieg wahrlich nicht leicht, und genau genommen wird es später auch nicht wesentlich einfacher. Während der Lektüre der ersten zwei-, dreihundert Seiten von immerhin 750 insgesamt habe ich deshalb nicht selten gezweifelt, mich gefragt, was das soll, warum Schulz einem das zumutet, dieses oft sehr anstrengende, unter einer dicken und nicht immer komfortablen Wörterdecke fast erstickende bisschen Geschichte, das einfach nicht aus den Puschen zu kommen scheint, während im Detail rätselhaft bleibt, worum es geht oder irgendwann gehen wird, wenn bitte bitte endlich Handlung einsetzt. Die Motive werden allerdings früh genug flächig ausgebreitet. Themen sind Liebe und Freundschaft, Depression und Angststörung, Sex und das Fehlen desselben, Kommunikation und Journalismus, aber diese Themen dekorieren lediglich das Hauptthema: Den Klimawandel und den Umgang der Gesellschaft mit ihm. Vor allem der Umgang jenes Teils der Gesellschaft, der wirtschaftliche Fragen oder gar fehlende mentale Kompetenz nicht als Ausrede für die Nichtbefassung nutzen kann. Dürfte. Sollte.


    Schulz erzählt von einem Hamburger Beau, der in den mittleren Fünfzigern angekommen ist, sich für ein Geschenk an die Weiblichkeit hält (die das ihrerseits zu einem Gutteil aber ebenso sieht oder zu sehen scheint) und der als freier Journalist für ein linkes Lifestyle-Magazin arbeitet: Dr. phil. Philip Büttner. Die zweite Figurenkonstellation lebt in Osnabrück und bildet den Kern der Schar: Der vierzig Jahre alte Musiker Richard „Ricky“ Köttenpeter mit seiner in jeder Hinsicht traumhaften Ehefrau Cathrin, der Psychologin, die bei E4F – Everydays for Future – extrem engagiert ist. Ricky hingegen zweifelt täglich ein bisschen mehr an ihrer Treue und eilt einer schweren Depression mit großen Schritten entgegen, während das Vorankommen im eigenen Leben immer kleinschrittiger wird – und dabei schließlich sogar die Richtung wechselt. Außerdem ist da noch Ilona Gamasch, eine achtundsechzig Jahre alte Achtundsechzigerin, die immer noch ein bisschen an ihrem ein bisschen berühmten Ex hängt, obwohl der inzwischen von wohlmeinend nach populistisch gewechselt ist. Wir befinden uns zunächst im frühen Jahr 2020, also am Beginn der Pandemie. Der Handlungszeitraum umspannt von dort beginnend im Wesentlichen zwei Jahre. Das nahezu gesamte Personal des Romans wird im letzten Drittel aufeinandertreffen, in Kalokairos auf Südkreta, was nicht nur dramaturgisch perfekt hergeleitet ist, sondern in einem Schulz-Roman (außer den Vietsen) nicht fehlen darf: Griechenland muss immer. Griechenland geht aber auch immer.


    Durchsetzt von Rückblenden, Auszügen aus Texten und Interviews, fantastischen Dialogen und brillanten Diskursen – alles perfekt eingebettet in das Geschehen – führt Schulz über diese immer spannender werdenden 750 Seiten hinweg nicht nur zu einem fulminanten Ende, sondern auch und vor allem zu einer Erkenntnis. Denn „Amor gegen Goliath“ ist, und daher rührt vermutlich die ansonsten unbegreifliche Zurückhaltung des Feuilletons, ein Haltungsroman. Er ist in dieser Hinsicht völlig eindeutig und lässt keine Zweifel zu, bietet keinen Raum zur Ausdeutung, erlaubt keine Gegenargumente. Das Buch ist ein Manifest.


    Und außerdem das mit Abstand beste, was ich in den letzten Jahren an deutschsprachiger Literatur in die Finger bekommen habe.

    ASIN/ISBN: 3869712376

    Hallo, Anja.


    Ich meine nicht "eine Stimmung", sondern das, was Nilsmarvin drei Nachrichten weiter oben skizziert hat, beispielsweise diese ganz besondere Stimmung, in die sich eine Gruppe (ab zwei Personen) selbst bringen kann, diese immer unterschiedliche Mischung aus Kreativität, Wahnsinn, Genie, Bedröhntsein, vertrauter Zuneigung und noch ein paar anderen (wechselnden) Zutaten. Nicht simple Melancholie oder Euphorie oder so, sondern dieses ganz besondere Momentum, das es leider nicht oft gibt.

    Marvin Ich versuche gerade, genau eine solche Situation zu verschriftlichen. Vier Männer sitzen in einem Auto, die Fahrt ist sehr lang, und dann macht einer aus etwas, das einer gesagt hat, einen Witz, und das kaskadiert dann. Ist aber nicht ganz leicht rüberzubringen. Mal schauen, ob ich's schaffen werde (geschafft haben werde).