Darf die Öffentlichkeit die Gedanken eines Kindermörders kennen?

  • In Spanien erschien, vielmehr sollte ein Buch des Bestsellerautors Luisgé Martín erscheinen, das sich mit José Bretón, dem verurteilten Mörder seiner beiden Kinder beschäftigt. Nachdem es zuerst eine gerichtliche Freigabe des brisanten Stoffes gab, verweigerte der Verlag Anagrama die Auslieferung. Nicht zuletzt wegen des Einspruchs der spanischen Staatsanwaltschaft gegen die Freigabe. Während der Täter vor Gericht nie gestanden hat, tut er das nunmehr in L. Martíns Buch.

    Darf man so etwas tun, wie bspw. ehedem Truman Capote mittels seines brillanten Werks: In cold blood? Oder ist das künstlerisches Tabu, weil es jemandes Gefühle verletzt?

    Hier der Link zum diePresse Artikel.

  • Wenn Bücher verboten würden, weil sie „jemandes Gefühle verletzen könnten“, dann müssten sehr viele Bücher verboten werden. Mit den wenigen hier aufgeführten Fakten finde ich es schwierig, eigentlich unmöglich, diese Frage zu beantworten. Es verlangt nach einer Verallgemeinerung, die man eigentlich nicht machen kann. Gerade, wenn man sich überhaupt keinen Eindruck von dem Buch verschaffen konnte. (Nicht, dass dieser Bann grundsätzlich umgesetzt wurde, wenn man danach googelt, kann man eine spanischsprachige Hörbuchfassung als MP3 angeboten finden.)

    Dieses Buch ist unter der wahrscheinlich unabdingbaren Mitwirkung eines Mörders geschrieben worden. Es breitet womöglich die Umstände ungefiltert (?) aus. Wer könnte der Mutter verdenken, dass sie weitere Einzelheiten und womöglich Verunglimpfungen nicht breitgetreten haben möchte? Was wäre denn, wenn z. B. Dominique Pélicot ein Buch aus seiner Sicht veröffentlichen wollte?

    Es ist ein Einzelfall: Was man daraus lernen könnte, sei mal dahingestellt. Dass Menschen zu monströsen Taten fähig sind? Wusste man das nicht schon? Hülfe es, in Zukunft solche Taten zu verhindern? Wohl kaum.

    Unbesehen glaube ich, dass ein fähiger Autor ein „gutes“ Buch aus jedem Stoff machen könnte, also auch aus diesem.

    Da steht dann das Recht eines Autors dem Wunsch der Mutter entgegen, auch ihr Leben nicht aufs Neue und immer weiter (was ohnehin durch die Tat schon passiert ist) vom Vater und Mörder der gemeinsamen Kinder beeinflussen zu lassen?

    Schwierig.

    Es würde mich nicht wundern, wenn hier das letzte Wort auch noch nicht gesprochen wäre. Es scheint sich ja um eine zivilrechtliche Auseinandersetzung zu handeln. Womöglich kommt das Buch letztendlich mit Kürzungen oder auch ungekürzt doch noch auf den Markt?

    Interessant finde ich einen in einem Artikel angesprochenen Vergleich zur sog. Holocaust-Literatur, einer Debatte, die der Fall in Spanien entfacht haben soll. Aber kann man denn ein Menschheitsverbrechen mit einem persönlichen Rachefeldzug eines Einzelnen vergleichen und daraus irgendetwas für dieses Buch ableiten? Ich glaube nicht.

  • Ich bin zwar kein großer Anhänger von True-Crime-Geschichten, finde aber, dass man derlei Themen nicht verbieten oder verhindern sollte. Als Vater möchte ich zwar keine Bücher über ermordete Kinder lesen, aber wer das tun möchte, sollte eine aufrichtige Abhandlung des Themas (und darum dürfte es sich bei
    Luisgé Martíns Werk handeln) durchaus lesen dürfen.


    Vor Jahren habe ich mal ein Buch gelesen, in dem es um Mark David Chapman, den Mörder von John Lennon ging. Ich fand die Schilderung von Chapmans Geisteszustand höchst aufschlussreich und bin froh, dass es dieses Sachbuch gibt (bzw. gab - inzwischen ist es out of print). So viel anders dürfte das Buch über José Bretón nicht sein ...

  • Ich bin kein Gegner des True-Crime-Genres. Ich habe u. a. auch schon Bücher über Kindermörder gelesen. Romane und Sachbücher. Wenn ein Buch allerdings unter Mitarbeit des Mörders entsteht, eröffnet dem das auch die Möglichkeit, horrende Lügen in die Welt zu setzen. Über die Mutter, über den Tod der Kinder … um sich in einem besseren Licht dastehen zu lassen. Wahrscheinlich wird das vom Autor des Buches dann nicht unkommentiert bleiben, dennoch: Ein schales Gefühl bleibt mir.


    Am Rande: Die Schwester eines Mordopfers hierzulande ging aktuell gegen die „Aufbereitung“ dieses Falls in einer Art Show-Format vor:


    https://uebermedien.de/103465/…vom-bayerischen-rundfunk/

  • Während der Täter vor Gericht nie gestanden hat, tut er das nunmehr in L. Martíns Buch.

    Ja, und? Es gibt unzählige Romane, die reale Verbrechen bzw. mutmaßliche oder überführte Verbrecher zum Inhalt haben, und die das Geschehen dabei teils oder stark abändern. Manchmal kann mit der Abstraktion oder dem Symbolismus etwas 'Wahres' gesagt werden, manchmal ist es eben nur platte Unterhaltung. Wie eben sonst bei Literatur auch, völlig unabhängig vom Sujet.


    Platt und schädlich wäre Silence of the Lambs, weil es den (selbst traumatisierten) Täter vollkommen entmenschlicht und zur absurden Schießbudenfigur degradiert, während sowohl das Orignal und das Remake von The Texas Chainsaw Massacre trotz allem Surrealismus' durchaus relevente Aussagen /Sachverhalte bieten. (Die realen Taten beging Ed Gein, allerdings handelte es sich nicht um Serientaten, sondern zwei Tötungen und sonst Leichenschändigungen; und die eigentlich Schuldige war wohl seine Mutter. Psycho - der sehr lose auf dem gleichen Fall basiert - kriegt dagegen rein gar nix adäquat / korrekt hin.)


    Schlecht wäre imA noch Ketchums The Girl in the Basement (auf dt. Evil), weil es die realen Taten zwar sensationalistisch beschreibt, aber tatsächlich weit unter dem tatsächlich Stattgefundem bleibt und zudem mit dem Tod der Täterin eine poetic justice reinbringt, die es in der Realität nie gab. Das reale Opfer war Sylvia Likens.


    Perfekt - nicht nur zum Thema, sondern überhaupt als Buch - ist imA Kumpfmüllers Durst. Aus der Innensicht der Mutter wird die Entfremdung von den eigenen Kindern als eine Art der sukzessiven Dissoziation beschrieben, und so wird das, was man anfangs als unmöglich ansah, nämlich dass man versteht, warum die Täterin so handelte, immer nachvollziehbarer. Ohne, dass die Taten beschönigt werden. Es geht hier letztlich um drei Opfer, nicht nur zwei. Das Buch vermittelt eine extreme und umfassende Tragik, ohne hier dick aufzutragen. Es geht um den realen Fall Daniela "Dany" J. in Frankfurt / Oder.


    Der Titel deines Faden hat nix mit dem Roman zu tun, denn es sind ja offenbar fiktive Gedanken eines fiktionalisierten Täters. Ansonsten kann die Öffentlichkeit Autobiographien und Interviews mit Tätern lesen oder sehen/hören, dazu benötigte es keine Fiktionalisierung.


    Storys über Verbrechen an Kindern müssen nicht sein.

    Gar gar keine Story muss irgendwie sein, aber jede kann sein.


    Ich hab Kindermord auch schon aus Tätersicht (Ichperspektive) geschrieben, aus dem einfachen Grund, dass - wenn man 'wirklich unschuldige' Opfer will - auf Tiere, die immer und grundsätzlich unschuldig sind, als literarische Opfer Kinder folgen, denn sie sind meist, wenn auch nicht immer, unschuldig. Und Gewalt gegen Tiere will ich zumindest weder lesen noch schreiben, während ich bei Kindern nicht so dünnhäutig bin.


    Interessant wird es v. a. dann, wenn Kinder selbst zu Tätern werden. Der Fall Jamie Bulger war nur einer der ersten, es gibt auch in DE Einrichtungen, die sich mit der - nahezu immer erfolglosen - Therapie von Straftätern unter 14 Jahren beschäftigen: Mord, Misshandlung / Folter, Vergewaltigung bzw. sonstige sexuelle Gewalt. Vor 20 Jahren bereits gab es dazu eine extrem gute, seriöse Doku auf ARD: "Wenn der Onkel Doktor erst 14 ist ...".

    Gewalttaten bis zum Mord mit Tätern unter 14 oder 16 Jahren nehmen stark zu, wie sehr traurig auch bei dem fürchterlichen Mord an Brianna Ghey (UK 2023) oder den sog. "Slenderman Killings".


    Wenn True Crime Fiction seriös und gut recherchiert ist, kann sowas sehr gut die sentimentalen Schleier aufreissen, die große Teile der Gesellschaft geschlossen halten - v. a. wenn die Taten nicht in altbekannte Muster passen. Ich denke, dass True Crime ein guter Einstieg sein kann, Dingen ins Gesicht zu sehen, die man aus eigenem Impuls vielleicht lieber nicht angeschaut bzw. verdrängt hätte.

    Perspektive des Täters kann intelligent als Transgression gestaltet werden oder auch im Sinne des Status quo als zweifelhafte Identifikationsfigur - aber was was ist, muss jeder selbst entscheiden.

  • Katla

    Es wurde nix abgeändert in diesem Buch. Der inhaftierte Täter hatte monatelang Kontakt mit dem Autor, es gab zahlreiche Interview-Besuche und Briefwechsel. (Wie aus dem verlinkten Artikel erkenntlich. ;))

    Das Tat-Geständnis stammt nicht aus der fiktionalen Feder des Autors, sondern vom Täter himself. Er hat die Kinder als Racheakt an seiner verhassten Frau ermordet.

    Es ist im Grunde genommen ein dokumentarisches Buch, das sich primär mit dem Innenleben, den Gedanken und Motiven des Täters beschäftigt. Und das tut weh. Besonders der Mutter der beiden ermordeten Kinder. Meine Frage war: Darf Kunst die Gefühle von Opfern ignorieren, sich über das Risiko hinwegsetzen, sie emotional zu verletzen? Oder fällt das unter künstlerische Freiheit?

  • Hallo Manuela ,


    ich hab den Artikel gelesen. Dort wird duchgehend von einem "Buch" gesprochen und dann heißt es nur noch:

    Geschrieben hat „El Odio“ der bekannte Autor Luisgé Martín. Für seine Romane und Kurzgeschichten wurde er vielfach ausgezeichnet.

    Es wird nirgendwo gesagt, dass es kein Roman wäre. Bei Big Bad A wird es angeküngt als 'literary exercise" und die Verlags-Unterreihe ist "Anagrama narrativas hispanicas", wo auch nur von 'Buch' gesprochen wird. Sicher, dass es keine (Teil-)Fiktionalisierung ist?

    Es ist im Grunde genommen ein dokumentarisches Buch, das sich primär mit dem Innenleben, den Gedanken und Motiven des Täters beschäftigt. Und das tut weh. Besonders der Mutter der beiden ermordeten Kinder. Meine Frage war: Darf Kunst die Gefühle von Opfern ignorieren, sich über das Risiko hinwegsetzen, sie emotional zu verletzen? Oder fällt das unter künstlerische Freiheit?

    Okay, wenn ich deine Aussage jetzt einfach mal als gegeben nehme, ist es also ein Sachbuch. Die können ja mit unterhaltenden Merkmalen ausgearbeitet werden, wie eine Nachstellung mit Schauspielern in True Crime Dokus = das Buch wäre dann die literarische Form solcher 'nachgestellten Szenen'. Aber was hat das dann mit "künstlerisch" und "Kunst" zu tun? Was genau ist dein Punkt, Manuela? Das sind doch Äpfel und Birnen.


    Dann sind die Aussagen des Täters ein sehr unangenehmer Fakt. Die Frage sollte also nicht in Richtung "künstlerische Freiheit" gestellt werden (woraus ich eine Fiktionalisierung ableitete), weil das absolut nix mit Kunst zu tun hat. Dann muss man fragen, ob Fakten unterdrückt werden sollten, um Opfer- oder Lesergefühle zu schützen. Also sollen wir auch z.B. Eyal Siwans Doku zum Eichmannprozess verbieten, weil der Täter - sich selbst entlarvend - zu Wort kommt? Ich hab manchmal echt den Eindruck, solche Diskussionen sind reiner Clickbait, jedenfalls halte ich ein Verbot von Täteraussagen für gefährlich, weil so etwas die Realität verziehen würde. Die Welt tut weh und man sollte lieber an den Weißen Ring spenden oder Medien posten, in denen Opfer zu Wort kommen, Subjekte sind, anstatt Fakten zu unterdrücken. (Bevor das missverständlich klingt: Letzteres unterstelle ich dir nicht, aber du fragst ja wohl, ob man es sollte oder nicht sollte.)


    Viele True Crime Unterhaltung / Dokus oder Sachbücher oder sogar fiktionale / fiktionalisierte TV-Serien zum Thema sind übrigens mit starkem Fokus auf die Opfer gestaltet. Es gibt also solche und solche, das ist doch gut.

  • Ich habe in meinen zarten Zwanzigern das Buch "Der Minus-Mann" von Heinz Sobota gelesen. Ich wusste nicht, was da auf mich zukam - es war ein Geschenk oder eine Empfehlung oder so, jedenfalls keine bewusste Wahl. Die Autobiografie in Romanform erzählt die (im Knast in Marseille verfasste) Lebensgeschichte des Schwerstkriminellen Heinz Sobota, der u.a. Mordversuche unternommen hat, vor allem aber Frauen zur Prostitution gezwungen, dutzendfach vergewaltigt und drogenabhängig gemacht hat, der in Menschen- und Drogenhandel involviert war und eine gehörige, quasi alltägliche Zerstörungswut an den Tag legte, dem andere Menschen schlicht egal waren - ein gewalttätiger Psychopath also. Immerhin hat er keine Kinder ermordet, aber einige der Frauen, die er auf den Strich geknechtet hat, waren ziemlich jung. Das Buch war damals hochumstritten und ein Skandal, sollte verboten oder indexiert werden, Verlage verweigerten die Auslieferung usw. usf. Es wurde zum Bestseller.


    Ich finde, die Frage, ob so etwas geschrieben und/oder veröffentlicht werden darf, stellt sich nicht. Jeder Mensch hat das Recht, (beinahe) jede Geschichte zu erzählen, wahre oder erfundene. Es gibt klare Gesetze, die hier die Grenzen formulieren, aber innerhalb dieses Rahmens (Volksverhetzung, Persönlichkeitsrechte) geht es ausschließlich um moralische Fragen. Die betreffen die Verlage, die mit so etwas möglicherweise Geld verdienen, und die Leserinnen und Leser, die sich so etwas als Lektüre antun. Die Frage aber, ob "die Öffentlichkeit die Gedanken eines Kindermörders kennen darf", stellt sich schon deshalb nicht, weil es keine Instanz gibt, die die Antwort geben könnte. Wer so etwas lesen will, darf es lesen, und wer so etwas schreiben will, darf es schreiben. Das ist grundsätzlich so.


    Deshalb kann man die Antwort nur auf sich selbst bezogen geben, also als Einzelperson. Hätte ich damals gewusst, was auf mich zukam, hätte ich das beschissene Buch nicht angefasst, und ich habe mich später geschämt, weil es mich so fasziniert hat. Ich möchte nicht aus erster Hand wissen, wie jemand tickt, der Kinder tötet. Ich möchte nicht mit jemandem zu tun haben, der Kinder getötet hat und damit auch noch in die Zweitverwertung geht. Ich will keine Erklärungen oder Rechtfertigungen oder so etwas lesen. Aber ich finde es okay, wenn so etwas aufgeschrieben und meinetwegen auch gelesen wird, weil ich kein Recht habe, dieser individuellen Entscheidung im Weg zu stehen. Und selbst wenn ich eine Instanz wäre, die darüber zu entscheiden hätte, würde ich es gestatten. Es geht m.E. keine unmittelbare, allgemeine Gefahr von solchen Texten aus. Sobota hat mich damals noch monatelang beschäftigt, aber ich fand weder irgendwie cool, was er zu erzählen hatte, noch gab es den allerallerallergeringsten Impuls, irgendwas davon nachzuahmen.


    ASIN/ISBN: 3453011112

  • Ich lese Verbrecherbücher recht gerne, so sie gut geschrieben sind. Wie mir das Werk generell wichtiger ist, als die Person des Künstlers, der es verfasst hat.

    Zu Heinz Sobotas Minusmann gabe es hier einst eine längere Rezi von mir. Ich kann sie leider nicht mehr finden. Wahrscheinlich wurde sie mit meinem alten Nick gelöscht. Aber im Vergleich zu Jaques Mesrines Autobiographie "Der Todestrieb" ist das eher ein Kindergeburtstag. 8)

  • Die Rezension ist noch da: Heinz Sobota - Der Minus-Mann


    Normalerweise ist mir auch egal, ob etwas authentisch ist oder nicht, weil es eher auf das Wie ankommt, obwohl ich "Nach einer wahren Geschichte" eher als Negativetikett empfinde, denn wahre Geschichten sind - erfahrungsgemäß - oft langweiliger, unspannender, weniger dramatisch und/oder linearer als erfundene. Aber das Geständnis einer Person, die gegen alles verstoßen hat, was für mich Moral und zivilisatorisches Miteinander ausmacht, muss ich nicht lesen, ganz egal, wie gut oder schlecht es verfasst sein mag. Das Innere einer solchen Person befindet sich einfach nicht auf meinem Radar. Und ich habe Sobota nicht als Extrembeispiel genannt. Extreme sind für mich nicht relevant. Ich muss mich nicht austesten.