„woke“ Sprache von rechts

  • Darum geht es in einem heutigen Kommentar in der „Welt“. Der „Focus“ veröffentlicht eine Liste von Wörtern, die der US-Regierung unerwünscht sind. Behörden sollen sie höchstens eingeschränkt verwenden. Dazu zählen etwa „Klimakrise, Behinderung“ oder „Ungleichheit“.


    Was „erwacht“ ist in der Sprache, hängt von der Perspektive ab. Ich sehe das Grundübel in der Wurzel: Sprache vorgeben zu wollen.


    Der klassische Syllogismus lautet: „Jeder Mensch ist sterblich. Sokrates ist ein Mensch. Also ist Sokrates sterblich.“ Genauso logisch ist: „Jeder Terrorist verdient unsere Anerkennung. Andreas Baader ist ein Terrorist. Also verdient Andreas Baader unsere Anerkennung.“ Nur hat man bei der einen Logik Bauchschmerzen, bei der anderen nicht.


    Donald Trump und die seinen zeigen, dass das mit der erwachten Sprache auch umgekehrt geht. Laut Kommentar in der „Welt“ „sagt man heute“ bei Google Maps und Apple nicht mehr „Golf von Mexiko“, sondern „Golf von Amerika“. Die Nachrichtenagentur AP schreibt weiter wie früher und darf dafür nicht mehr zu jeder Pressekonferenz im Weißen Haus.


    P. S.: Den Kommentar der „Welt“ verlinke ich nicht, weil wohl nur Abonnenten ihn ganz lesen können.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • … und die Plätze der unerwünschten Pressevertreter werden durch genehme ersetzt (die dann z. B. nach Garderobe „fragen“).


    Mit Sprachlenkung haben „wir hier“ (in Deutschland und Österreich, meine ich) ja Erfahrung …

  • Genauso logisch ist: „Jeder Terrorist verdient unsere Anerkennung.

    WHAT? Meine Anerkennung verdient und erhält kein einziger Terrorist. Wofür auch?


    Ja, der Versuch, die Sprache für sich zu instrumentalisieren, wurde und wird von vielen Menschen unternommen, und nicht immer in guter Absicht (die es in objektiver Weise selten gibt). Das haben hierzulande u.a. auch die Nazis und die DDR-Obrigen getan (wehe, man sprach von "Ostberlin"!), und in linken wie rechten Gruppen hat es grundsätzlich Tradition. Ob es sich bei der Trump-Variante um eine "erwachte" (woke) Version handelt, wage ich allerdings zu bezweifeln - es scheint sich eher um das Gegenteil zu handeln. Denn "die Woken" versuchen ja, mit ihren Attacken auf den tradierten Sprachgebrauch darauf hinzuweisen, dass diese Sprachtradition zugleich dafür sorgt, dass andere "Traditionen" wie etwa Rollenmuster und ganz allgemein das Patriarchat erhalten bleiben und dass solche Sprachmuster unser Denken und Verhalten beeinflussen. Womit sie nicht unrecht haben (während die von ihnen angebotenen Alternativen aber meistens unbrauchbar sind).


    Tatsächlich hat ein US-Machthaber die Befugnis, den "amtlichen" Sprachgebrauch für ausländische Orte, Strukturen usw. zu bestimmen. Das ist einigermaßen bizarr, wenn es um internationale Gewässer wie den GvM geht, und vor allem die drohenden Sanktionen bei Nichtbeachtung sind mehr als nur bemerkenswert, aber er hat den Golf nicht (für alle) umbenannt. Der orangene Trottel hat nur festgelegt, wie er in den U.S. of A. von Amts wegen bezeichnet werden soll. Erschütternd dabei ist vor allem, dass dem so mirnichtsdirnichts gefolgt wird.

  • Die Liste der Begriffe enthält auch Begriffe wie „female“, „advocate“, „expression“, „status“, „stereotypes“, „victim“ und natürlich „women“. Also nicht nur Wörter, die allgemein mit Wokeness verbunden werden. Das ist ein sehr fundamentaler Reinigungsprozess.


    Apple und Google haben sich nicht ganz gebeugt, was die Karten angeht. Beide benützen beide Begriffe, einen davon in Klammern.

  • Jede versuchte Sprachvorgabe ist „erwacht“, also „woke“. Interessanterweise ist Mr. Trump mit dem Wahlversprechen angetreten: keine Sprechverbote mehr. Eine seiner Executive Orders trägt den Titel: „Wiederherstellung der Redefreiheit und das Ende föderaler Zensur“. Nun führt seine Regierung ein, was sie bekämpfen wollte. Nur mit anderen Vorzeichen.


    Mein Beispiel oben mit den zwei Syllogismen über Sokrates und Andreas Baader sollte das illustrieren. Beide sind logisch, mit Obersatz, Untersatz und Conclusio. Logik ist kalt. Sie schert sich nicht um Moral oder politische Anschauung, sondern fragt nach der Folgerichtigkeit, der Schlüssigkeit.


    Ein Argument für Sprachvorgaben lautet: Sprache schaffe Bewusstsein. Ich bezweifle das – vielmehr: Ich bestreite es. Den Begriff „Political Correctness“ kenne ich seit den frühen Neunzigern. Wenn seitdem die Sprache das Bewusstsein beeinflusst hätte – warum ziehen sich Frauen dann heute in Rollenbilder von „Tradwives“ zurück, und warum ist der Rechtsradikalismus so stark?


    Es macht strukturell keinen Unterschied, aus welcher politischen Richtung ich Sprache beeinflussen will. Nur inhaltlich. Manchmal nicht einmal das. Das „Neusprech“ bei Orwells Großem Bruder ist meiner Erinnerung nach nur an einen totalitären Kollektivismus geknüpft, ohne Einordnung nach „links“ oder „rechts“.


    Wenn man sich also die Wörter ansieht, die von US-Behörden möglichst nicht gebraucht werden sollen, dann mag man als Befürworter von Buchstabenfolgen wie „LGBTQIA+“ oder Bezeichnungen wie „Person of Color“ erschrecken. „Was für eine hässliche Fratze!“, mag man denken.


    Nach meinem Empfinden sieht man dabei aber nur in den Spiegel.


    Ich traf mich einmal mit einem Kreuzberger Freund, den ich seit unserem zwölften Lebensjahr kenne. War ein schöner Abend. Bis ich ein Wort benutzte, das nicht politisch korrekt ist. Im Zusammenhang sagte es etwas ganz anderes, aber das zählte nicht mehr. Der Abend endete ausgesprochen unerfreulich. An diesem Wort ging beinahe eine Freundschaft von 40 Jahren zugrunde. Obwohl wir uns ja kennen. Ich fand das erschreckend.


    Ob eine Sprachvorgabe also von „links“ oder „rechts“ erwacht – woke ist -, ist egal.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Hallo, Alexander.


    Das denglische Adjektiv "woke" bezeichnet eine Haltung der Gesellschaft gegenüber, der zugrundeliegt, dass man von sich glaubt, soziale Probleme (vor allem solche der [Un-]Gerechtigkeit) und diskrimierende Elemente besser zu erkennen als jene, die halt noch nicht "erwacht" bzw. sowieso zu alt dafür sind. Das geht oft mit dem Versuch der Sprachmanipulation bzw. dem Versuch, die Sprachgestaltungshoheit in Anspruch zu nehmen, einher, aber nicht immer, und ich würde das trennen wollen. Das eine ist eine Haltung, das andere ein Instrument. Und dieses Instrument ge- und missbrauchen die vermeintlich Guten genauso wie die vermeintlich Schlechten. Gendern und Wokeness sind nicht dasselbe.


    Aber Sprache und ihr Gebrauch sind auch viel stärker als "früher" zum Erkennungsmerkmal geworden, und das umso mehr, da die Sprachgestaltung nicht mehr im Kleinen stattfindet, sondern auf der einen Seite die Hyperonyme dahinrafft, Satzzeichen mitten in Wörter schleust und die Pronomen pulverisiert (von der anderen Seite will ich nicht reden). Dadurch ist im Gespräch zuweilen unerwünscht schnell erkennbar geworden, auf welcher vermeintlichen Position ein Gegenüber sich befindet, und damit gehen dann eine Reihe von klandestinen Annahmen und Vorverurteilungen einher, die oft nicht ausgesprochen werden, aber die Grundstimmung und das Verhalten beherrschen. Das Beispiel von Deinem Freund geht in diese Richtung, aber diese stille Polarisierung findet allüberall statt. Wenn Du genderst oder es eben nicht tust, geht damit oft sofort eine Kategorisierung einher. Das ist in gewisser Weise natürlich auch der Zweck solcher Bestrebungen, die Sprache als Vignette zu benutzen, und zwar abseits von Slogans, und ihr bitterer Beifang ist die erbitterte Polarisierung.


    Ergänzt darum, dass sich die fraglichen Versuche verstärken, auf allen Seiten.

  • Ich denke, es geht hier auch um die Grundsatzfrage, ob die Sprache unser Welt- und Gesellschaftsbild zum Ausdruck bringt oder ob wir mit Sprache, durchaus auch mit oktroyierter Sprache, ein Bewusstsein schaffen wollen/können.


    Simples Beispiel: Wenn man heute "Frau Minister" sagt, klingt mit, dass man das eigentlich für einen Männerjob hält, den jetzt irrtümlich auch mal eine Frau ausübt. Aber an sich gehören da eben nur Männer hin. Sage ich dagegen "Ministerin", dann drücke ich aus, dass ich Frauen in dieser Position selbstverständlich finde.


    Wenn ich aber in einer durch und durch männerdominierten Gesellschaft den Menschen vorschreibe, dass sie Berufsbezeichnungen jetzt bitte auch in der weiblichen Form zu verwenden haben, dann versuche ich auf diese Weise, erst einmal ein Bewusstsein für Geschlechtergleichheit zu schaffen. Das Fernziel bei dieser Art von "Spracherziehung" ist, dass hier erst die Sprache angepasst wird, und dann das allgemeine Gesellschaftsbild dem irgendwann folgen wird.


    Hm. Schwierig zu beschreiben, was ich meine.


    Vielleicht könnte man sagen: Im einen Fall folgt die Sprache unserem Gesellschaftsbild (und ändert sich entsprechend im Laufe der Zeit). Im zweiten soll sie ein geändertes Bewusstsein schaffen.


    Das Zweite versucht Mr. Trump auf völlig anmaßende Weise. Denn da geht es eben längst nicht mehr um ein Gendern samt Sternchen und kurzer Sprechpause, das inzwischen viele als störend und eben oktroyiert empfinden. Da geht es darum, die Gesellschaft wieder ... hundert Jahre (mindestens!) in die Vergangenheit zu katapultieren: In dieser Trump-Welt gehören die Frauen an den Herd, Behinderte gehören ... wahrscheinlich weiß er auch nicht, wohin, sie existieren ja offenbar in seiner per Sprachzwang herbeigeführten Gesellschaft gar nicht mehr. Und das geht immer so weiter.


    Ich frage mich da jetzt zum einen, ob das wieder mal eine seiner zahlreichen Provokationen ist oder ob er das ernst meint.

    Und dann frage ich mich, wie er damit bei den Frauen in seinem Umfeld wohl ankommt. Der Mann hat offenbar ein Problem mit einer Gesellschaft, in der es außer ihm selber auch noch andere Menschen und erst recht andersdenkende gibt. Oder er dient sich bei wemauchimmer an. Aber nicht einmal die Radikalsten unter den Evangelikalen werden ihm da noch folgen.


    @ Alexander: Du fragst, warum in einer Gesellschaft, in der die Sprache ein geändertes Frauenbild längst etabliert hat, immer mehr Frauen sich in traditionelle Rollenbilder zurückziehen. Den Trend habe ich bereits festgestellt, als ich Abi gemacht habe, so neu ist der gar nicht mehr. Aber eine Gesellschaft ist ja immer vielschichtig, das lässt sich auch durch eine geänderte Sprache nicht "verhindern". Diese Frauen stellen sich eben bewusst gegen das Bild der berufstätigen Frau. Vielleicht, weil sie mit einer klar definierten "traditionellen" Rolle mehr Sicherheit empfinden. Vielleicht aus Protest. Vielleicht ist das aber auch nur einer der vielen unsäglichen TikTok-Trends, mit dem irgendwelche Mädels auf sich aufmerksam machen wollen, egal, mit welchen Blödsinn.

  • @ Alexander: Du fragst, warum in einer Gesellschaft, in der die Sprache ein geändertes Frauenbild längst etabliert hat, immer mehr Frauen sich in traditionelle Rollenbilder zurückziehen. Den Trend habe ich bereits festgestellt, als ich Abi gemacht habe, so neu ist der gar nicht mehr. Aber eine Gesellschaft ist ja immer vielschichtig, das lässt sich auch durch eine geänderte Sprache nicht "verhindern". Diese Frauen stellen sich eben bewusst gegen das Bild der berufstätigen Frau. Vielleicht, weil sie mit einer klar definierten "traditionellen" Rolle mehr Sicherheit empfinden. Vielleicht aus Protest. Vielleicht ist das aber auch nur einer der vielen unsäglichen TikTok-Trends, mit dem irgendwelche Mädels auf sich aufmerksam machen wollen, egal, mit welchen Blödsinn.

    Meine Frage lautete ein wenig anders, nämlich: "Wenn seitdem die Sprache das Bewusstsein beeinflusst hätte – warum ziehen sich Frauen dann heute in Rollenbilder von „Tradwives“ zurück, und warum ist der Rechtsradikalismus so stark?"


    Ich ging also nicht von einer gesellschaftlichen Veränderung mit einem geänderten Frauenbild aus, sondern davon, ob sich das Bewusstsein (und später die Gesellschaft) durch Sprache verändern lassen.


    Mir scheint im Übrigen, ich muss noch einmal klarstellen, dass ich das "woke" im Titel dieses Strangs in Anführungszeichen geschrieben habe. Natürlich versteht man unter der Trump'schen Sprachpolizei nicht dasselbe wie unter der herkömmlichen "woken" Sprachvorgabe. Wie der US-Präsident im Eklat-Gespräch mit dem ukrainischen Präsidenten jedoch in anderem Zusammenhang sagte: "Yes, we wanna change that."


    Eine Gegenbewegung kann nach denselben Regeln funktionieren wie ihr Auslöser. Das gilt für Reformation und Gegenreformation ebenso wie für die Augusteische Schwelle - den Übergang zum Kaiserreich - und die Römische Republik.


    Was man bisher unter "woke" verstand, war eine Struktur, die sich die Gegenbewegung mit anderem Inhalt zueigen macht.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Zitat Alexander:


    > Eine seiner Executive Orders trägt den Titel: „Wiederherstellung der Redefreiheit und das Ende föderaler Zensur“. Nun führt seine Regierung ein, was sie bekämpfen wollte. Nur mit anderen Vorzeichen.


    Mit anderen Vorzeichen, ja. Ich würde meinen: Ob sich das widerspricht, ist eine Deutungssache. Wenn jemand Wörter tilgen will, die er z. B. als woke versteht (oder die tatsächlich in dem Zusammenhang entstanden sind), dann tritt er - in seiner verqueren Logik - für Redefreiheit ein. Der „neumodische Quatsch“ wird abgeräumt, man kehrt zurück in die „gute alte Zeit“.


    Was meinte denn J. D. Vance, wenn er die deutsche Regierung zur Redefreiheit aufrief? Dass Bullshit gefälligst „unzensiert“ bleiben soll. Hassrede als Recht der freien Meinungsäußerung akzeptiert wird. Faktencheck? Braucht keiner.


    Da hat jemand klargestellt, was seiner Meinung nach nicht besprochen gehört: worunter weitestgehend die Belange von Minderheiten zu verstehen sind. Menschen, die sich mitunter gerade erst getraut hatten, sichtbar zu sein, sollen wieder dahin, wo sie mit ihren „Befindlichkeiten“ „normale“ Menschen nicht mehr stören. Behinderte, Queere, Angehörige nicht-weißer Ethnien … Wenn dann über sie gesprochen wird, dann mit anderen Bezeichnungen und garantiert wenig freundlichem Tenor. So spaltet man, in „wir“ und „die anderen“.


    Interessant finde ich: „Schwangere“. Das passt für mich irgendwie nicht in die Reihe der Wörter. Fruchtbarkeit (weißer, nicht armer Menschen) sollte doch gern gesehen sein. Also was soll damit unterdrückt werden? Diskussionen über Abtreibung? Warum dann nicht gleich „Schwangerschaftsabbruch“?


    Dass zu viel Freiheit auch Angst machen kann, halte ich nicht für ungewöhnlich. Oder dass Minderheiten Rechte bekommen, die einem selbst zu weit gehen. Man fürchtet um eigene Pfründe, wenn andere plötzlich gleichberechtigt sein sollen.

  • "Wenn seitdem die Sprache das Bewusstsein beeinflusst hätte – warum ziehen sich Frauen dann heute in Rollenbilder von „Tradwives“ zurück, und warum ist der Rechtsradikalismus so stark?"

    Und warum verallgemeinerst Du so stark?


    Die Antwort(en) ist (sind) so naheliegend, dass es mir ein bisschen peinlich ist, sie Dir zu geben: Weil zu allen Zeiten Menschen unterschiedlich getickt haben, weil es zu keiner Zeit eine gleichförmige Bewegung gab, die wirklich alle erfasst hat, weil Deine Wahrnehmung von einer Bubble beeinflusst wird, in der die paar "Tradwives" möglicherweise höher gehandelt werden als anderswo, weil "Fortschritt" keine objektive Entwicklung ist, vor allem sozialer, gesellschaftlicher, kultureller Fortschritt. Weil Menschen Idioten sind, jedenfalls ungefähr 80 Prozent davon, je nach Definition von "Idiot" (in meiner persönlichen Definition spielen Bequemlichkeit und Egoismus große Rollen, deshalb umfasst sie recht viele Leute). Weil Gruppenidentität schon immer stärker war als fast alles andere.

    Weil wir Menschen sind.


    Edit: Beim "Tradwives"-Movement sind die Schlagzeilen größer als die Zahl der Anhänger und -innen. Unabhängig davon hat natürlich jeder Mensch absolut das Recht, das Leben zu führen, das er sich wünscht, auch wenn alle anderen das für falsch halten. Mehr noch, wir haben alle das unbedingte Recht, uns selbst zu schaden. Oder eine "falsche" Meinung zu verfolgen. Oder an etwas zu glauben, das definitiv nicht existiert. Und es war schon immer so, dass es zu starken, stark verändernden Bewegungen extreme Gegenbewegungen gab.

    Der NG fasst das Tradwives-Phänomen gut zusammen:

    https://www.nationalgeographic…as-netz-alte-rollenbilder

  • Meine Frage lautete ein wenig anders, nämlich: "Wenn seitdem die Sprache das Bewusstsein beeinflusst hätte – warum ziehen sich Frauen dann heute in Rollenbilder von „Tradwives“ zurück, und warum ist der Rechtsradikalismus so stark?"

    Als erstes bin ich der Meinung, dass die Beeinflußung keine Einbahnstraße ist, sondern sowohl Sprache Bewusstsein beeinflußt und umgekehrt. Der zweite Teil deiner Argumentation beruht meiner Meinung nach auf der Fehlinterpretation, dass Veränderungen der Sprache immer in positive Richtung gehen. Wenn das so wäre, hätten die Ex-DDR-Bürger alle ganz tolle Sozialisten sein müssen - die Sprache des "Fortschritts" war in der DDR allgegenwärtig.

    Dass sie (die Ex-DDR-Bürger) das nicht geworden sind, liegt für mich darin, dass Sprachveränderungen zur Propaganda werden können, wenn sie allgegenwärtig sind. Dann kommt es zur Ablehnung der sprachlichen Veränderung und schlägt irgendwann in Rückwärtsgewandtheit um, weil die Vergangenheit, subjektiv, als sicherer Ort angesehen wird. Genau das ist für mich mit der "woken" Sprache passiert - sie ist zur Propaganda geworden.

  • Wenn sich Sprache "von unten" verändert, wenn also plötzlich alle geil oder cringe oder sowas sagen, dann mag das auch das Ergebnis von Beeinflussung sein, ist aber von Communitys oder Peergroups oder Altersgruppen oder Schichten mehr oder weniger freiwillig angenommen und verteilt worden, und der Rest der Gesellschaft oder ein großer Teil davon fand das irgendwann auch schick. Das Binnen-I oder das Gendern oder die Konnotationswandlung von Begriffen wie "Flüchtling" sind genauso wie Begriffe wie "biodeutsch" erdacht, entwickelt und, um die entsprechende Argumentationsbasis ergänzt, verteilt worden, um zu beeinflussen, also als propagandistische Maßnahme. Und auch als Vignette, siehe oben. Nicht nur das Gendern, sondern auch andere Konstrukte wie Partizipien als Ersatz für Hyperonyme im generischen Maskulinum haben sich, weil die Begleitmaßnahmen auch aus nicht immer nur sanftem öffentlichen Druck bestanden, verblüffend energisch durchgesetzt, vor allem in der Außendarstellung vieler Institutionen (darunter auch Vereine, große Firmen und Firmengruppen), die zugleich nicht selten versucht haben, auch andere Elemente ihres Images anzupassen, etwa durch mehr Diversität bei Fotos, die auf Websites und Kampagnen verwendet werden - dunklere Hautfarben haben dort in den letzten Jahren deutlich zugenommen, aber auch erkennbar gleichgeschlechtliche Paare und vieles andere mehr. Das ist das Ergebnis eines bewusst initiierten, gesteuerten (aber nicht zentral gesteuerten!) und begleiteten Prozesses, also quasi "von oben", und ich meine das völlig wertfrei. Letztlich aber ist das Propaganda - die ich im Ergebnis eher gut als schlecht finde, tatsächlich. Aber es ist dieser Entwicklung, im Rahmen derer es eine Menge Scheißestürme gab und nach wie vor gibt (die vielbeschworene "Cancel Culture" gehört zu einem Gutteil auch dazu), eben auch anzumerken, dass hier einige Menschen für andere/alle Menschen die Entscheidung getroffen haben, was gut und was schlecht ist, und dass sanfter Druck nicht ausreichte, um das durchzusetzen. Es ist keine "natürliche" Entwicklung (die es natürlich auch überhaupt nicht gibt), sondern das Gegenteil davon.

    Und solche Prozesse erzeugen eben Gegenbewegungen.


    Davon abgesehen. Die politisch wahrgenommene oder ins politische Bild passende Realität stimmt mit der realen Realität nicht überein. Wir sehen das, was wir sehen wollen, und machen das, was nicht passt, einfach passend. Während also alle Firmen, die nicht "Thor Steinar" heißen, in ihren Außendarstellungen gendern und sich inklusiv geben und ihre Regelwerke von Diskriminierungspotential befreien, lebt "das Volk" sein Leben nahezu unverändert weiter, verdreschen Männer "ihre" Frauen und Kinder, wird der Müll nicht getrennt und im großen Stil auf die Umwelt geschissen (auf der negativen Seite). Die Rollenbilder, die vom "Tradwives"-Movement aufgegriffen werden, sind leider in weiten Teilen der Gesellschaft nach wie vor gelebter Alltag, "Tradwives" sind nur die Hochglanzvariante davon.

    Und all das liegt wiederum daran, dass die Trägheit und Bequemlichkeit der Leute (aller Leute, wenigstens der meisten) für schnelle Veränderungen nicht gemacht sind, dass das Leben zuweilen auch schon so anstrengend genug ist und man nur eines davon hat, und dass viele der Probleme, denen mit solchen soziokulturellen Prozessen begegnet wird, in vielen Alltagen einfach überhaupt keine Rolle spielen.



    Edit: Und noch eine Ergänzung. Es gibt das so genannte "Ehrlichkeitsparadoxon", ich habe das an anderer Stelle, meine ich, schon erwähnt. Der Typ, der dabei erwischt wird, wie er Müll ablädt, und dem das total peinlich ist, weil er weiß, dass er der Umwelt schadet, den nennen wir "Heuchler" und verachten ihn. Der Typ, der einfach seinen Müll im Wald ablädt und erklärt, dass er auf die Umwelt scheißt, den finden wir "ehrlich" - und einige bewundern ihn sogar dafür. Trump ist so ein Typ. Dabei sollten wir den anderen besser finden, weil der wenigstens weiß, dass er Scheiße baut. Weil der also zumindest den ersten richtigen Schritt gemacht hat, während noch ein paar weitere fehlen. Aber unsere Sympathien hat eher der andere, nicht zuletzt, weil man Heuchler grundsätzlich kacke zu finden hat. Dieses ethische Paradoxon und die damit einhergehende Phänomenologie begründet viele der sehr eigenartigen Entwicklungen, die wir derzeit erleben.

  • Dass zu viel Freiheit auch Angst machen kann, halte ich nicht für ungewöhnlich. Oder dass Minderheiten Rechte bekommen, die einem selbst zu weit gehen. Man fürchtet um eigene Pfründe, wenn andere plötzlich gleichberechtigt sein sollen.


    Das kann gut sein, nur meine ich nicht, dass Pfründe wegen einer veränderten Sprache verloren gehen. In rechtsstaatlichen Demokratien haben Minderheiten die gleichen Rechte wie die Mehrheit. Das Problem liegt nicht beim Recht, sondern bei der Wirklichkeit. Ich komme darauf noch weiter unten.


    Als erstes bin ich der Meinung, dass die Beeinflußung keine Einbahnstraße ist, sondern sowohl Sprache Bewusstsein beeinflußt und umgekehrt. Der zweite Teil deiner Argumentation beruht meiner Meinung nach auf der Fehlinterpretation, dass Veränderungen der Sprache immer in positive Richtung gehen. Wenn das so wäre, hätten die Ex-DDR-Bürger alle ganz tolle Sozialisten sein müssen - die Sprache des "Fortschritts" war in der DDR allgegenwärtig.

    Dass sie (die Ex-DDR-Bürger) das nicht geworden sind, liegt für mich darin, dass Sprachveränderungen zur Propaganda werden können, wenn sie allgegenwärtig sind. Dann kommt es zur Ablehnung der sprachlichen Veränderung und schlägt irgendwann in Rückwärtsgewandtheit um, weil die Vergangenheit, subjektiv, als sicherer Ort angesehen wird. Genau das ist für mich mit der "woken" Sprache passiert - sie ist zur Propaganda geworden.


    Von meiner Warte aus ist das DDR-Sprachbeispiel eher eines, dass in die negative Richtung gegangen wäre. :-) Und gleichzeitig ein Hinweis, dass die Sprache in der DDR ihr Ziel nicht erreicht hat. Nein, ich meine nicht, dass sich Sprache immer positiv verändert – im Gegenteil. Propaganda ist ein schöner Begriff für jedwede (versuchten) Sprachvorgaben. :-)


    Gestern veranstalteten die Info-Radios des Norddeutschen und des Bayerischen Rundfunks die Sendung „Mitreden!“. Auf BR24 nutzten sie dazu die Liste unerwünschter Wörter der US-Regierung als Aufhänger.


    Auf der Seite zur Sendung ist zu lesen: „45 Prozent der deutschen Männer glauben, dass die Gleichstellung von Frauen so weit gefördert wurde, dass nun Männer diskriminiert werden. Dem schließen sich 29 Prozent der Frauen an.“


    45 Prozent sind ganz schön viel, finde ich. Wenn man also die „geschlechtergerechte Sprache“ als Teil der woken Sprache herausnimmt, dann scheint mir, dass sie ihr Ziel nicht erreicht hat. Und zwar immerhin über zwei Generationen hinweg.


    Wir leben in einer Zeit, in der Frauen teilweise für die gleiche Arbeit weniger Geld erhalten – „Gender Pay Gap“. Das finde ich wirklich skandalös. Von der Anrede „Liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter“ können sich die betroffenen Frauen nichts kaufen.


    Meine Beispiele zu „Trad Wives“ und Rechtsradikalismus waren natürlich nur das: Beispiele. Pars pro toto. In Bezug auf Gleichstellung von Männern und Frauen findet heute jeder Zweite in Deutschland, dass genug getan wurde (49 Prozent). 60 Prozent der Männer sind der Ansicht, dass es nun reicht. 38 Prozent der Frauen sehen das ebenso. (Findet sich hinter dem Link im Zitat zur „Mitreden!“-Sendung.


    Jüdische Studenten fühlen sich an deutschen Universitäten oft nicht mehr sicher. Rechtsstaatliche Parteien haben im neuen Bundestag keine 2/3-Mehrheit mehr. Ich könnte jetzt noch weitere Beispiele nennen, aber schlichten Gemütern wie mir reichen die erwähnten, um davon auszugehen, dass die „politisch korrekte Sprache“ ihre Ziele verfehlt hat. Und die US-Regierung startet nun in die Gegenrichtung.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • 45 Prozent sind ganz schön viel, finde ich.

    45 Prozent der BR-Hörer und -innen. Das ist bedeutungslos. Und knapp die Hälfte der in Bayern lebenden Menschen sind Katholiken, glauben also abgesehen davon, dass sie (bzw. 45 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen, die zugleich BR hören oder sehen) glauben, Männer würden inzwischen diskriminiert werden, auch an Hokuspokus wie die Jungfrauengeburt und die Propheterie und die gottgegebene Ungleichheit von Männern und Frauen.


    Im Übrigen ist es mir als Mann inzwischen kackegal, ob "wir" (ich fühle mich grundsätzlich keiner Gruppe zugehörig) gerade ein bisschen mehr diskriminiert werden als "sie". Ich war lange Zeit ein Gegner dieses (gefühlten) Umschlagens der Situation, aber inzwischen verspüre ich nicht geringe Lust, jedem Kerl ordentlich auf die Fresse zu geben, der sich über diese "Verkehrung der Verhältnisse" beklagt. Natürlich nur metaphorisch. Ich finde es ganz hilfreich, wenn man selbst mal fühlen kann, wie das so ist, wenn man benachteiligt wird, nur weil man etwas ist, für das man nichts kann.

    Wir leben in einer Zeit, in der Frauen teilweise für die gleiche Arbeit weniger Geld erhalten – „Gender Pay Gap“. Das finde ich wirklich skandalös.

    Das ist so nicht zutreffend Der Gender-Pay-Gap bildet nicht ab und zeigt auch nicht, dass Frauen für die gleiche Arbeit weniger Geld erhalten. Der allgemeine GPG zeigt einen schlichten Einkommensunterschied zwischen Männern und Frauen, also eine Differenz beim durchschnittlichen Stundenlohn, ganz unabhängig davon, welche Berufe ausgeübt werden. Der bereinigte GPG zeigt inzwischen einen kaum noch bemerkenswerten Unterschied - da ist beinahe Gerechtigkeit eingekehrt. Die viel bemerkenswertere Ungerechtigkeit besteht also vielmehr darin, dass Frauen oft in schlechter bezahlten Berufen tätig sind.

  • Aus gegebenem Anlass erlaube ich mir zwei Hinweise:


    In meinem letzten Beitrag zitiere ich eine Seite des Norddeutschen Rundfunks, wo steht: „45 Prozent der deutschen Männer glauben, dass die Gleichstellung von Frauen so weit gefördert wurde, dass nun Männer diskriminiert werden. Dem schließen sich 29 Prozent der Frauen an.“


    Da steht "deutsche" Männer, und es meint deutsche Männer. Interessierte können das vertiefend im weiterführenden Link bei ipsos weiterlesen.


    Zweitens habe ich selbst Kenntnis durch Anja von einer Mitarbeiterin in einer Buchhandlung, die weniger Geld bekam als ihre männlichen Kollegen. Begründung: Die Männer müssten Bücher schleppen. (Die Dame selbst allerdings auch.)


    Auf der Seite des NDR befindet sich ein Link zu "Gender Pay Gap". Dort steht: "Frauen verdienen pro Stunde für die gleiche Arbeit weniger als Männer." (...) "Der bereinigte Gender Pay Gap geht einen Schritt weiter: Hier wird verglichen, was Frauen und Männer verdienen, die in ähnlichen Berufen, mit ähnlicher Ausbildung und Erfahrung arbeiten. Selbst bei gleicher Qualifikation verdienen Frauen in Deutschland im Schnitt sechs Prozent weniger als Männer."


    Das ist mir jetzt aber genug der Ablenkung vom Thema.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Ich könnte jetzt noch weitere Beispiele nennen, aber schlichten Gemütern wie mir reichen die erwähnten, um davon auszugehen, dass die „politisch korrekte Sprache“ ihre Ziele verfehlt hat.

    Ich nehme auch an, dass es nicht wenige Menschen ganz schön nervt, wenn sie im Radio eine Sprecherin die Pause für das Gendersternchen machen hören (oder eben nicht), und ich gehe bei der Schlussfolgerung, dass das u.a. zur Folge hat, dass sich die Leute, die das nervt, deswegen etwa den Pissnelkenparteien an den Rändern zuwenden, durchaus mit. Ja, die Linke hat ordentlich Öl ins Feuer gegossen, und das, was im sprachlichen Bereich passiert ist, gehört(e) dazu.


    Aber.


    Dass sich Leute den Rändern zuwenden, weil sie damit nicht zurechtkommen, dass bittere, folgenreiche, machtverhältnissefundierende Traditionen, Systeme und Strukturen endlich gebrochen werden (müssen), und sei es eben mit der sprachlichen Brechstange, das ist nicht das Problem des angewandten Instrumentariums oder seiner Anwendungsgeschwindigkeit, sondern dieser Leute. Nicht dieses Mittel ist schuld (höchstens der Auslöser), sondern die Unfähigkeit der Menschen, irgendwas jenseits ihres Tellerrandes wahrzunehmen.


    Tatsächlich glaube ich, dass einiges erreicht wurde, auch durch diese Ansätze. Ja, es ist auch Polarisierung erreicht worden, aber ich merke an mir selbst, dass Veränderungen stattfinden.

  • Da steht "deutsche" Männer, und es meint deutsche Männer. Interessierte können das vertiefend im weiterführenden Link bei ipsos weiterlesen.

    Da steht, dass es eine Online-Umfrage gab, an der knapp 25.000 Menschen im Alter von 16 bis 74 Jahren teilgenommen haben. Mehr ist auch auf der Site von ispsos nicht darüber zu erfahren. Das ist ein kommerzieller Anbieter von demoskopischen Daten.

  • Dass sich Leute den Rändern zuwenden, weil sie damit nicht zurechtkommen, dass bittere, folgenreiche, machtverhältnissefundierende Traditionen, Systeme und Strukturen endlich gebrochen werden (müssen), und sei es eben mit der sprachlichen Brechstange, das ist nicht das Problem des angewandten Instrumentariums oder seiner Anwendungsgeschwindigkeit, sondern dieser Leute. Nicht dieses Mittel ist schuld (höchstens der Auslöser), sondern die Unfähigkeit der Menschen, irgendwas jenseits ihres Tellerrandes wahrzunehmen.

    Dieses Statement erinnert mich an ein Gedicht Bert Brechts nach dem Aufstand des 17. Juni 1953.


    Darin geht es darum, dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe. Die Lösung: Auflösung des Volkes und Wahl eines anderen.


    Am Aufstand nahmen rund eine Million Menschen teil. 1953 hatte die DDR etwa 18 Millionen Einwohner.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)