Siegfried Lenz: Selbstversetzung - Über Schreiben und Leben

  • ASIN/ISBN: 3455042864

    Siegfried Lenz starb im Oktober 2014 und seither vermisse ich das gelegentliche Erscheinen neuer Werke von ihm, von der posthumen Veröffentlichung seines zweiten Romans »Der Überläufer« einmal abgesehen. Über all die Jahrzehnte seit den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts stand etwas von Lenz immer auf meiner Leseliste. Ich kann nicht sagen, dass ich sein ganzes Werk kenne – da gibt es noch deutliche Lücken – aber von den »Habichten in der Luft« (sein erster Roman), über die masurischen (»So zärtlich war Suleyken«) und sonstigen Erzählungen bis hin zu seinen im neuen Jahrtausend veröffentlichten Novellen – »Schweigeminute« (2008), »Landesbühne« (2009) – ist doch einiges zustande gekommen. Nach wie vor ist »Heimatmuseum« (1978) mein Favorit, weil es erzählerisch und sprachlich auf allerhöchstem Niveau ist.


    Nun habe ich »Selbstversetzung – über Schreiben und Leben« gelesen, einen schmalen Band mit Texten von Lenz über Lenz und vor allem über sein Schreiben. Alle Texte erschienen innerhalb zweier Jahrzehnte (von 1961 bis 1981). In »Ich zum Beispiel« berichtet der Autor wie er vom Kind, zum Pimpf und zum jugendlichen Spätkriegseinsteiger wurde und dort erst den Glauben an der allmächtigen staatlichen Propaganda verlor. Er walzt das in »Meine Schulzeit im Krieg« noch einmal aus. Das seine Lektüre nicht mit Klassikern, sondern mit Groschenheften begann, erzählt er in »Meine erste Lektüre«. Wie der erste Roman und das erste Theaterstück entstand ist interessant zu erfahren, aber richtig stark ist der Beitrag »Meine Straße«, in der er die Lebensumstände in Hamburg schildert, wie er sie in den 1960ern vorgefunden hatte. Der »Sitzplatz eines Autors« ist ein kurioser kurzer Text, der mit der Feststellung »Der Ort, an dem ein Autor schreibt, mag für ihn selbst aufschlußreich sein; entscheidend ist er nicht.« beginnt und mit dem Fazit »Der schlechte Sitzplatz befreit den Autor davon, sich irgend jemanden erkenntlich zu zeigen. Muß er deshalb nicht darauf aus sein, den Platz zwischen den Stühlen zu seinem Lieblingsplatz zu machen?« endet.


    Siegfried Lenz ist ein Erzähler, und zwar ein großartiger. Man hat ihm vorgeworfen, dass er kein Neuerer war sondern sich alten Traditionen angebiedert habe. Dabei wird übersehen, dass er diese Traditionen mit einer unglaublichen Fertigkeit bedient hat, was allein meines Erachtens schon Rechtfertigung genug ist. In »Mein Vorbild Hemingway« setzt sich Lenz mit dieser frühen Fixierung und Anbiederung auseinander und schildert auch nachvollziehbar, wie er sich von diesem Vorbild gelöst hat. Der letzte Beitrag »Gnadengesuch für die Geschichte« irritiert zunächst ein wenig, zumindest wenn man »Geschichte« mit »Historie« gleichsetzt. Aber Lenz meint tatsächlich die erzählte Geschichte. Er reagiert relativ früh – der Artikel erschien 1966 – auf Anfeindungen und Behauptungen, dass die Geschichte tot und überholt sei. Dieser Beitrag ist heute noch nicht überholt und endet mit der Feststellung: »Von Geschichten, die man erlebt, ist nicht allzuviel zu halten. Geschichten kann man nur lesen oder erzählen. Dann erst rechtfertigen sie sich.«

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    Monika Detering/Horst-Dieter Radke: Lebensgleise

    ASIN/ISBN: 3910971237


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann