Paul Murray: Der Stich der Biene

  • Hinterhältig, klug, manchmal etwas zäh, nicht immer stimmig, aber unterm Strich nicht schlecht


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    Der irische Autor Paul Murray hat in den letzten zwanzig Jahren ganze vier Romane vorgelegt, darunter „Skippy stirbt“ (2010), die dreibändige, vielschichtig aufgebaute Erzählung um den Tod eines Jungen, der auf eine irische Eliteschule ging. Das Romantriptychon hinterließ damals einen zwiespältigen Eindruck bei mir – einerseits war das stark gemacht, ausgedacht, aufgebaut, konstruiert und formuliert, andererseits hatte es Murray überdreht und dabei seine Figuren aus den Augen verloren. Um es vorwegzunehmen: Ganz ähnlich verhält es sich bei „Der Stich der Biene“ (OT: „The Bee Sting“) auch.


    Erzählt wird ein Gesellschaftsdrama, das im Kern aus der Geschichte der Familie Barnes besteht, vor allem aus derjenigen der Teilfamilie von Dickie, dem Sohn des nach Portugal emigrierten Provinzoligarchen Maurice. Der kluge, schöngeistige, klandestin bisexuelle Dickie hat dessen Autohaus und vom verstorbenen Bruder die unfassbar schöne In-Spe-Braut Imelda übernommen. Imelda stammt aus, vorsichtig gesagt, komplizierten Familienverhältnissen. Aber auch Dickies Hintergründe sind nicht einfach. Die Haupthandlung spielt achtzehn Jahre nach den ausführlich geschilderten und immer wieder als Rückblenden eingebauten Vorgeschichten der beiden Hauptfiguren, deren Perspektive jeweils eingenommen wird, und Murray hat jeder Figur ihre eigene Sprache und Ausdrucksweise gegeben; bei Imeldas Abschnitten beispielsweise fehlen deshalb fast alle Satzzeichen.

    Neben den Eheleuten Dickie und Imelda gibt es noch die achtzehnjährige Cassandra, die soeben ihren Schulabschluss macht, und PJ, den zwölfjährigen Sohn, dessen vollständiger Name nie erwähnt wird. Cass wird mit ihrer besten Freundin Elaine nach Dublin umziehen, um dort aufs Trinity College zu gehen, auf dem auch Dickie war. PJ hat Stress mit den anderen Kids und eine heimliche Online-Freundschaft mit einem Jungen aus Dublin, der sich Ethan nennt und möglicherweise nicht wirklich ein Junge ist. Das Autohaus läuft nicht mehr. Dickie wird von seiner eigenen Vergangenheit eingeholt, die er sich aber zugleich als Alternative für die Zukunft zurückwünscht, und Imeldas Dämonen sind ebenfalls zahlreich.


    Genau wie bei „Skippy stirbt“ kristallisiert sich auch bei diesem Roman erst nach und nach heraus, wovon der Autor eigentlich erzählen möchte, wobei es so ganz kristallklar bis zum fulminanten Ende nicht wirklich wird, und die Wegstrecke dorthin ist oft düster und steinig, denn die 700-Seiten-Schwarte hat ihre zähen Momente, und davon nicht wenige. Manchmal nervt sie nachgerade, denn die Figuren haben gemein, quasi sehenden Auges von einer Katastrophe in die nächste zu marschieren, und die Gründe dafür sind nicht immer nachvollziehbar. Ob es nun PJ ist, der sich für die Fehler seines Vaters verkloppen lässt, oder Imelda, die den Avancen von Big Mike allmählich nachgibt, dem Vater der Tochterfreundin Elaine.


    Der Titel des Romans bezieht sich auf ein Ereignis während der Hochzeit von Dickie und Imelda, einer Veranstaltung, die ohnehin unter keinem guten Stern stand, und er ist eine Metapher für kleine Geschehnisse mit großen, langfristigen Folgen. Allerdings hält die Geschichte das Versprechen des Titels nicht ganz ein, und obwohl Murray ein äußerst kluger Erzähler und brillanter Beobachter ist, gibt es, um im Bild zu bleiben, eine Art Grundsummen, das nie verklingt. Anders gesagt: Zumindest ich habe Murrays Figuren ihre Gedanken und, vor allem, ihr Verhalten nicht immer abgekauft, was tatsächlich eine Untertreibung ist, denn es ging mir fast unaufhörlich so. Es fühlte sich beim Lesen merkwürdigerweise an, als wären die Romanfiguren Leute, die vom Autor dafür engagiert worden sind, diese Romanfiguren zu spielen.


    Andererseits hat Murray viele wichtige Themen in wirklich beeindruckender Weise bearbeitet und untergebracht, und die Lektüre ist oft ein cleveres Vergnügen, etwa, wenn es um die Prepper und ihre Lebensfundamente geht, oder um die hochkomplizierte Zeit zwischen dem zehnten und zwanzigsten Lebensjahr. Nicht nur an diesen Stellen ist „Der Stich der Biene“ äußerst lesbar und ein großes Vergnügen, aber Murray liebt das ganz große Drama, und darunter leidet die eigentliche Geschichte.

    ASIN/ISBN: 395614581X