Arno Geiger: Das glückliche Geheimnis

  • Ein Sachbuch ist ein Sachbuch, eine Autobiografie ist eine Autobiografie, ein Roman ist ein Roman: Das gilt, wenn es überhaupt je allgemeingültig war, schon lange nicht mehr. Sachbücher werden mitunter so mitreißend erzählt, dass man sich teils in einem Roman wähnen kann. Manchmal (nicht hier) steht „Roman“ auf einem Cover, und man fragt sich, warum. Autobiografien sind ohnehin nie 1 : 1 Abbild von dem, was tatsächlich war, sondern gefärbt durch den Blick des Verfassers. Sie werden erzählerischen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, es wird gestrafft, gerafft, umgestellt, maskiert, geschönt, weggelassen, übertrieben. In Romanen hat der Protagonist mitunter den Namen des Verfassers. Es ist daher nicht immer ganz einfach einzuordnen, womit ein Leser es eigentlich zu tun bekommt.


    Arno Geigers - in Ermangelung eines anderen Wortes - Buch „Das glückliche Geheimnis“ fällt wahrscheinlich in diese Kategorie des schwer Bestimmbaren. Es erzählt von Geigers Leben und seinem Werk, seinen Beziehungen zu Frauen und zu den Eltern, dem Altern und dem Sterben, seinen Romanen (!), dem Literaturbetrieb; wie es ist, von einem Niemand durch den ihm zuerkannten Deutschen Buchpreis zu plötzlicher Bekanntheit zu gelangen - und von seinen „Fangzügen“ zu Altpapiertonnen, immer auf der Suche nach (für ihn) Werthaltigem. Bücher, die er auf Flohmärkten verkaufte, meist Massentaugliches, aber ab und an waren auch Kostbarkeiten dabei, die sich als Antiquitäten erwiesen, gerade noch vor dem Zugriff durch die Müllabfuhr bewahrt. Und er findet persönliche Dokumente: Briefe und Tagebücher. Die Altpapiertonne ist „Filiale des Friedhofs“, enthält von jenen Weggeworfenes, die die Wohnung, das Haus leer räumen, nachdem jemand gestorben ist. Wer sich im Leben von alten Liebesbriefen trennt, hat zumindest die Beziehung zu Grabe getragen. Geiger begann damit als Unbekannter und führte es - in einer Art Doppelleben: Literat und Müllsammler - fort. Einmal fand er einen Roman von sich, ein schiefgelesenes Taschenbuch. (Immerhin schiefgelesen! Ungelesen weggeworfen wäre wahrscheinlich schlimmer gewesen, vermute ich.)

    Einer, der schlecht Dinge wegwerfen kann, ist Geiger dafür nicht: Im Gegenteil, hebt er hervor, wie wichtig es ist, sich auch von Dingen zu trennen.

    Geiger schreibt über Dinge, über die die Zeit hinweggeht, und er schreibt über Alter und Krankheit - weil es nicht nur Dinge sind, über die die Zeit hinweggeht. Er schreibt übers Schlittenfahren, während der Vater dement im Pflegeheim und die Mutter nach einem Schlaganfall im Krankenhaus in ihren Rollstühlen sitzen. Über Vergänglichkeit von anderen und der eigenen. Wenn er einen Bogen von den Buchstaben zieht, die seine Mutter mit Kreide auf die Tafel schrieb, um ihn das Lesen zu lehren, hin zu ihm, dem Sohn, der die Wörter, die seine altgewordene Mutter unvollständig schreibt, vervollständigt, dann sind das zwei alltägliche Dinge, aber in der Verbindung von beidem wird es zu in Form und Sprache gegossener Literatur.

    Geiger schreibt auch und gerade über das Leben als Schriftsteller. Seines und das anderer. Über Philip Roth. Über die Notwendigkeit, etwas sagen zu wollen. Darüber, was passiert, wenn Handwerk überhandnimmt. Über Schreibtische, die (meine unzureichende Wendung) zur Falle werden können. Über das Umgehen von Trampelpfaden. Über das Gift der Manier. Die Vergänglichkeit von Gedrucktem.


    Ich habe einige negative Stimmen zu dem Buch gelesen, wahrscheinlich mehr negative als positive: langweilig sei es, selbstverliebt - und dann diese Weibergeschichten! Tatsächlich hätte man da auch für mich etwas kürzen können, bloß: Mag da manchen Leserinnen nicht auch eigenes Unbehagen mit hineinspielen? Wenn es für Geiger ins Buch gehört, dann gehört es hinein. Geiger betont, dass das Leben vorm Werk komme. Und: dass seine Romane aus seinem Leben entstanden sind, auch die fiktiven. Dass seine Berührung mit Lebenszeugnissen von Nicht-Schriftstellern sein Schreiben auch beeinflusst habe, dass er es mitunter sogar dem perfekt Konstruierten der Literatur vorziehe. Was einem ungeschliffenen, weil nicht für die Öffentlichkeit vorgesehenen Brief oder Tagebuch fehle, mache das mitunter mit Authentizität wett.


    Ich habe „Das glückliche Geheimnis“ gerne gelesen, verstehe aber, wenn es bei manchen, gerade auch denen, die der schriftstellerische Aspekt nichts gibt, weil sie lieber das Resultat lesen, nicht über den Weg dahin, wie eine Art Nabelschau ankommt.

    Über das Schreiben geschrieben, jenseits von Regeln, die für Leute bestimmt sind, die selbst gern schreiben wollen, aber nicht wissen wie, haben viele: Ortheil, Herrndorf … Ortheil als Vielschreiber, als Verfechter des Alltäglichen. Und ja, wenn einem das zu viel ist, kann es einem vorkommen, wie etwas, wie einer, das/der sich selbst zu wichtig nimmt. Ich sehe das nicht so. Und auch die Uneindeutigkeit treibt mich nicht um.

    Man muss nicht mit allem, was Geiger schreibt, übereinstimmen - oder überhaupt. Man kann dem - natürlich - auch widersprechen. Das muss den Wert, den man aus einer Lektüre zieht, nicht schmälern.

    Es hilft vielleicht, sich zu fragen, ob man auch mal gerne ein Tagebuch oder ein Konvolut Briefe aus einem Altpapiercontainer ziehen würde. (Ich absolut.) Wenn nein, dann wird man mit „Das glückliche Geheimnis“ höchstwahrscheinlich auch nicht warm.

    Vielleicht ist das Buch ja das: Lebensnahes, literarisch bearbeitet, und demzufolge ein Zwischending, nicht nur, was die Buchgattung betrifft, sondern auch als Verschmelzung von Alltäglichem, das immer auch ein bisschen banal ist, und Literatur, die (im besten Fall) nicht nur Kunst ist, sondern der auch immer etwas Künstliches anhaftet. Das ist weit mehr als bloß über das Sammeln von Alltagszeugnissen zu schreiben.