Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

  • Ein Mann erschrickt über sich selbst, als er bemerkt, dass seine Kinder ihn fürchten. Er hat sie nie geschlagen, aber so, wie sie ihm begegnen, mit einer übergroßen Vorsicht, muss er der Tatsache ins Gesicht sehen: Seine Kinder wissen um den Zorn, der tief in ihm steckt und der jederzeit und immer wieder ausbrechen kann. Also begibt sich der Mann auf die Suche nach der Ursache dieser Eigenschaft. Er vermutet sie in der Person eines seiner Großväter.


    Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Generationen einer Familie sich „verpassen“ würden. Der Autor des Romans „Verbrenn all meine Briefe“ hat in diesem Werk das Kunststück geschafft, sich über die natürlichen Grenzen der Zeit hinwegzusetzen. So erzählt er nicht nur von der Gegenwart, in der sich Konflikte zwischen ihm und seinen Kindern auftun, sondern geht auch zurück in seine eigene Kindheit - und in eine Zeit vor seiner Geburt, in die ersten Jahre der Beziehung zwischen seinen Großeltern Anfang der 1930-er Jahre. So begegnet man dem alt gewordenen Paar genauso wie dem jungen. Diese verschiedenen Zeitebenen greifen ineinander und enthüllen Stück für Stück eine große Tragödie zwischen drei Menschen, einer Frau zwischen zwei Männern. Der Enkel ist der „allwissende Leser“, der weiß, wie „die Geschichte“ ausgeht, aber der im Nachhinein immer mehr Details vom „Davor“ herausfindet.


    Wie er diese Dinge überhaupt herausfinden kann, liegt an den Berufen der beteiligten Männer. Beide waren berühmte Schriftsteller. Beide haben, verklausuliert, immer wieder über ihre Beziehungen geschrieben. Für den einen war es die große unerfüllte Liebe, für den anderen der große Verrat. Sämtliche überlieferten Papiere des einen werden in einem Archiv aufbewahrt. Wichtige Unterlagen des anderen erhält der Autor vom Sohn des Mannes, ebenfalls Schriftsteller. Und während das in einem gänzlich erfundenen Roman wahrscheinlich sehr konstruiert (und ein wenig einseitig) daherkommen würde (so viele Schriftsteller!), kann man das dem vorliegenden Roman kaum vorwerfen, denn, platt gesagt: Das Leben schreibt manchmal Geschichten, die man dramatischer nicht erfinden könnte!


    Alex Schulman ist der Enkel von Jens Stolpe. Seine Großmutter Karin war unglücklich verliebt in Olof Lagercrantz. Dessen Sohn wiederum ist David Lagercrantz, den man hierzulande zumindest von seinen Fortsetzungen der Romanreihe des leider früh verstorbenen Stig Larsson kennt.


    Und wenn das dem Roman auch „Credibility“ verschafft, hatte ich an einer Stelle doch herbe Probleme, nämlich da, als zum ersten Mal der Ehemann Jens Stolpe seine Frau Karin auf wirklich schäbige, ja, grausame Weise bloßstellt; und der Enkel tut es leider in seinem Roman dann ein weiteres Mal. Bloß mit dem entscheidenden Unterschied, dass seine Großmutter damit nicht mehr konfrontiert wird, da sie inzwischen verstorben ist. Das, und der Umstand, dass der Enkel seine Großmutter, anders als der Mann seine Frau, nicht demütigen will, macht es nicht gar so schlimm. Auf der anderen Seite könnte man sich schon fragen, wen Schriftsteller für ein gutes Buch oder auch nur eine packende Szene eigentlich nicht verkaufen würden.


    Ich habe das Buch gerne gelesen. Es hat was, diesem Paar als junge Leute und im Alter zu begegnen. Tatsächlich machen die verschiedenen Zeitebenen die Geschichte als Roman besser, als wenn nur die unglückliche Beziehung dieses einen Paares inkl. Liebe der Frau zu einem anderen Mann geschildert würde. Solche Geschichten gibt es schließlich viele. Eine, in der ein Enkel Teil der Story wird, habe ich hingegen noch nie gelesen.