Hallo 42er!
Ich lese häufig in Reaktionen auf Kommentare folgendes: Ich habe den Text jetzt fünfmal überarbeitet und werde ihn weiterhin überarbeiten. Eine neuerliche Lesung zeigt auf, der Text ist immer noch schwach und wird es vermutlich auch bleiben. Warum?
Nichts gegen Überarbeitung, ganz im Gegenteil, es ist die Hauptarbeit eines Schriftstellers, aber es braucht dafür auch das richtige Werkzeug. Wenn ich einen schartigen Hobel nehme, werde ich kein Brett damit glatthobeln können. Egal, wie oft ich es bearbeite. Ebenso verhält es sich mit Texten. Also zunächst einmal das Werkzeug kennenlernen und schärfen.
Eine mir bekannte Lektorin, Gabriele Kern, schrieb vor rund 20 Jahren eine Schreibfibel, die sich in erster Linie mit Stil und Sprache auseinandersetzt. Sie nannte ihr Büchlein, das kaum dicker als ein Daumen ist, "Die literarische Diät". Sie bezeichnet darin z.B. Füllwörter als leere Kalorien, Dickmacher, die ähnlich wie Hefe bloß das Backwerk aufblasen ohne literarischem Nährwert.
Es ist heute leider nicht mehr erhältlich, ich halte es dennoch für eine wunderbare Grundlage zur schriftstellerischen Arbeit. Besonders für jene, die noch am Anfang ihrer Entwicklung stehen. Mir hat es damals, vor rund 20 Jahren, (neben Wolf Schneiders u. a. Werken) geholfen, meinen sprachlichen Ausdruck weiterzuentwickeln.
Ich erlaube mir, ihre Vorschläge zur finalen Überarbeitung eines Textes hier vorzustellen und habe sie mit eigenen Worten und Beispielen kreativ etwas erweitert. Es geht dabei nicht um Plotaufbau oder Spannungskurve, sondern primär um sprachlichen Ausdruck, metaphorisch gesprochen, um die Schärfung des Hobels. Anbei: Ich bin mir sicher, Gabi hat nichts dagegen, wenn ich ein klein wenig aus ihrem Werk zitiere.
Hier ist ein 12 Tage-Plan zur sprachlichen Überarbeitung eines Textes VOR Veröffentlichung bzw. Vorlage.
1. Tag - Rechtschreibprüfung
Dazu muss nicht viel gesagt werden, dafür reichen in heutigen Tagen gute Rechtschreibprogramme, von denen es einige gibt.
2. Tag - Füllwörter
Man erkennt sie daran, dass sich die Satzaussage nicht ändert, lässt man sie weg. Bsp: Heute ist es wirklich kalt.
Vorschlag: Sämtliche Füllwörter im Text markieren und überlegen, ob man sie braucht und wenn nicht, wie man sie eventuell ersetzen kann. Ich lösche sie grundsätzlich, wenn ich sie erkenne.
3. Tag - Hilfsverben (Vom Haben, Sein und Werden)
Vor allem gilt es, sie zu vermeiden, wenn es als Ersatz ein aussagekräftiges Vollverb gibt. Und das gibt es fast immer.
Bsp: Mama, vor der Tür ist ein Mann. Dieser Mann ist. Aber er tut nichts, außer zu sein. Besser: Mama, vor der Tür steht, wartet, sitzt ein Mann, etc. Jetzt tut er etwas, der Mann und ist nicht nur. Heißt, die Figur wird lebendig. Und wir wollen doch lebendig wirkende Figuren.
4. Tag - Adjektive
Alle Adjektive im Text markieren und prüfen, ob sie nötig sind oder es nicht besser erscheint, einen Teil davon in Bilder zu verwandeln. Adjektive sind wichtig und unverzichtbare Ausdrucksformen, aber zuviele davon verderben den Brei.
5. Tag - Verben
Prüfen ob das Verb aussagekräftig genug ist, eventuell nach Synonymen suchen. Wenn immer möglich, Substantivierungen vermeiden. Ein Verb ist am stärksten, wenn es als Verb eingesetzt wird und nicht als Hauptwort. Bsp: Das Klirren der Gläser, das Gehupe der Autos, das laute Pochen an der Tür etc.
6. Tag - Wortwiederholungen
Am besten finde ich es, den Text laut zu lesen und alle Wiederholungen sofort zu markieren. Anschließend Synonyme suchen.
7. Tag - Negativ-Konstruktionen
Alle Adjektive markieren, die mit der Vorsilbe "un" beginnen. Klassisches Negativbeispiel in anderer Form: Nicht, dass ich mich über Ihren Besuch nicht wirklich freue, aber ...
In diesem Beispiel finden sich gleich drei Schwächen: Negativ konstruiert, unnötige dass-Konjunktion, wirklich, als Füllwort.
Kürzlich las ich anderswo: Wir bogen auf eine unasphaltierte Straße ab. Allerdings interessiert den Leser vermutlich nicht, was nicht ist, sondern was ist. Also: Wir bogen auf eine Schotterstraße, einen Feldweg, Lehmpiste etc. ab.
8. Tag - Passiv-Konstruktionen
Passiv-Konstrukte haben in einem guten literarischen Text nichts verloren, es sei denn, man setzt sie bewusst ein.
Passivbeispiel: Noch einmal wurde der Teig vom Bäcker geknetet, dann zu Laiben geformt und in den Ofen geschoben.
Aktiv: Noch einmal knetete der Bäcker den Teig, formte ihn zu Laiben und schob ihn in den Ofen.
Passiv: Der Reiter ließ sich aus dem Sattel gleiten. Hier lässt der Reiter etwas geschehen.
Aktiv: Der Reiter glitt aus dem Sattel. Hier tut der Reiter etwas.
9. Tag - Partizipial-Konstruktionen
Obwohl es heutzutage woke Mode ist, sich in grammatisch falschen Partizipialkonstruktionen zu ergehen, (die Studierenden, die Lehrenden, die Forschenden) sind sie in einem literarischen Text weitgehend unerwünscht. Je nach Textlänge sind 3 - 5 derartige Konstrukte tolerierbar. Besser wäre es, sie ganz zu vermeiden.
10. Tag - dass-Konjunktionen
Alle dass-Konjunktionen markieren und auf Notwendigkeit überprüfen. In Zeitungen und Sachbüchern wimmelt es davon, leider auch in vielen Internettexten. In der fiktionalen Literatur sollten sie - ebenso wie Partizipialkonstrukte - möglichst sparsam eingesetzt werden. In Überzahl wirken sie langweilig, sprachlich unelegant, zudem verleiten sie zu häufiger Wiederholung in Folgesätzen. Ganz ähnlich wie bei der "Als-Heimer-Krankheit", deren Symptome sich durch häufige Satzanfänge mit "Als" bzw. Als-Konjunktionen bemerkbar machen.
11.Tag - Metaphern u. Vergleiche
Alle Metaphern im Text markieren und überprüfen, ob es sich dabei um Klischees oder abgedroschene Phrasen handelt. Vergleiche nicht verstärken, indem man noch einen zweiten draufsetzt. Das macht den eigentlichen Vergleich nicht stärker, sondern schwächer. Vergleiche vor allem auf Stimmigkeit prüfen.
12. Tag - Satzbau, optische Struktur
Sprachfluss, Sprachmelodie prüfen. Das geht am besten, wenn man den Text laut vorliest. Klingt das Gelesene monoton oder geleiert? Verwende ich zu viele Bandwurmsätze? Eckt die Sprachmelodie? Falls ja, Satzbau variieren.
Ganz zuletzt: Optische Struktur prüfen. z. B. Absätze einfügen, keinen Textblock präsentieren.
In diesem Sinne, gut schreib.