Verschiedene Perspektiven

  • Wie steht ihr zu Büchern, die aus mehreren Perspektiven erzählt werden?

    Habt ihr positive oder negative Erfahrungen mit diesem Stil gemacht?

    Wie empfindet ihr die Wirkung, wenn verschiedene Charaktere ihre Sichtweise auf dasselbe Ereignis darstellen?

  • Hallo,

    ich finde das toll und abwechslungsreich. Viele mögen das nicht. Sie finden es verwirrend. Man muss beim Schreiben "lediglich" aufpassen, dass der Leser auch klar erkennen kann, aus welcher Perspektive gerade erzählt wird. Das ist wohl die Kunst daran. Persönlich mag ich es nicht, wenn der Leser nicht aus dem Text heraus erkennen kann, um welche Perspektive es sich handelt, sondern der Autor mit Kapitel- oder sogar Szenenüberschriften arbeitet. Das finde ich grottig. Wer ständige Perspektivwechsel gut umgesetzt hat, ist John Irving mit seinem Roman "Die wilde Geschichte vom Wassertrinker". Mir gefällt das Buch zwar nicht, doch liegt das nicht an den Perspektiven. Die sind hervorragend umgesetzt.

  • Heyyy,


    du hast völlig recht, das Schreiben aus verschiedenen Perspektiven kann wirklich herausfordernd sein. Es erfordert viel Feingefühl, um die Übergänge nahtlos zu gestalten und den Leser nicht zu verwirren. Es wirkt tatsächlich weniger elegant, wenn der Autor auf Kapitel- oder Szenenüberschriften angewiesen ist, um die Perspektive zu verdeutlichen. Ein gut erzählter Text sollte das aus sich heraus schaffen. Mich würde interessieren, ob du selbst schon Erfahrungen mit diesem Schreibstil gesammelt hast? Wenn ja, wie gehst du mit diesen Herausforderungen um?


    Liebe Grüße


    Lina :)

  • Mich würde interessieren, ob du selbst schon Erfahrungen mit diesem Schreibstil gesammelt hast? Wenn ja, wie gehst du mit diesen Herausforderungen um?

    Ich schreibe eigentlich nie (oder fast nie) aus einer Perspektive. Meine Kritiker meinen, ich beherrsche den Perspektivwechsel nicht. Es gibt aber auch andere Stimmen. Wenn ich die Kritik annehme, was ich selbstverständlich mache, muss ich noch hart an mir arbeiten.

    Ich habe es einmal gewagt, nur aus einer Perspektive - Ich-Erzähler - zu schreiben. Das ist mir gelungen, jedoch ist das Buch sehr dünn geworden. Eine besondere Herausforderung dabei war eine Verfolgungsjagd, erzählt von ICH. Nun konnte ich ICH schließlich nicht hinterherrennen lassen. Da es sich bei dem Werk um eine Dystopie handelte, habe ich dennoch eine brauchbare Lösung gefunden. Mir hatte jemand empfohlen, Marc Elsbergs Zero-Sie wissen, was du tust zu lesen, um zu schauen, wie er das Problem gelöst hat. Was soll ich sagen? Das Beispiel war gut.

    Am Rande erwähnt: Das Elsberg-Buch hat mir richtig gefallen, die Verfilmung leider gar nicht.

  • Wie steht ihr zu Büchern, die aus mehreren Perspektiven erzählt werden?

    Aus Autorensicht: Ich habe bisher noch nie den Impuls verspürt, eine Geschichte aus mehreren Perspektiven zu erzählen. Das kann sicherlich eine interessante Herausforderung sein, aber vielleicht scheue ich ja gerade die. Oder ich bin zu faul für sowas.:)

    Aus Lesersicht: Ja, es verwirrt mich manchmal. Oder ich bin zu alt für sowas.:achsel Ganz sicher aber bin ich treu und anhänglich. Sobald ich mich in eine Protagonistin oder einen Protagonisten verliebt habe, will ich auch an ihrer oder seiner Seite bleiben, auch wenn sich im Verlauf der Geschichte herausstellen sollte, dass sie Serienkiller, Investmentbanker oder Drogendealer sind.

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • Das ist eben anfällig für: character soup und headhopping.


    Grad hab ich einen Roman zuende gelesen, der mir abgesehen davon unglaublich gut gefiel (Gretchen Felker-Martin: Manhunt), aber es gibt zu viele Figuren und viel zu viele PoVs. Hat mir fast das Buch versaut. Es hilft nicht, wenn das dann in - immer kürzere - Kapitel unterteilt wird, weil mich das jedes Mal rauskickt, wenn ich mich grad an eine Figur / PoV gewöhnt hab. Bei mehr als drei oder vier pro Buch verliere ich meist das Interesse. Vermutlich, weil mich an Büchern mehr interessiert als Figuren: Settings, Themen, Motive, die Sprache selbst vor allem.


    Das Problem sehe ich meist allerdings im Können oder Nichtkönnen der Schreibenden, nur selten klingen verschiedene Figuren auch tatsächlich verschieden.


    Wie empfindet ihr die Wirkung, wenn verschiedene Charaktere ihre Sichtweise auf dasselbe Ereignis darstellen?

    Kommt drauf an, aber tendenziell eher nervig. Ich mag es, wenn jeder Satz die Geschichte voranbringt (das kann auch langsam sein, aber eben kein Gelaber und keine Wiederholungen) und verschiedene Blickwinkel auf dieselbe Sache tritt ggfs. auf der Stelle - auch, wenn die Perspektiven der einzelen verschieden sein mögen (denkst du an sowas wie Rashomon? Den Film hab ich ausgestellt, weil mich irgendwann ab Person 3 nicht mehr interessiert hat, wie wer was sieht.)


    That said: Wenn es so schräg gegengespiegelt wird, dass man den Boden unter den Füßen verliert, das Ganze mehr ist wie ein Kaleidoskop und nicht wie eine einzige Tatsache und verschiedene Blickwinkel darauf, kann es spannend sein. Z.B. Lutz Bassmann (a.k.a. Antoine Volodine): Black Village.

  • Ich lese viele Geschichten, die aus mehreren Perspektiven erzählt werden, und habe selten ein Problem damit, weil sie einfach gut gemacht sind. Ich habe das auch schon selbst angewendet und diesbezüglich kein schlechtes Feedback erhalten.


    In Gegenteil, es kann ein tolles Mittel sein, um Spannung zu erzeugen. Zum Beispiel bricht der eine Erzählstrang ab, um mit einem anderen zeitweilig fortzufahren. Oder die Figur weiß weniger als der Leser, weil sie ja nicht dabei war, und der Autor macht den Leser somit zum Mitwisser. Oder man hat als Autor die Möglichkeit, in Bereiche einzutauchen, die sonst beim Erzählen verschlossen wären, weil der Protagonist sie nicht persönlich erleben kann, was für Facettenreichtum sorgt. Etc.


    Aber Kopfhüpfen innerhalb einer Szene finde ich auch nervig. Ist mir kürzlich bei Shogun untergekommen, und das war echt schade, weil ich das Buch ansonsten ganz außerordentlich fand. Doch so sprunghaft und inkonsequent angewendet bin ich in Dialogen tatsächlich viel zu oft durcheinander gekommen.


    Also ein Kapitel, eine Szene aus einer Perspektive ist gut und oftmals mehr als sinnvoll aus oben genannten Gründen.

  • Ich kannte mal ein paar Leute, die so Kurzfilme gedreht haben und da gab es ein geflügeltes Wort, das offenbar alle Amateurregiesseure allen Amateurschauspielern immer wieder gesagt haben:


    "Kannst du vielleicht etwas weniger machen?"


    Was bedeuten soll, dass die Leute vor der Kamera ruhig auch mal still halten dürfen und einfach nur ihren Text sprechen. Man benötigt nicht dauernd besonders gekonnte, ausdrucksstarke Gesten, Weinen vor der Kamera oder Trommeln mit den Fäusten.


    So ist das auch beim kreativen Schreiben. Es gibt da eine Menge toller Kunstgriffe - Rückblenden, Bilder, Cliffhanger, Gedanktenstrom, was weiß ich. Und eben auch die verschiedenen Erzählperspektiven. Eine einzelne Begebenheit aus verschiedenen personalen Erzählperspektiven zu schildern (oder von Ich-Erzählern), ist halt auch sowas. Das kann cool wirken. Aber es ist halt ein Effekt, wenn man dauernd so Feuerwerk macht, dann kann man irgendwann der Geschichte nicht mehr folgen. Was auch egal sein kann, manchmal ist das Feuerwerk alleine schon toll, da braucht es dann gar keine Geschichte mehr. Kommt immer drauf an. Aber so im Prinzip, wenn man vorhat, traditionell zu erzählen und möglichst viele Leser anzusprechen - lieber erst mal nicht machen.


    Oder noch ein Vergleich (den ich gern und oft ziehe) - Musik.

    Es stehen einfach nicht so viele Leute auf Bebop. Und wenn, dann sind das meistens Musiker, die fasziniert und begeistert von der Artistik anderer Musiker sind. Das ist Musik für Musiker. Nicht für die Massen. Und schon gar nicht für Leute, die gerade mal ein Jahr Trompete spielen, das funktioniert einfach nicht.

    Erst mal Longtones. Immer wieder Longtones...;)

    “Life presents us with enough fucked up opportunities to be evaluated, graded, and all the rest. Don’t do that in your hobby. Don’t attach your self worth to that shit. Michael Seguin

  • Das kann cool wirken. Aber es ist halt ein Effekt,

    Oder es ist dramaturgisch notwendig und das Getriebe der Erzählung.


    Ich bin ja eigentlich leidenschaftlicher Ich-Erzähler, aber in "Freitags bei Paolo", dem Roman über die Trennung eines idealen Paars "im Guten", war es einfach zwingend nötig, beide Figuren in gleicher Weise zur Geltung kommen zu lassen, beiden Gewicht und Stimme zu geben, und zwar ausgewogen. Also hat sich der eitle Ich-Erzähler zurückgezogen und zwei Figuren aus personaler Perspektive erzählen lassen. Das hat m.E. auch sehr gut funktioniert.


    Was natürlich nicht, um mal auf den falschen Threadtitel hinzuweisen, verschiedene Perspektiven sind, sondern verschiedene Personen, aber es wird immer die gleiche Erzählperspektive verwendet. Das mit den verschiedenen Perspektiven probiere ich gerade für meinen nächsten Roman: Ich-Erzähler und eine Person (möglicherweise sogar zwei), aus deren Perspektive personal erzählt wird.

  • Oder es ist dramaturgisch notwendig und das Getriebe der Erzählung.

    Jetzt, wo du es sagst - stimmt. Und es ist ohne Schmeichelei in dem Buch wirklich total gelungen.


    Ich habe da nochmal drüber nachgedacht und der Vergleich mit der Musik ist auch missglückt. Vielleicht wäre es so besser:


    Wenn die Frage wäre "Stehst du auf abrupte Tempowechsel in Musikstücken?", dann wäre die Antwort auch "Es kommt drauf an". Eher erstmal nicht, aber es kann auch der ganze Punkt sein. Oder ein guter Effekt. Oder wasweisich. Es kommt drauf an. Und man muss wissen, was man tut.

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  • Ich bin ja eigentlich leidenschaftlicher Ich-Erzähler

    Echt? Ich finde das normalerweise furchtbar. Nicht immer. Kommt halt drauf an. Ich finde, der Ich-Erzähler schränkt ein. Vielleicht sollte ich mal ein Buch von dir lesen, um meinem Vorurteil der Einschränkung entgegenzuwirken.

  • Das Wechseln der Perspektive in literarischen Werken ist eine Kunst, die entweder die Kenntnis des "Anderen" voraussetzt oder die Schauspielerei bis ins Kleinste beherrscht.


    Vor Jahren hab ich mal mit einer dritten Person, nach einem "Blind Date", ein Stück gemeinsamen Weges zurückgelegt; wir haben davon (im Web) zeitgleich in Abschnitten berichtet. Es lief in der "Leselupe" unter dem Titel "Blind Date" und wurde mehr als eine Million mal aufgerufen, bis es nicht an uns, sondern am Hass und am Neid einzelner Mitglieder des Forums scheiterte und gesperrt wurde.


    Es war erstaunlich, wie verschieden wir gemeinsam erlebte Momente aufgenommen und wiedergegeben haben; letztendlich war festzustellen, dass es nichts Unterschiedlicheres geben kann als Frau und Mann - man kommt nicht mit Konkurrenz oder Gleichmacherei, sondern nur mit Toleranz weiter, war unsere Erfahrung. Literatur lebt.


    anjou