Ullstein schmeißt J.D. Vance - Hillbilly Elegy aus dem Programm

  • Ich teile Deine Einschätzung, Ingrid. Nur ziehe ich einen anderen Schluss daraus. Sofia Nelson schreibt in der New York Times, was in Deinem ersten Absatz steht. Sie hat ja ihre Korrespondenz mit Vance der Times übermittelt, und darin äußert sich Vance fundamental anders als heute. Was also, wenn es - überspitzt gesagt - die Person Vance gar nicht gibt? Wenn er nur ein Chamäleon ist, ein Karrierist, der schreibt und sagt, was seiner Macht dient? Dann bleibt nur das Werk.


    Ich stimme auch mit Deinem zweiten Absatz überein. Trotzdem beurteile ich Ullsteins Entscheidung anders als Du. So etwas kann vorkommen. ;-)

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Fundamental anders, genau. So ein Chamäleon und seine Partei stehen regelmäßig ganz oben auf meinem bayrischen Wahlzettel. Schriebe es – das schwarze Chamäleon – seine Autobiografie, würde ich diese nie von der Person trennen ")"


    Aber jeder und jede hat das Recht auf eine eigene Meinung, du und ich und alle anderen, die sich hier geäußert haben. Und Ullstein.

  • Aber jeder und jede hat das Recht auf eine eigene Meinung, du und ich und alle anderen, die sich hier geäußert haben. Und Ullstein.

    Das hat gottlob niemand in diesem Faden in Abrede gestellt. ;-)

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Zitat

    Wenn er nur ein Chamäleon ist, ein Karrierist, der schreibt und sagt, was seiner Macht dient? Dann bleibt nur das Werk.

    Dem kann ich intellektuell nicht folgen. Das Werk ist dann ja zweifelsohne Bestandteil des chamäleonesken Spektakels. Es bleibt also nicht, es verändert sich mit, und das Spektakel liefert jeweils die spektakelepisodenabhängige Lesart. Denn ein Prosatext hat ja keine objektive Lesart, ist nicht kontextfrei, zeit- oder/und schöpferunabhängig. Niemals.


    Im Übrigen finde ich die Diskussion spannend, lehrreich und interessant.

  • Im Übrigen finde ich die Diskussion spannend, lehrreich und interessant.

    Allerdings! Ich auch. Mich würde immer noch interessieren, was ihr über Polanski denkt. Oder gehört das nicht hierhin, weil er kein Literat sondern Filmemacher ist?

  • Anja und ich unterhalten uns bisweilen darüber, ob die Intention von Autoren für die spätere Interpretation eines Werks von Bedeutung ist. Anja meint aus ihrer überlegenen literaturwissenschaftlichen Sicht: Ja. Ich meine unbelehrbar: Nein. Ein Autor setzt eine Menge Buchstaben zusammen, und wenn er sein Werk auf die Welt loslässt, mag es jeder interpretieren, wie er will. Vorausgesetzt, es bleibt vereinbar mit Wortlaut, Systematik ... dem Text also.


    Kafkas Werk ist schon unter vielen großen Betrachtungsweisen interpretiert worden, an die der Meister nicht einmal gedacht haben dürfte. Die Leser haben sich vielleicht mit der Zeit verändert, aber da steht immer noch jeder Buchstabe in derselben Reihenfolge wie ursprünglich. Der Text bleibt. Was sich ändern kann, ist die Wahrnehmung.


    Ich möchte auch noch eine Frage stellen, ähnlich wie Friecko: In Beitrag #22 habe ich als Beispiel Judith Butler gewählt. Wer von denen, die Ullsteins Entscheidung befürworten, ist dafür, dass Suhrkamp seine Zusammenarbeit mit Butler einstellt? Um es mit Kristin zu sagen: Mutig vor!

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Kafkas Werk ist schon unter vielen großen Betrachtungsweisen interpretiert worden, an die der Meister nicht einmal gedacht haben dürfte

    Erwin Kohl (Krimiautor vom Niederrhein) hat eine Lesung vor Schülern eines Deutschkurses gehalten. Er hat mir persönlich gesagt, dass er verblüfft war, was die Schüler in seinem Text alles erkannt haben, an das er selbst nie gedacht hat. Die Vermutung von Aleander R. deckt sich also zumindest schon mal mit einem Autor. Allerdings schreibt Herr Kohl keine Weltliteratur sondern Niederrheinkrimis. Das allerdings recht erfolgreich.

  • Er hat mir persönlich gesagt, dass er verblüfft war, was die Schüler in seinem Text alles erkannt haben, an das er selbst nie gedacht hat.

    Dazu gibt es doch das Schlagwort: "Der Text ist klüger als der Autor." QED ;-)

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Anja und ich unterhalten uns bisweilen darüber, ob die Intention von Autoren für die spätere Interpretation eines Werks von Bedeutung ist. Anja meint aus ihrer überlegenen literaturwissenschaftlichen Sicht: Ja. Ich meine unbelehrbar: Nein. Ein Autor setzt eine Menge Buchstaben zusammen, und wenn er sein Werk auf die Welt loslässt, mag es jeder interpretieren, wie er will. Vorausgesetzt, es bleibt vereinbar mit Wortlaut, Systematik ... dem Text also.

    Kleine Korrektur: Ich unterscheide da zwischen dem "persönlichen" Lesen und der literaturwissenschaftlichen Interpretation. Was einem selber ein Buch vermittelt, in welchen Punkten es einen persönlich anspricht, das steht natürlich ohnehin jedem einzelnen frei.


    Und auch bei der lit.wissenschaftlichen Interpretation gibt es unterschiedliche Ansätze. Ich selber folge dabei allerdings tatsächlich (wohlgemerkt, wenn ich ihn wissenschaftlich angehe) dem Ansatz, einen Text jeweils in seinen historischen Kontext einzubetten. Das heißt, ich versuche herauszufinden, was der Autor IN SEINER ZEIT, vor seinem historischen Hintergrund, mit seiner persönlichen Biographie etc. sagen wollte. Denn ich denke, sein Buch ist eingebunden in seine Zeit, er wollte seinen Zeitgenossen etwas mitteilen, seine Zeit kommentieren, einen bestimmten Standpunkt in seiner Zeit vertreten usw.


    Um das mal an einem Beispiel zu verdeutlichen: E.T.A. Hoffmanns Erzählung "Der Sandmann" wird gerne als die Darstellung eines frühkindlichen Traumas interpretiert. Was sogar sicher auf diesen Text zutrifft. Hoffmann selber konnte das aber in dieser Form noch gar nicht schildern, zumindest nicht nach dem klassischen Schema eines frühkindlichen Traumas, denn dieser Begriff, das gesamte Krankheitsbild war zu seiner Zeit noch gar nicht geprägt. Wenn, dann hat er das intuitiv erfasst, klug beobachtet und so ausgearbeitet, dass wir heute darin so eine Traumatisierung erkennen können. Würde ich den Text allerdings in einem wissenschaftlichen Rahmen interpretieren, dann würde ich es auch höchsten in dieser Weise formulieren. Ich würde allerdings niemals schreiben, er habe eine immer wieder aufflammende Psychose (auch daran könnte man bei der Erzählung nach heutigem Wissensstand denken) schildern wollen. Er hätte sie nicht bewusst schildern können, denn auch die Psychose war als Krankheitsbild in seiner Zeit noch nicht definiert. Wenn, dann hat er nur etwas geschildert, dass uns heute an eine Psychose denken lässt.


    Hmmm. Nicht ganz einfach, ich hoffe, ich habe es erklären können. Der Unterschied liegt wirklich im Detail.

  • Ich möchte auch noch eine Frage stellen, ähnlich wie Friecko: In Beitrag #22 habe ich als Beispiel Judith Butler gewählt. Wer von denen, die Ullsteins Entscheidung befürworten, ist dafür, dass Suhrkamp seine Zusammenarbeit mit Butler einstellt? Um es mit Kristin zu sagen: Mutig vor!

    Das ist für mich (zum Glück) relativ einfach beantwortet. Es geht gar nicht darum, ob jede/r Einzelne von uns einen Ausschluss aus diesem oder jenen Verlag befürwortet oder ablehnt. Ich kann für mich zwar sagen, dass ich die Beendigung der Zusammenarbeit im Falle Vance klar befürworte, während ich bei Butler froh bin, nicht bei Suhrkamp in einem potentiellen bzw. fiktiven Entscheidungsgremium zu sitzen - deswegen "zum Glück", s.o. Der springende Punkt ist jedoch der, dass ich klar befürworte, dass Verlage im einen wie im anderen Fall die Entscheidungshohheit innehaben und behalten. Möglicherweise kann oder könnte ich als Leserin und Beobachterin die eine Entscheidung ein Ideechen besser tolerieren als die andere, aber das ist ja wie gesagt nicht die Frage.

    "Aim high, expect nothing."

    (Uschi Obermaier?)

  • Nur zur Info, der PEN Berlin veranstaltet eine Gesprächsreihe "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen". Dann hoffe ich, dass ich in Pirna, die Stadt ist meinem Wohnort am nächsten, noch einen Platz im Q24 (Kleinkunsttheater) finden werde. Im Podium sitzen in Pirna Anne Rabe, Johannes Nichelmann und August Modersohn. Anne Rabes Buch habe ich gelesen, bei Johanns Nichelmanns bin ich gerade dabei und August Modersohn ist mir aus den ZON-Forum bekannt.

    Was mich etwas irritiert, warum nur in den Bundesländern Brandenburg, Thürigen und Sachsen? Stellt man sich in den restlichen Bundesländern diese Frage nicht?

  • Das ist für mich (zum Glück) relativ einfach beantwortet. Es geht gar nicht darum, ob jede/r Einzelne von uns einen Ausschluss aus diesem oder jenen Verlag befürwortet oder ablehnt. Ich kann für mich zwar sagen, dass ich die Beendigung der Zusammenarbeit im Falle Vance klar befürworte, während ich bei Butler froh bin, nicht bei Suhrkamp in einem potentiellen bzw. fiktiven Entscheidungsgremium zu sitzen - deswegen "zum Glück", s.o. Der springende Punkt ist jedoch der, dass ich klar befürworte, dass Verlage im einen wie im anderen Fall die Entscheidungshohheit innehaben und behalten. Möglicherweise kann oder könnte ich als Leserin und Beobachterin die eine Entscheidung ein Ideechen besser tolerieren als die andere, aber das ist ja wie gesagt nicht die Frage.

    Komisch. Wieder stimme ich einem Betrag (in seinen Voraussetzungen) zu und gelange zu anderen Schlüssen. Nein, es geht nicht darum, was jeder Einzelne hier befürwortet oder ablehnt. Niemand bestreitet, dass ein Verlag eine unternehmerische Freiheit hat und sich entscheiden kann, mit wem er einen Vertrag eingeht oder verlängert. Das brauche ich nicht einmal zu befürworten. Das geht auf die Berufsfreiheit zurück und ist geltendes Recht und geltende Verfassung. Und das finde ich alles ganz prima.


    Für mich ist der springende Punkt, dass ich meine Ansichten nicht nach Beliebigkeit ändern möchte. Flapsig gesagt: Mal so, mal so. So'n kleines büschn Konsistenz ist mir wichtig. Ich für mich halte einen Kompass für wichtig. Daher überzeugt mich nicht die Begründung: "Letzten Endes geht es gegen Trump." Es geht um Bücher. Von denen gibt es sehr viele.


    Ich will aber auch gar nicht so tun, als ob ich immer nur Widerspruchsfreiheit für mich zum Ziel habe. In der Salzburger Landesregierung sitzt gerade auch die FPÖ. Als die ÖVP beschloss, mit ihr eine Koalition einzugehen, war ich auf einer leider ziemlich kleinen Demonstration dagegen, die zudem noch von Antifa-Kreischern dominiert wurde. Ich habe mich nach einer Orientierung zu den "Omas gegen Rechts" gestellt. Mit den meisten anderen Gruppen wollte ich nicht zu tun haben. Abgesehen davon, dass die Demo für mich eine Enttäuschung war, verstieß sie auch gegen ein paar Überzeugungen meiner Wenigkeit: Nämlich, das Ergebnis einer demokratischen Wahl hinzunehmen und die Regierungsbildung in einer mittelbaren Demokratie zu akzeptieren. So'n büschn Konsistenz konnte ich mir nur zubilligen, weil ich mir sagte: Dasselbe würde ich tun, wenn die KPÖ in die Landesregierung käme. Die sitzen inzwischen im Salzburger Stadtrat. Klasse. Da gab's keine Demo, und ich habe mich da auch nicht allein vor den Magistrat gestellt. Inkonsequenz kenne ich also auch von mir. Trotzdem meine ich, einen Kompass zu haben.


    Und mit meiner Frage nach Suhrkamp und Judith Butler wollte ich auf so einen Kompass hinaus.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Denn ein Prosatext [...] ist nicht schöpferunabhängig. Niemals.

    Da möchte ich widersprechen.

    Zunächst ganz praktisch: Ich zumindest habe keine Ahnung, wer Scott Fitzgerald oder Gabriel Garcia Marquez waren, von den ganz basalen Eckdaten wie Staatsbürgerschaft und Jahrhundert einmal abgesehen. Insofern ist mein Erlebnis ihrer Werke schöpferunabhängig in diesem Sinne.


    Aber auch theoretisch: Was hat man Kafkas Texte nicht mit biografischen Erkundungen zugemüllt, und was ist das alles anderes als Boulevard fürs Bürgertum? Texte wie Der Proceß und Co. bedürfen keiner Kafka-Biografie, um zu überzeugen, und ihre Interpretation anhand einer solchen ist für mich immer nur Ausflucht, ein Hilfe-Suchen der Überforderten.

    Im Ergebnis produziert das ohnehin nur Binsenweisheiten: Kafka hatte ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, oho, und er sah sich von den weltlichen Forderungen bedrängt, soso, und stellt euch vor, deshalb sind seine Texte von übermächtigen Autoritäten durchwirkt, mensch, was eine Erkenntnis. Hat dieser Autor doch tatsächlich Erlebtes in seinen Werken verarbeitet!!


    Das nur am Rande.

  • Hallo, Christian.


    Ich habe nirgendwo erklärt, man müsse die Biografien irgendwelcher Leute kennen, um sich ihren Werken nähern zu können. Tatsächlich halte ich das für einen Fehler; Texte sollten für sich selbst sprechen und alleine funktionieren. Aber das ist auch nicht das, worüber ich hier gesprochen habe. ;)

  • Hallo, Christian.


    Ich habe nirgendwo erklärt, man müsse die Biografien irgendwelcher Leute kennen, um sich ihren Werken nähern zu können. Tatsächlich halte ich das für einen Fehler; Texte sollten für sich selbst sprechen und alleine funktionieren. Aber das ist auch nicht das, worüber ich hier gesprochen habe. ;)

    Na gut, dann muss ich wohl weiter auf eine Gelegenheit warten, dir zu widersprechen :P

  • Ja, bis 2016.

    Was diesen Fall in gleich mehrfacher Hinsicht interessant macht.

    Vance hat seine Ansichten offenbar geändert. Legitim!
    - Wer kauft denn jetzt aber dieses Buch, wenn es eine überholte Einstellung transportiert? Mich würde das Buch gerade jetzt nicht mehr reizen. (Und ich mochte es.) Warum dann jemanden, der es ja zumindest anziehend finden muss (?), ein Buch des kandidierenden republikanischen Vize-Präsidenten zu lesen, wenn er sich doch sonst/bislang nicht dafür interessiert hat?

    - Was mag da noch kommen? Ein neues Buch mit einer griffigen Erklärung, wie der Sinneswandel zu erklären ist?

    - Wieviele Exemplare mag Ullstein zuletzt noch verkauft haben (oder ist es so, dass zeitlich kein Effekt erkennbar war)?

    - Wie stark wiegt der Effekt, dass es ein anderer Verlag sein musste - was man ja auch „verdächtig“ finden könnte - auf den Verkaufserfolg?

    Fragen über Fragen …