Die Wahl der Erzählperspektive

  • Es fällt mir schwer mich für eine Erzählperspektive zu entscheiden. Meinen ersten Roman habe ich in der Ich - Perspektive geschrieben und im Präsens. Ich wollte nah dran sein am Protagonisten. Das ist mir recht leicht gefallen, es war für mich naheliegend. Die neue Erzählung will ich im Präteritum schreiben. Ich glaube, da ist der Lesefluss eingängiger. Und ich schwanke zwischen dem personalen Erzähler und dem allwissenden Erzähler. Welche Vorteile gibt es, welche Nachteile?

    Es geht in der Geschichte um einen alten Mann, der sich mit dem Liebhaber seiner Frau auf die Suche nach der verschwundenen Frau macht.

  • Hi Matthias,


    ich verbinde die auktoriale Erzählweise immer mit alten Romanen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und mit Märchen und Erzählungen. Für mich ist es ein wenig eingestaubt und auch bevormundend, eben eher "erzählend" und nicht so sehr "eintauchend".


    Wenn du weiterhin nah dran sein willst an den Figuren, dann ist dies vielleicht nicht gerade die richtige Wahl. Der auktoriale Erzähler ist distanziert, und er weiß alles, sieht alles, kann in jeden Kopf gucken, kennt die Vergangenheit und die Zukunft, kann um Ecken sehen, und so weiter. Das mag auf den ersten Blick praktisch für den Autor sein, aber ich finde, es nimmt auch ganz viel Spannung aus der Geschichte, denn gerade das Vorenthalten von Informationen (weil die Figuren eben nicht alles wissen) treibt eine Geschichte mit all ihren Verwicklungen voran. Deshalb würde ich das immer bevorzugen.


    Natürlich muss man sich dabei nicht an nur eine erzählende Figur halten, man kann auch aus mehreren Perspektiven erzählen, und das macht die Sache erst richtig interessant (meiner Meinung nach). Allerdings würde ich es nicht wie in Shōgun machen, was ich letztens beendet habe, denn da springt der Erzähler munter durch die Köpfe und man weiß gar nicht, wer jetzt eigentlich gerade was denkt oder fühlt.


    Es gibt zudem die Möglichkeit, zu mischen, also an manchen Stellen den auktorialen Erzähler hervortreten zu lassen, um dann aber wieder ganz nah an die Figuren heranzutreten. Vielleicht einfach mal ausprobieren anhand einer Szene und schauen, wie es auf dich wirkt.

  • Hallo Matthias,


    ich stimmte Silke zu: Auktorialer Erzähler ist eher altmodisch und heute nicht mehr so gebräuchlich - Leser möchten näher an den Figuren sein, was mit dem auktorialen eher schwierig ist.


    Ich habe die auktoriale Perspektive in einem Roman benutzt, der ein ganzes Leben in unterschiedlichen Ländern erzählt - da bot es sich an, einige Passagen auktorial zu erzählen, um den Leser jeweils an Ort und Zeit des Geschehens mitzunehmen. Da habe ich hin und wieder eine Szene mit dem auktorialen Erzähler begonnen, um dann aber in die personale zu wechseln.


    Aber wie bei allem: Man darf eigentlich alles, wenn es gut gemacht ist. Der Ratschlag, es einfach auszuprobieren, ist gut - ob eine Szene ausreicht, weiß ich nicht, es braucht vielleicht auch etwas mehr, damit Du rausfindest, was für Dich und Deinen Stoff funktioniert.


    Off topic noch ein gut gemeinter Hinweis: Du würdest sehr wahrscheinlich mehr Antworten auf Deine Frage bekommen, wenn Du Dich einmal kurz vorstellst - Deine Frage aus der Kalten wirkt ein bisschen wie ein Partygast, der ankommt und ohne Begrüßung oder sonstige Höflichkeitsbezeugungen fragt, wo die Drinks sind ;)

  • Ich schließe mich SIlke ebenfalls an.


    Der Ich-Erzähler hat den Vorteil, dass er auch noch die Erzählstimme beeinflussen darf, weil er - im Gegensatz zum personalen Erzähler - nicht nur alles weiß, sondern auch eine handelnde Person ist. Das erlaubt vor allem in Sachen Lakonie, Erzähl- und Sprachwitz einiges mehr als die anderen Erzählperspektiven, jedenfalls empfinde ich das so. Aber mein derzeit noch aktuellster Roman "Freitags bei Paolo" ist aus der Perspektive gleich zweiter Personen abwechselnd personal erzählt (Präteritum), das geht schon auch und hat sogar großen Spaß gemacht, und ich habe nichts vermisst - die Geschichte ist exakt so geworden, wie sie werden sollte (nein, eigentlich sogar noch viel besser 8) ). Der kommende ist aber wieder ein Ich-Roman und überwiegend im Präsens. Das Erleben vor allem in Grenzsituationen lässt sich da viel glaubhafter schildern, finde ich.

  • Der Ich-Erzähler kann auch Nachteile haben. In meinem 2022 veröffentlichten Roman hatte ich eine Verfolgungsjagd geplant. Ich ist in dem Roman eine übergewichtige Frau und sie schildert aus ihrer Sicht, wie ihr Mann flüchtet. Da sie schlecht hinterherrennen konnte, habe ich ganz schön daran geknuspert.

    Ich bringt für meinen Geschmack den Leser nah ans Geschehen, kann aber einschränken.

  • Hat halt alles eine Vor- und Nachteile. Mit der Ich-Perspektive gerät man auch mehr in Gefahr, dass einem jemand aus dem Denken und Handeln der ich-erzählenden Figur einen Strick zu drehen versucht. Man ist also möglicherweise angreifbarer. Aber Schriftstellerei ist sowieso nur was für die ganz harten. 8)

  • Steht mir rot oder blau besser?


    Das dürfte für mich in etwa die gleiche Art von Antworten hervorrufen, wenn niemand hier mich persönlich kennt, wie deine, aus der Kalten, gestellte Frage.

    Deine Geschichte oder zumindest den Plan hinter deiner Geschichte kennen wir auch nicht. Die Antworten gehen daher natürlich von persönlichen Präferenzen und Erfahrungen aus.

    Ich mag, je nach Geschichte, sowohl die Personale als auch die Ich-Perspektive. Zur auktorialen Erzählweise wurde schon das Wichtigste genannt.

    Präsens mag ich nur bedingt, aber es ist sowohl vom Genre als auch vom Inhalt und vor allem von der Erzählkunst abhängig. Aber wie Dorrit schon schrieb, ist alles erlaubt, wenn es gut gemacht ist. Eigentlich ist es auch erlaubt, wenn es weniger gut gemacht ist, aber dann ist die Resonanz vielleicht auch entsprechend.

    Die Empfehlung mit dem Versuch kann ich nur unterstützen. Probieren geht schließlich über Studieren.

  • Probieren geht schließlich über Studieren.

    Aus Sicht der Probierenden mag das manchmal stimmen, aus Sicht der Probanden aber seltener. Ich mag es beispielsweise lieber, wenn Mediziner, die mich behandeln, auch studiert haben. Die Aussage "Ich habe lange genug Operationen am offenen Herzen ausprobiert" reicht mir da nicht.


    Wenn es aber um etwas so wenig Lebensgefährliches wie die Schriftstellerei geht, mag die Binsenbananenweisheit häufiger zutreffen. Aber ein Studium - also ein Sichkenntnisseverschaffen - schadet m.E. selten.

  • Herzlichen Dank für eure Antworten! Das war mir so nicht klar, dass der auktoriale Erzähler heute nicht mehr häufig verwendet wird. Das ist spannend, in meinem ersten Roman habe ich den Ich Erzähler verwendet. Ich bin gerne nah dran an meiner Hauptfigur. Weil es diesmal ein achtzigjähriger werden soll, stelle ich mir das Ganze etwas getragener vor. Ich werde dem Vorschlag folgen und einfach mal in der personalen Perspektive und im Präteritum schreiben. Wahrscheinlich merke ich schnell ob mir das liegt. Multiperspektive ist glaube ich nichts für mich. Das ist mir zu ungeordnet und ich habe Angst, dass es unübersichtlich wird.


    Aja, es war tatsächlich eine Frage aus dem Kalten, ich stelle mich nachträglich kurz vor... Ich heiße Matthias Amberger, wohne in der Nähe von Frankfurt am Main und arbeite schon recht lange künstlerisch. Ich habe mich viel mit Film beschäftigt, seit ein paar Jahren habe ich mich auf das Schreiben festgelegt. Ziemlich genau vor einem Jahr kam mein Roman "Urlaub in Frankfurt" im Selfpublishing heraus. Insgesamt finde ich die künstlerische Arbeit ziemlich ernüchternd, mache es aber trotzdem.


    Großes Dankeschön, für die Antworten. Damit weiß ich, in welche Richtung es weitergeht.

  • Hallo Matthias,


    herzlich willkommen!

    Ich wollte nah dran sein am Protagonisten.

    Die Perspektive (Icherzähler, auktorial oder personal bzw. Mix aus den beiden) sagt eigentlich nichts über die 'Nähe' oder 'Distanz' zum Leser aus. Du kannst auch 'Distanz' mit einem Icherzähler haben (z. B. - aber nicht nur - wenn in Brief-/Tagebuchform erzählt wird oder in Metafiktion, wo die Trennung zwischen Autor und Erzähler und ggfs. auch noch Protagonist aufgehoben wird).


    Und genauso kannst du einen auktorialen Erzähler als 'nah' am Leser erzählen, das muss nicht unbedingt dieses Schreiben mit dem abgespreizten kleinen Finger werden.


    Zum Auseinanderfusseln, welche Perspektive was kann oder nicht kann, empfehle ich ein wunderbares Buch, das die vielen kleinen Nuancen an kurzen Beispielen aus der Literatur aufzeigt: James Wood: How Fiction Works, dt. als Die Kunst des Erzählens.

    Das ist rein analytisch-deskriptiv und wertet nicht, gibt nichts vor.


    Wie klasse, dass du einen betagten Protagonisten entwerfen willst! Das gibt es imA viel zu wenig. Ich lese übrigens grad Jaroslav Rudis' Winterbergs letzte Reise, da ist die Titelfigur (nicht gleichzeitig der Erzähler) 99 Jahre alt.


    Und ich schwanke zwischen dem personalen Erzähler und dem allwissenden Erzähler. Welche Vorteile gibt es, welche Nachteile?

    Einen allwissenden, auktorialen Erzähler hat man heutzutage wohl tatsächlich selten (Ausnahme u.a. wieder: Metafiktionen, wo es eben stark innovativ /weird klingt), aber es gibt in allen Abstufungen eingeschränkte auktoriale Erzähler. Die können meist nur zusätzlich zur eigenen Sicht in den Kopf einer einzigen der Figuren schauen und müssen nicht unbedingt wissen, was als näxtes passieren wird. Bei einem unzuverlässigen Erzähler kannst du auch mit der Erwartung spielen, dass auktoriale Erzähler erstmal die Wahrheit sagen und das dann brechen etc.


    Vermutlich gibt es in den meisten (post)modernen Erzählungen einen Mix aus eingeschränkt auktorialem und dann personalem Erzähler. Gut gemacht bemerkt man die Wechsel jeweils nicht, aber - kann ich auch aus eigener Erfahrung sagen *gn* - das ist sehr fehleranfällig, wenn man das nicht sauber / smooth gelöst bekommt und da ungewollt Brüche einbaut (bissl wie beim headhopping).


    Kommt insgesamt drauf an, wie du Spannung aufbauen willst.


    Seit den 1990ern gibt es eine Art extrem personalen Erzähler / extreme Rollenprosa, Deep Point of View. Ich hab schon oft gehört, dass Leser so eine Stimme als besonders 'nah' und 'realistisch' erleben, lese das selbst aber gar nicht, mir geht das echt total auf den Keks. Sowas kann imA schnell anbiedernd wirken; ich hab gern ein bissl Distanz.

    Hier gibt es einen tollen, extrem unterhaltsamen Blog eines britischen Phantastiklektors, der DPoV auseinandernimmt: The Emperor's Notebook.


    Ich finde Analysen zu Erzählhaltungen extrem spannend, die Praxis aber echt alles andere als einfach! :kaffeepc

  • Ich werde dem Vorschlag folgen und einfach mal in der personalen Perspektive und im Präteritum schreiben. Wahrscheinlich merke ich schnell ob mir das liegt. Multiperspektive ist glaube ich nichts für mich. Das ist mir zu ungeordnet und ich habe Angst, dass es unübersichtlich wird.

    Hallo Matthias,

    die Wahl der Perspektive hat auch noch eine weitere Komponente. Bei der Entstehung des Plots solltest du sicherstellen, dass sich die geplante Geschichte mit der gewählten Perspektive auch wirklich so erzählen lässt, wie du dir das denkst. Wenn du auf Seite 100 feststellst, dass du eine zweite Perspektivfigur brauchst, um das zu tun, was du vorhattest, ist das echt blöd.

    Die Möglichkeit, "Informationen" an den Leser weiterzugeben, bspw., hat unmittelbaren Einfluss auf die Möglichkeiten, Spannung zu erzeugen, bzw. naja auf das gesamte Erzählen hat das Einfluss.

    Nach deinem Gefühl zu gehen ist bestimmt eine gute Idee, aber deine Frage hat auch eine sachliche, technische Komponente. Die Perspektivwahl ist keine reine Geschmackssache. Sie gehört zum Wie des Was. ;-)

    Christoph

  • Herzlichen Dank für das "Willkommen". Die Fülle an Infos und Tips ist toll und die Entscheidung für die Erzählperspektive ist ja auch wirklich grundlegend. Ich stecke gerade noch in den Kinderschuhen der neuen Erzählung, mache mir Gedanken zu den Figuren und dem Plot und eben der Erzählperspektive. Das will ich vor dem Schreiben für mich festlegen. Es ist klar, dass ich mich einschränke, wenn ich mich auf eine Perspektive festgelegt habe. Wenn ich bei Seite 100 merke, dass nicht mehr alles möglich ist, habe ich einfach Pech gehabt. Habe ich mich auf eine Perspektive festgelegt, ist eben nicht mehr alles möglich. Damit muss ich dann leben. Von Deep Point of View habe ich noch nichts gehört. Ich werde mir den Blog ansehen. Ich bin insgesamt in der Literaturtheorie nicht wirklich firm. Wenn das erst in den 90ern aufkam ist es ja noch recht neu. Danke Euch für die Denkanstöße!

  • Eine gute Übung, herauszufinden welche Erzählperspektive passt, ist es, eine Szene (muss nicht der Anfang sein) in verschiedenen Perspektiven aufzuschreiben. Da merkt man schon beim formulieren, was einem besser liegt.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Kuhlen, Kohlen und Geklimper

    ASIN/ISBN: 3947848994


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Ein herzliches Willkommen auch von mir!


    Die Schreibtechnikerin stellt auf ihrer Seite die gängigen erzähltheoretischen Modelle (Stanzel und Genette) vor. Da geht es sehr klar, aber auch recht trocken-theoretisch zu.

    Aber - und das macht die Seite auch für Leute attraktiv, die weniger auf Theorie aus sind - es gibt auch eine ganze Reihe von Analysen, die vorführen, wie die einzelnen Erzählstrategien wirken. Bitte nicht davon abschrecken lassen, dass sie auf den ersten Blick ihre Leistungen anpreist. Es gibt auf der Homepage eine ganze Menge gutes und frei zugängliches Material.


    Zum Auseinanderfusseln, welche Perspektive was kann oder nicht kann, empfehle ich ein wunderbares Buch, das die vielen kleinen Nuancen an kurzen Beispielen aus der Literatur aufzeigt: James Wood: How Fiction Works, dt. als Die Kunst des Erzählens.

    Das ist rein analytisch-deskriptiv und wertet nicht, gibt nichts vor.

    Danke für den Tipp, Katja! Klingt Interessant!

  • Die Schreibtechnikerin stellt auf ihrer Seite die gängigen erzähltheoretischen Modelle (Stanzel und Genette) vor. Da geht es sehr klar, aber auch recht trocken-theoretisch zu.

    Die Erläuterungen der Modelle sind wirklich super. Haben bei mir zu einem satori-artigen Aha-Erlebnis geführt. Etwas ganz ähnliches wird an der Bundesakademie im "Basiskurs Erzählen: Perspektive" vermittelt. Und auch damals war ich anschließend ziemlich aus dem Häuschen. Denn das Erzähl-Element "Perspektive" ist gar nicht so einengend und hemmend wie ich lange gedacht habe. Im Gegenteil. Es eröffnet einen ganzen Horizont an Möglichkeiten. Möglichkeiten, sich dem Stoff zu nähern. Perspektive ist die gestaltete Sicht auf den Stoff. Großes Kino, ganz ehrlich, das sollte jeder lesen, der glaubt, dass er hier noch etwas dazulernen kann.

    Meine Zusammenfassung der Zusammenfassung:

    Die Wahl der Perspektive ist nicht die Wahl des Personalpronomens.

    Die Wahl des Personalpronomens ergibt sich aus der Wahl der Perspektive.

    Die üblichen Kategorien "Ich-Erzähler", "personaler Erzähler" und "auktorialer Erzähler" sind keine festen Kategorien. Man tut gut daran, sie als Pole eines Spektrums zu verstehen. Die Wahl der Perspektive erfolgt nicht über einen EIN-AUS-Schalter, sondern mittels Schieberegler, den man auch innerhalb eines Romans, ja sogar innerhalb eines Absatzes verschieben kann.

    Statt von der Wahl der Perspektive sollte man besser von der Gestaltung der Perspektive sprechen, denn das ist eines der grundlegenden kreativen Instrumente.

    (Trotzdem selber lesen, das hier schreibe ich ja bloß für mich selbst.)

    Habe daraufhin ein gutes Dutzend liebgewonnene Romane nochmals angelesen und dabei eine Menge verstanden. Da ging eine ganze Lichterkette an.

    Unter anderem kann ich für mich festhalten, dass auch die sogenannte "auktoriale Perspektive" - wie ich selbst lange geglaubt habe - keinesfalls ausgedient hat. Wer's nicht glaubt, schaue sich "Treffen sich zwei" von Iris Hanika an.

    Kleine "auktoriale Häppchen" findet man in vielen - auf den ersten Blick personal erzählten - Romanen. Deswegen Schieberegler.