Erzählungen und Kurzgeschichten sind, so heißt es, für nicht Etablierte schwierig an den Verlag zu bringen. Es gibt natürlich Anthologien, einige davon gehen aus Wettbewerben hervor, aber ein Buch mit Kurztexten von einem einzelnen Autor/einer einzelnen Autorin zu veröffentlichen, gilt als Ausnahme - korrigiert mich, wenn ich falsch liege - es sei denn, der Verfasser hat bereits einen Namen. Den hat der gelernte Jurist Bernhard Schlink (Jahrgang 1944): Angefangen als Krimiautor, wurde sein Roman „Der Vorleser“ von 1995 international bekannt, nicht zuletzt durch die Verfilmung mit Kate Winslet. Der Roman handelt vom Umgang der Deutschen mit der nationalensozialistischen Vergangenheit, eingebettet in die Geschichte einer erotischen Beziehung eines Gymnasiasten zu einer Straßenbahnschaffnerin. Jahre später begegnet er ihr als Jurastudent vor Gericht wieder: Als ehemaliger KZ-Aufseherin soll ihr der Prozess gemacht werden.
Die Sammlung „Sommerlügen“ von 2010 beinhaltet sieben Erzählungen:
In „Nachsaison“ kuriert ein Orchestermusiker eine Handverletzung in Cape Cod aus und begegnet am Strand einer reichen Erbin. Trotz der Unterschiede keimt aus der Zufallsbegegnung innerhalb kurzer Zeit der Plan, miteinander eine Familie zu gründen.
„Die Nacht in Baden-Baden“ handelt von
einem Theaterautor, der - aus Versehen - eine Groteske verfasst und zu der Premiere eine andere Frau als seine Freundin mitnimmt, um mit ihr eine platonische Nacht in einem Hotelzimmer zu verbringen.
„Das Haus im Wald“ sendete mir ein paar eindeutige Stephen King-Vibes: Ein Schriftsteller wird von seiner Frau überflügelt und zieht mit ihr und der kleinen Tochter aufs Land. Während sie ihren neuen Roman fertigschreibt, schmiedet er Pläne - weitere Kinder und Home Schooling - um sich und seine Familie ganz und gar von der Außenwelt abzuschotten.
In „Der Fremde in der Nacht“ bekommt ein Professor für Verkehrsströmungslehre auf einem Flug eine Geschichte erzählt, die von Menschenhandel, Krieg, Flucht, einem Sturz von einem Balkon und daraus resultierend einem Prozess handelt, der seinen Sitznachbarn erwartet.
„Der letzte Sommer“ erzählt von einem krebskranken Philosophieprofessor, der in Erwartung seines baldigen Freitods seine Familie um sich versammelt, die von alledem nichts ahnt.
In „Johann Sebastian Bach auf Rügen“ ringt ein Sohn um eine Verbindung zu seinem greisen Vater.
Und in „Die Reise nach Süden“ stellt eine alte Frau fest, dass sie aufgehört hat, ihre Familie zu lieben. Auf einer Reise mit einer Enkelin gesteht sie sich eine Lebenslüge ein.
Schlinks Protagonisten sind bis auf eine einzige Ausnahme männlich und bewegen sich - als Musiker, Schriftsteller, Journalisten, Professoren - in einem akademischen/künstlerischen Umfeld. Sie sind gebildet, gut situiert, zumeist nicht mehr ganz jung. (Heute würde man womöglich sagen: Es geht überwiegend um „alte weiße Männer“.) Mehrere Geschichten handeln in den USA, dann mit einem deutschen Hintergrund des Protagonisten. Oft sind die Berufe entscheidend dafür, wie die Protagonisten auf das reagieren, was ihnen widerfährt. Das mag selbstverständlich sein, denn nur so wird letztendlich eine Geschichte draus, ins Auge fällt es trotzdem, zum Beispiel bei dem Theaterautor, der sich wundert, dass sein Stück als Groteske inszeniert wurde, der aber in seinem Privatleben ähnlich absurde Entscheidungen trifft. Oder bei dem Physiker, dessen Lebensinhalt der geordnete Ablauf von Verkehrsströmen ist, einem Mann also, der sich von dem Wunsch nach Ordnung und Logik leiten lassen wird, sich aber bewusst von einem Lebenskünstler, Kriminellen und sehr wahrscheinlich Mörder beeindrucken lässt.
Frauen sind in sechs von sieben Geschichten mehr Beiwerk. Ihre Gedanken erfährt man nicht, allenfalls, wenn sie sie äußern, oder kann sie nur erraten, aus dem, wie sie sich verhalten. Dabei sind sie mitunter aber nicht unwichtige Lenker oder zumindest Impulsgeber der Geschichte, der Mann reagiert mehr, wie in „Nachsaison“, wo der Musiker sich erst darauf besinnt, was er alles aufgeben muss - wenn er tatsächlich mit der Frau, die er gerade erst kennengelernt hat, ein neues Leben beginnen sollte - als er alleine ist, als er der physischen Präsenz der Frau quasi „entronnen“ ist. Mitunter kann man den Eindruck gewinnen, diese Protagonisten wissen nicht wirklich, was sie wollen - oder vielleicht liegt es auch daran, dass zwischen Erwartungen von Menschen in Beziehungen, im Leben wie in der Literatur, elementarere Unterschiede bestehen können. Die Menschen in „Sommerlügen“ belügen andere, und mitunter belügen sie sich selbst; über ihre Motive, eigene Verantwortungen und Verstrickungen.
Ich habe die Geschichten gerne gelesen, genauer, mir vorlesen lassen. Der 2016 verstorbene Schauspieler Hans Korte liest die Erzählungen ausdrucksstark, in einer ihm eigenen mitunter etwas nuscheligen, Wörter miteinander verschleifenden Art, die aber gut zum Charakter der Texte passt. „Das Haus im Wald“ halte ich für die schwächste Geschichte. Die meist offenen Enden weisen die Richtung, lassen aber Raum für eigene Interpretation.