Uwe Timm: Halbschatten

  • ASIN/ISBN: 3423138483


    Marga von Etzdorf entstammte einer adligen Offiziersfamilie. Die kaum Zwanzigjährige schloss bereits die Ausbildung zur Pilotin ab und war damit die zweite Frau nach dem Ersten Weltkrieg, die eine Fluglizenz erhielt. Sie erwarb auch den Kunstflugschein und bekam anschließend als erste Frau eine Stelle als Copilotin bei der Lufthansa. 1930 kaufte sie sich ein eigenes Flugzeug, eine Junkers A50. Ihr erster Langstreckenflug brachte sie nach Istanbul. Es folgten Flüge nach Spanien und den Kanarischen Inseln. Beim Rückflug über dem Mittelmeer geriet sie in ein schweres Unwetter und musste auf Sizilien Notlanden. Beim Abflug am nächsten Tag machte sie ihren ersten Bruch, als sie mit einem Flügel eine Mauer berührte. Das Flugzeug war so schwer beschädigt, dass es mit der Bahn nach Deutschland geschafft werden musste. Im August 1931 startete sie für ihren Flug nach Tokio, wo sie nach 12 Tagen ankam. Beim Rückflug stoppte sie in Bangkok, um Freunde zu besuchen. Beim erneuten Start setzte der Motor aus und sie stürzte aus 80 Meter Höhe ab. Sie überlebte - aber das Flugzeug war irreparabel beschädigt. Erst 1933 konnte sie an einen neuen Flug denken, als eine Firma ihr ein Flugzeug zur Verfügung stellte. Sie startete am 27. Mai 1933 um Australien anzufliegen, machte am nächsten Tag in Syrien bei Aleppo erneut Bruch, als sie mit dem Wind landete. Nach Erledigung aller Formalitäten erschoss sie sich mit einer mitgeführten Maschinenpistole durch zwei (!!) gezielte Schüsse in die Schläfe.


    Uwe Timm spürt diesem letzten Bruch und dem folgenden Suizid nach. Er macht das auf ganz eigene Weise. Der Erzähler sucht das Grab der Fliegerin auf dem Berliner Invalidenfriedhof auf. Er bekommt dort ungefragt einen Begleiter zur Seite gestellt – der Graue – und erfährt nach und nach alles, was Marga von Etzdorf zum Fliegen und in ihren Tod geführt hat. Darüber hinaus noch mehr, denn der Friedhof ist gut gefüllt und Stimmen, die vieles zu berichten haben bis zum Ende des Nationalsozialismus, sind überall gegenwärtig. Manchmal war ich nahe dran, die Orientierung zu verlieren. Wer spricht da gerade? Wo und in welcher Zeit befinden wir uns? Doch der rote Faden ist der Weg Margas nach Tokio und zuletzt der Bruch in Aleppo. Ein Friedhofsroman, könnte man sagen. Der 'Totenacker und seine Bewohner' scheint ein beliebtes Szenario zu werden. Uwe Timms Roman erschien 2008. George Saunders "Lincoln im Bardo" (ganz großes Kino!) kam 2018 heraus, und Robert Seethalers "Das Feld" (ein eher missglücktes Werk) im selben Jahr. Jenseits von Gruselgeschichten haben die Geister in diesen Romanen viel zu erzählen. Wie weit und wie lange das als literarisches Stilmittel trägt, wird man sehen. Bei Timm und Saunders hat es jedenfalls funktioniert.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Kuhlen, Kohlen und Geklimper

    ASIN/ISBN: 3947848994


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


    Einmal editiert, zuletzt von Horst-Dieter ()

  • Wir haben das Buch damals im Deutsch-KL gelesen. Ist bis heute eines meiner absoluten Lieblingsbücher. Dieses Hin- und Herspringen zwischen Erzählstimmen, Zeit und Ort, dass man sich quasi ein Puzzle aus Geschichtsfetzen zusammensetzt, fand ich damals genial.