Ravensburger nimmt aufgrund eines Shitstorms Kinderbücher aus dem Programm - und entschuldigt sich

  • Das alles nimmt derzeit skurrile Züge an. Die BILD schreibt, dass das ARD Winnetou-Filme aus dem Programm genommen hat. Was nicht stimmt, sie haben die nur seit zwei Jahren nicht mehr gesendet (dafür das ZDF). Prompt greifen auch andere (scheinbar) seriöse Printmedien diesen Fake auf und veröffentlichen ihn. Andere Stimmen bleiben eher verhalten im Hintergrund und werden nicht wahrgenommen, weil sie keine spektakulären Infos liefern.

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    Kuhlen, Kohlen und Geklimper

    ASIN/ISBN: 3947848994


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo, Petra.


    Es ist ein Unterschied, ob eine Gruppe (oder Leute, die sich als Anwälte einer Gruppe gerieren, ohne je ein Mandat erhalten zu haben) kritisiert, wie sie, ihre Angehörigen, ihre Kultur und ihre Geschichte in der Kunst - generell oder in Einzelfällen - dargestellt werden, oder ob man den Ansatz verkehrt und ein generalisiertes Verbot des Verstoßes gegen den Schutz (vermeintlicher) Partikularinteressen formuliert, das konkret darin besteht, sich damit nicht mehr beschäftigen zu dürfen. Denn das ist, was am Ende dieser Entwicklungen steht, und was diese Entwicklung so heikel macht (und von irgendeiner Nachrichtensau unterscheidet, die gerade durchs Dorf getrieben wird). Indigene Völker, Menschen bestimmter sexueller Orientierung, Religionsangehörige, Menschen mit bestimmten Schicksalen (etwa Migrationshintergründen), aber am Ende jede beliebige Eigenschaft, die man für identititässtiftend oder -beteiligt hält, von der Adipositas bis zur ungewöhnlichen Schuhgröße, wobei keine Rolle spielt, ob man das tatsächlich so sieht oder nur behauptet. Das dahinterstehende Paradigma ist Identitätspolitik, die ich ganz persönlich für eine der derzeit krassesten Formen von Rassismus halte, weil die elitarisierende Ausgrenzung in ihrem Zentrum steht. Wie ich weiter oben schrieb: Es geht bei diesem Ansatz nicht darum, ob man einer Thematik, Gruppe, Verhaltensweise, Orientierung, Entscheidungsstruktur usw. usf. gerecht oder nicht werden kann, sondern es geht um ein generelles Nein beim Versuch, sich damit auseinanderzusetzen (oder beispielsweise als hellhäutige Person eine dunkelhäutige zu synchronisieren oder zu übersetzen oder oder oder). Damit einher geht dann die Anschuldigung der kulturellen Aneignung - eine Anschuldigung, die ins Absurde geht.


    Tatsächlich wäre kaum der Rede wert, wenn irgendein Kinderbuchverlag ein bisschen Merchandising aus dem Programm nimmt, weil irgendwelche Leute bei Twitter randalieren. Verlage sind privatwirtschaftliche Unternehmen, und es gibt in der Wirtschaft tatsächlich unaufhörlich solche Vorgänge - Firmen reagieren auf Tests und Bewertungen, auf Proteste, auf sich veränderndes Bestell- und Kaufverhalten, und sie wählen dann eben andere Instrumente der Manipulation und der Abzocke, ohne großes Bohei darum zu machen. Man will Geld verdienen, und wenn man weniger Geld verdient, weil man die Käufer aus dem Blick verliert, riskiert man die Existenz. Aber dieser Vorgang, der inhaltlich den meisten, die sich dazu äußern, vollständig egal sein dürfte (ich war nie ein Fan der Bücher von Karl May und ich war noch jung und unschuldig, als ich zum letzten Mal eine Verfilmung gesehen habe), ist deshalb so besonders, weil er das oben genannte Axiom bestätigt: Du darfst nicht, weil es nicht Deines ist. Am Ende der Begründung, die Ravensburger veröffentlicht hat, steht die Anerkennung dieser Behauptung. Und wenn diese Tür weiter aufgeht (andernorts, etwa in den U.S. of A., ist sie längst sperrangelweit offen), bekommen alle Künstler und -innen auf der ganzen Welt Probleme mit allem, was fiktiv ist und nicht unmittelbar der eigenen Vita entstammt. Mehr noch - sie müssen jederzeit mit dem Risiko leben, dass die Verwertungskette ihrer Kunst gekappt wird, weil sich die Verwerter solchen Behauptungen beugen und sie also bestätigen. Und deshalb ist das kein alberner, bedeutungsloser Vorgang, nicht Alltägliches, wie manche behaupten, die sich selbst widerlegen, indem sie auf diese Weise das Thema dann doch aufgreifen, sondern ein starker Hinweis auf ein grandioses Problem, das längst in der Kunst angekommen ist und sich immer weiter ausbreitet.

  • Das ging so weit, dass mir von dem Gutachter oder der Gutachterin, die der Verlag hinzugezogen hatte, eine Fußnote zu 'white savoir' angefügt wurde.

    Ja, immer mehr Verlage und Produktionsbuden beschäftigen "Sensitivity Reader". Die Angst davor, irgendein -istisches Etikett angeklebt zu bekommen, ist größer als die Angst vor dem totalen Verlust der künstlerischen Freiheit.


    Ich habe vor drei Jahren einen heiß diskutierten Text für das "Literaturcafé" zu diesem Thema geschrieben, den ich heute nicht mehr exakt genauso formulieren würde (vor allem, weil ich nicht wollte, dass mir abermals passiert, was damals passiert ist), aber im Kern halte ich ihn nach wie vor für zutreffend, sogar mehr als noch vor drei Jahren: https://www.literaturcafe.de/s…slesen-und-die-literatur/ (Und die Kommentare dazu sind immer noch ein Heidenspaß.)

  • Jetzt kommt mir auch das Grauen.


    Ich habe soeben meine Manuskript zurückerhalten von einer Testleserin, die mir alle rassistischen Stellen angekreuzt hat, die andere Menschen beleidigen könnten. Ist es so schwer so erkennen, dass der Text von einem Erzähler erzählt wird? Dass die Figuren Kinder ihrer Zeit sind und entsprechend denken, fühlen und bewerten? Wie soll man einen historischen Roman schreiben, wenn die Hauptfiguren alle plötzlich total woke auf Begriffe wie "Rothäutig", "Wilder" und "gelbe Gefahr" verzichten? Ich finde doch, dass es gerade hier wichtig und angebracht ist. Rassismus hat Wurzeln, und ich kann kein ordentliches Porträt einer Zeit abgeben, wenn die Figuren plötzlich wie 2022 reden und denken. Es war mir sogar ein echtes Anliegen zu zeigen, wie mit Ureinwohnern zu jener Zeit umgesprungen wurde, eben weil der Rassismus immer noch so lebendig ist.


    Nun sorge ich mich angesichts dieser sehr aktuellen Diskussion sehr um meinen Text. Ich hoffe, nicht alle Verlage kneifen dermaßen den Schwanz ein.

  • Hallo allerseits!


    Ich habe hier still mitgelesen und kann bei vielem, was hier gesagt/geschrieben worden ist, ein "d'accord!" dahintersetzen. Ich habe ähnliche Befürchtungen wie Tom: Dem freien Wort, dem freien Gedanken wird die Luft abgedreht. Wir werden konsequent durch solche Aktionen wie "Der junge Häuptling Winntou" in eine vorweggenommene Selbstkritik gejagt, die diskussionswürdige Literatur verhindert. Oder wie jemand kürzlich dazu sagte: "Ich sage und schreibe lieber nichts, anstatt ein falsches Wort oder einen falschen Begriff zu riskieren, der meine wirtschaftliche Existenz vernichtet."


    Ich bin selbst ein gebranntes Kind, habe ich doch vor einiger Zeit ein Exposé einer Gruppe "sensitive Reading" überlassen zu einer Bewertung. Inhalt: Es ging um die Ausnutzung eines algerischen Jugendlichen, der durch eine radikalislamistische Gruppe zu Anschlägen in Deutschland angeleitet wird. Einhellige Antwort: Diese Geschichte darf ich nicht schreiben, weil sie einen Kulturkreis berührt, aus dem ich nicht stamme. Dabei war die Geschichte nichts weiter als eine Zusammenführung bestimmter gut recherchierter Sachverhalte, abgeleitet u. a. von den Bataclan-Anschlägen in Paris. Von einer anderen Geschichte - die eines Syrienflüchtlings, den ich persönlich kenne - wurde mir aus gleichen Gründen abgeraten: Ich sei ja kein Syrer!


    Was also dürfen wir noch (schreiben)? Die Luft wird dünn.


    Mich würde zudem interessieren, was diese Gruppe, die gegen das Winnetou-Buch optiert hat, acht- oder zehnjägrigen Kindern an Texten über die Native Americans in die Hand geben würden. Da ist leider gar nichts gekommen und wird wohl auch nicht. Sollen diese Kinder tatsächlich detailliert geschildert bekommen, wie die US Cavalry Männer, Frauen und Kinder umbringt? Weil das der "indianischen Realität" nahekommt? Selbst das neue Buch "Was ist Was - Die Indianer" kratzt gerade mal an der Oberfläche. Wie mit "biologischen Kampftsoffen" in Form von Masern und Pocken ganze Stämme ausgerottet wurden, findet sich in diesem Buch auch nicht. Ist ein Film wie "Das Wiegenlied vom Totschlag" jetzt plötzlich kindertauglich, weil dieser Film der Realität recht nahe kommt? Was ist die Zielsetzung der Anti-Winnetou-Fraktion? Mir erschließt sich da nichts.


    Und: Wenn Klischee und Romantisierung der Kern sind, Bücher zu verbieten, dann müsste wegen der ganzen Klischees und Romantisierungen von Frauen nahezu die gesamte Weltliteratur eingestampft werden (Lisa Ortgies).


    Geschmeidig bleiben!

  • Ich denke, das ist ganz normales Verhalten.

    Weshalb erinnern mich dieser Shitstorm und die Folgen an die deutsche Vergangenheit?

    Weil wir immer noch die selben Deutschen sind. Wir tragen nur andere Uniformen und Frisuren.

    Die Leute glauben gerne, die Menschen und die Welt hätten sich geändert, doch alles was sich in den letzten 5000 Jahren geändert hat, ist die Mode. Die Menschen bleiben immer die selben.

    "Im Internet weiss keiner, dass du eine Katze bist." =^.^=

  • Ich empfinde es als problematisch, wie viele Honks gerade auf diesen Zug springen und von "ihrem" Winnetou glauben, er müsse "gerettet" werden. Die Auswüchse dieses Verhaltens (und das, was einige Medien daraus machen) sind sehr irritierend, und sie torpedieren den Kern der Diskussion. Bei der geht es nämlich nicht um Indianer oder Native Americans oder Karl May oder unser aller Jugenden, sondern um das Verhalten des Ravensburger Verlags, der die Anspruchshaltung der Protestierer und -innen durch die Reaktion auf sie geadelt hat, der also als Verwertungsverantwortlicher anerkennt, dass es diese Art von Einspruchsrecht bei Kunst (im weitesten Sinn) gibt. Und damit bestätigt, dass hierbei Befindlichkeiten Freiheiten übertrumpfen. Was nicht nur für tatsächliche Befindlichkeiten gilt, sondern auch, sogar vor allem für solche im Konjunktiv.

  • Natürlich Tom. Sofort beim Lesen des Gutachtens erinnerte ich mich an deinen damaligen Beitrag. Vor allem an die daraufhin kontrovers geführten Diskussionen. Mein Antwortschreiben an den Verlag hat mit Sicherheit meine "große Autorenkarriere" beendet. Das war es mir wert!


    Katze: Natürlich sind wir noch die selben Deutschen. Trotzdem hatte ich, Jahrgang 44, gehofft, die jüngere Generation sei toleranter geworden. Gerade was Kunst betrifft. Meine Sorge ist, dass diese ständige Gängelei der Demokratie schadet und den rechten Rand der Gesellschaft beflügelt. Irgendwie habe ich ständig das Bild der Bücherverbrennung vor Augen. Die entartete Kunst in der Malerei. Mag sein, dass hierbei mein Alter eine Rolle spielt.


    Silke: Deine Befürchtungen sind richtig. Allein das Wort Ureinwohner wurde bei mir als rassitisch bewertet, obwohl sich die Bewohner des Dschungels von Malaysia selbst als Orang asli - Ureinwohner - bezeichnen. Der Gutachter oder die Gutachterin hat nicht einmal zwischen Malaien und den Indigenen (Ureinwohner, die bis 1000 verschiedene Stämme bilden) unterschieden - womöglich aus Unkenntnis. Und dass ein Großteil der Stämme noch als Nomaden im größten Dschungel leben, entging dieser Fachkraft.


    Ich wünsche dir mehr Glück mit deinem Manuskript. Es ist ist bitter, nach drei Jahren Schreibzeit und zusätzlicher sorgfältiger Recherche diese Antwort zu erhalten.


    @: Siegried: zu deinem Beitrag möchte ich mich zurückhalten, sonst gehen mit mir die Pferde durch. Diese Antwort eines in Deutschland lebenden Syrers macht mich nur noch sprachlos.

    "Gedanken sind nicht stets parat. Man schreibt auch, wenn man keine hat."
    Wilhelm Busch


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  • Linda: Es tut mir so leid für dich. Aber vielleicht ist es noch zu früh, die Flinte ins Korn zu werfen und es findet sich ein anderer Verlag, der etwas sturmfester ist als dein aktueller Verlag. Ich drücke dir die Daumen.

    Silke: Auch dir drücke ich die Daumen, dass die Meinung deiner Testleserin eine Einzelmeinung bleibt, die der Verlag nicht teilt. Aber ich gebe zu, bedrückend ist das alles schon.


    Damit ich das richtig verstehe:

    Sensitivity Reading bedeutet doch, dass ein(e) Angehörige(r) einer bestimmten Community, der ich selbst nicht angehöre, mein Manuskript im Hinblick auf eine in der Geschichte vorkommende Romanfigur begutachtet, die dieser Community zuzuordnen ist, und er oder sie hinter jede Beschreibung dieser Figur, hinter jede von dieser Figur vorgenommene Handlung sowie von ihr gesprochene Dialogzeile seinen Approved- oder Not Approved-Stempel setzt und der Verlag im Falle des Überwiegens Letzterer mein Manuskript ablehnen wird, wenn ich mich zögerlich zeige hinsichtlich einer entsprechenden Umarbeitung. Richtig?

    Aber warum geschieht das konsequenterweise oder mit der gleichen Rigorosität nicht auch im Falle der Romanfigur eines Rollstuhlfahrers oder einer alleinerziehenden Mutter auf Hartz IV, einer Magersüchtigen oder einem Menschen mit Tourette-Syndrom, deren spezifische Erfahrungen ich gleichfalls allesamt nicht aufgrund eigenen Erlebens teile?


    Nebenbei gefragt: Warum schaffen die Sensitivity Reader die Literatur, wie sie ihrer Meinung nach sein sollte, nicht gleich selbst? Auf etwaige Antworten bin ich gespannt. Ehrlich.


    Bei alldem ist auch ein gerüttelt Maß intellektueller Unaufrichtigkeit im Spiel. Die im Übrigen bereits mit der Ungeheuerlichkeit beginnt, dass Vertreter dieses neuen Jakobinertums dekretieren, wer sich überhaupt diskriminiert und marginalisiert fühlen darf und wer grundsätzlich privilegiert ist und wer dies ebenso grundsätzlich nicht ist. Die Diskriminierung mit Diskriminierung bekämpfen und die sich den Teufel um die Konsequenzen scheren, die aus ihrem Handeln folgen. Die sogar ihre in der Sache selbst oftmals nur vermeintlichen Gegner dämonisieren und dehumanisieren, so als befänden sie sich auf einem Kreuzzug gegen das Böse. Kreuzzug. Dieser Begriff kommt mir in diesem Zusammenhang des Öfteren in den Sinn. Schwarz oder weiß. Deus lo vult. Us or them.

    Und von all dem einmal abgesehen vermag ich auch nicht zu sehen, worin die Privilegien des Rollstuhlfahrers und der alleinerziehenden Mutter auf Hartz IV bestehen sollen verglichen mit denen des einer Migrantencommunity entstammenden studierten Soziologen oder der einer Theaterwissenschaftlerin aus dem gleichen Milieu.


    Das alles trägt mehr und mehr groteske Züge und wenn die Entwicklung in diesem Umfang weitergeht, bedeutet es zuletzt das Ende des fiktionalen Schreibens. Und ich verstehe nicht, warum die Verlage dabei so bereitwillig mitmachen, statt sich schützend vor ihre Autorinnen und Autoren zu stellen, und ohne Wenn und Aber deren Freiheit, die Freiheit der Kunst verteidigen, ohne die keine Autorin und kein Autor seine Werke schaffen könnte und die ja letztendlich überhaupt erst die Daseinsberechtigung der Verlage begründen.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • Sensitivity Reading bedeutet doch, dass ein(e) Angehörige(r) einer bestimmten Community, der ich selbst nicht angehöre, mein Manuskript im Hinblick auf eine in der Geschichte vorkommende Romanfigur begutachtet, die dieser Community zuzuordnen ist, und er oder sie hinter jede Beschreibung dieser Figur, hinter jede von dieser Figur vorgenommene Handlung sowie von ihr gesprochene Dialogzeile seinen Approved- oder Not Approved-Stempel setzt und der Verlag im Falle des Überwiegens Letzterer mein Manuskript ablehnen wird, wenn ich mich zögerlich zeige hinsichtlich einer entsprechenden Umarbeitung. Richtig?

    Nein.


    Sensitivity Reader ganz allgemein gehören nicht notwendigerweise einer bestimmten Community an. Einige der Vertreter und -innen dieser Zunft, die in Deutschland aktiv sind, bezeichnen sich selbst als Person bzw. People of Color, sind also nicht weiß (mit entsprechendem geschichtlichen Hintergrund), aber für das Einfühlsamkeitslesen, bei dem es nicht nur um Diskriminierungspotentiale geht, ist meiner Kenntnis nach nicht nötig, selbst einer marginalisierten Gruppe anzugehören, die auch noch im zu prüfenden Kulturgut vorkommt. Es sind eher Kenntnisse der Techniken und Formulierungen und Sensibilitätsbereiche nötig, da es darum geht, nicht nur klar erkennbare Schwierigkeiten auszumerzen, sondern auch solche, die sich erst auf den zweiten Blick ergeben (Mikroaggressionen und -diskriminierungen).


    Eine weitergehende Begutachtung durch Vertreter und -innen von Gruppen, um die es inhaltlich geht, steht auf einem anderen Blatt. Beim Sensitivity Reading geht es bevorzugt, wie die Bezeichnung schon sagt, um Einfühlsamkeit, um "blinde Flecken" und versteckte, nicht direkt erkennbare Angriffe, die als rassistisch, misogyn, ableistisch, sexistisch usw. zu bewerten wären, die aber von nicht so einfühlsamen Leuten (meistens den Autoren und -innen selbst also) nicht gleich erkannt werden. Dass so etwas überhaupt passieren kann, liegt am internalisierten Rassismus, an der kolonialen und nationalsozialistischen und patriarchalischen Geschichte, die wir qua Geburt allesamt mit uns herumtragen, und für die wir zwar nichts können, die wir aber unbewusst jederzeit transportieren und multiplizieren, wenn wir beispielsweise schreiben.

  • Hallo Tom,


    Jetzt hast du mich trotz des Themas tatsächlich zum Lachen gebracht.:)


    Aber ganz im Ernst: Autorinnen und Autoren, die einen Sensitivity Reader an der Seitenlinie benötigen, um einen Mangel an Einfühlsamkeit zu kompensieren, dürften kaum in der Lage sein, eine lesenswerte Geschichte zu erzählen.


    Und apropos Mikroaggressionen und -diskriminierungen sowie all die versteckten little tiny Angriffe, die möglicherweise als rassistisch, misogyn, ableistisch, sexistisch usw. zu bewerten wären: existieren hierzu als allgemeingültig anerkannte Definitionen?

    Für Autorinnen und Autoren von unschätzbarem Nutzen wäre zum Beispiel ein umfassendes Nachschlagewerk ähnlich dem Pschyrembel in der Medizin.8)

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • Jetzt hast du mich trotz des Themas tatsächlich zum Lachen gebracht.

    Ich würde da auch gerne drüber lachen können, geht aber nicht.


    Aber ganz im Ernst: Autorinnen und Autoren, die einen Sensitivity Reader an der Seitenlinie benötigen, um einen Mangel an Einfühlsamkeit zu kompensieren, dürften kaum in der Lage sein, eine lesenswerte Geschichte zu erzählen.

    Nun, das ist die eine Annahme. Eine andere Annahme beispielsweise bezieht sich auf die Critical Race Theory, die unter anderem besagt, dass Rassismus ein elementarer Bestandteil nicht nur sozialer, sondern auch juristischer, ökonomischer, pädagogischer, informatorischer usw. usf. und nicht zuletzt kultureller Strukturen einer jeden westlichen Gesellschaft ist, wodurch alle auch in postkolonialistische, aufgeklärte Zeiten hineingeborenen weißen (eigentlich aber auch die nichtweißen) Menschen diese Legacy mit in die Wiege gelegt bekommen und lebenslang nicht abstreifen können, selbst wenn sie zu antirassistischen Aktivisten oder -innen werden. Alles, was sie (also wir) tun, trägt diesen Makel, und genauso wenig, wie wir das omnipräsente Privileg verstehen oder überhaupt sehen, das wir genetisch und geografisch genießen, können wir den Makel und seine Folgen erkennen und ausmerzen. Dabei müssen uns andere helfen. Das ist nur ein Aspekt dieses Ansatzes, Und dieser Ansatz ist nur ein Teil des Ganzen, das sich ja auch noch mit Fragen der Misogynie, des Ableismus, der Homophobie und anderen Formen der Diskriminierung (bis zum Bodyshaming) befasst, die sich aber in ähnliche Kausalketten bringen und mit ähnlichen Konsequenzen ausstatten lassen.


    Ganz unabhängig davon, ob die CRT und ihre abgeschwächten oder andere Problembereiche betreffenden Varianten zutreffend sind oder nicht, oder welchem Zweck sie dienen, ist dieser Ansatz natürlich ohne jeden Zweifel ein politischer. Er formuliert politische Anforderungen an Kunst, er legt fest, wie Kunst sein soll oder zu sein hat, in diesem Fall über die negative Regelung (also dessen, was nicht sein darf). Die Qualität der Kunst oder Intentionen oder Freiheiten oder Diskurse oder oder oder spielen dabei keine wesentliche Rolle, weil Kunst hier zuvorderst als Angriff privilegierter Menschen auf nichtprivilegierte Menschen verstanden wird, und es gilt, diesem Angriff die Zähne zu ziehen, die er ganz automatisch mit sich bringt, weil er genetisch Zähne hat. Erst wenn wir die internalisierte Diskriminierung nicht mehr etwa in der Kultur - aber auch in vielen anderen Bereichen - multiplizieren, können wir darauf hoffen, dass die Gesellschaften irgendwann gerecht(er) sein werden. Die Empfindlichkeitsleser helfen dabei. Ob das noch gut, spannend, interessant, lehrreich, vielfältig, provokant, herausfordernd, klug oder wenigstens lesbar ist, was dabei herauskommt, spielt keine wesentliche Rolle, und auch die Frage, ob das überhaupt stimmt, also ob die zugrundeliegenden Theorien zutreffen und beweisbar sind. Oder ob alle die Gesellschaftsentwürfe leben wollen, die hier Zielsetzung sind.


    In den U.S. of A. hat diese Entwicklung bereits ganz andere Züge angenommen, aber dort wie hier steht am Ende die Entscheidung für Künstler und -innen, ob man sich beugt, um überhaupt noch an Verlagsverträge zu kommen, oder ob man einfach in den Sack haut.

  • Das erfordert von "den anderen" eine Objektivität, die ich generell anzweifle.

    Nun, es gibt am theoretischen Gerüst einiges, das man anzweifeln könnte, aber ohne Zweifel auch vieles, über das sich intensives Nachdenken lohnt. Das tut es ja meistens.


    Ich habe aber einen ganz anderen Zweifel, das aufgreifend, was Jürgen angemerkt hat. Er lautet schlicht: "Ist das noch Kunst?" und hat sehr, sehr viele Abstufungen (etwa: "Was hat das mit Kunstfreiheit zu tun?" oder aber auch ganz simpel: "What the fuck?"). Aber ganz unabhängig von diesen Zweifeln oder der Diskussion über sie gibt es eine Situation, mit der wir und alle Künstler und -innen und die Gesellschaft konfrontiert sind. Die Möglichkeit eines Shitstorms, der sich Ravensburger hier gebeugt hat (tatsächlich war es zu diesem Zeitpunkt eher eine Androhung als ein tatsächlicher Scheißesturm), steht exemplarisch - aber nicht alleine - für diese Situation. Sie erreicht alle Ebenen und Formen der Kunst, die darstellende Kunst, den Film, die Malerei, Gesang, Literatur, Schauspielerei, das Kabarett usw.

  • Nun, es gibt am theoretischen Gerüst einiges, das man anzweifeln könnte, aber ohne Zweifel auch vieles, über das sich intensives Nachdenken lohnt. Das tut es ja meistens.


    Sicher, deshalb ist es auch müßig, darauf hinzuweisen.


    Selbsternannte (oder durchaus auch fremdernannte) Theoriewächter lohnen aber m.E. schon nach ein wenig Nachdenken eher nicht.

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  • Herzlichen Dank, Jürgen, für deine lieben Worte.

    Nein, ich werde das Manuskript nicht mehr anbieten. Kein Verlag wird sich dafür interessieren, denn wer möchte nach den Ereignissen beim Ravensburger Verlag einen Shitstorm riskieren oder tagelange Diskussionen führen. Und ich letztendlich bei einer eventuellen Veröffentlichung auch nicht. Das hatte ich bereits bei meinem zweiten Roman. Da gab es seitenlange Diskussionen weshalb meine Prota nicht nachts um 2 Uhr einen verletzten Hund, der ihr zugelaufen war, zum Tierarzt gebracht hat. Natürlich fehlte dieser Kritikerin das Hintergrundwissen. In Andalusien gibt es nicht gleich um die Ecke einen Tierarzt. Oft ist die nächste Möglichkeit sechzig oder mehr Kilometer entfernt, wenn überhaupt. Nutzte alles nichts, die Kritierin wollte recht behalten.

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  • Was mich an dem Konzept kulturelle Aneignung zusätzlich stört, ist die Überhöhung von Kultur, die darin mitschwingt.


    Jeder hier, der nicht in urbaner Anonymität oder erimitischer Abgeschiedenheit groß wurde, wird kulturelle Normen kennen, die ihm, ohne nachvollziehbare Rechtfertigung, Gewalt angetan haben. Sei es ein Männerbild ("Indianer kennen keinen Schmerz"), ein Frauenbild ("Das gehört sich nicht für eine Dame"), der Zwang zum Saufen, weil man des halt so macht gä, sexuelle Leitplanken etc. pp. Kurzum: Kultur ist nichts per se und ausschließlich Positives, sie führt den Zwang und den Gehorsam immer mit sich, ja braucht letzteren, um sich zu erhalten und zu reproduzieren.


    Verfechter kultureller Aneignung behaupten das Gegenteil bzw. ignorieren diese Komponente und den Zugewinn an Freiheit, den jeder Schaden an einer Kultur mit sich bringt.

    Nun kann man sicher argumentieren, dass es nicht Aufgabe des Westens ist, fremde Kulturen zu befreien und sicher ist da historisch auch einiges an Minenfeld bereitgelegt (Kolonialismus). Aber ein Künstler ist nun mal nicht der Westen, und Kunst ist keine Politik.


    Kultur zu etwas Heiligem zu erklären, ist jedenfalls immer eine ganz schlechte Idee, ganz gleich, um welche Kultur es sich handelt.

  • Wie ich gerade erfuhr, hat der ORF ebenso wie die ARD beschlossen, keine Lizenzgebühren mehr für die Winnetou-Filme zu bezahlen und sie damit, in vorauseilendem Gehorsam, aus dem Programm geworfen.

    Damit zeigt uns der mit gesetzlichen Zwangsgebühren finanzierte Staatsfunk, dass er schon still und leise auf die Linie der radikalisierten Hater der westlichen Zivilisation eingeschwenkt ist. Ein klares Signal für mich, schleunigst in den Keller zu gehen und die Karl-May-Bücher, die ich in meiner Kindheit über alles geliebt habe, heraufzuholen und möglichst vielen Kindern als Lesestoff anzubieten.

    „Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen. Je bestimmter die Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie.“ (Gustav Le Bon, „Psychologie der Massen“)

  • Wie ich gerade erfuhr, hat der ORF ebenso wie die ARD beschlossen, keine Lizenzgebühren mehr für die Winnetou-Filme zu bezahlen und sie damit, in vorauseilendem Gehorsam, aus dem Programm geworfen.

    Das ist so nicht korrekt, zumindest nicht für die ARD. Die sendet Karl May Filme schon seit zwei Jahren nicht mehr. Dafür das ZDF. BLÖD hat daraus diese Fakenews gemacht und die werden schön weiter und breit kolportiert. Wie das mit dem ORF ist weiß ich nicht, vermute aber ähnliches.

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    Emanuel von Bodmann


  • Habe das heute einer österr. Internet-Tageszeitung entnommen, der Artikel stammt von Prof. Bernhard Heinzelmayer.

    Sorry, wenn der Inhalt offenbar nicht sorgfältig genug recherchiert wurde.

    „Die reine, einfache Behauptung ohne Begründung und jeden Beweis ist ein sicheres Mittel, um der Massenseele eine Idee einzuflößen. Je bestimmter die Behauptung, je freier sie von Beweisen und Belegen ist, desto mehr Ehrfurcht erweckt sie.“ (Gustav Le Bon, „Psychologie der Massen“)