Ravensburger nimmt aufgrund eines Shitstorms Kinderbücher aus dem Programm - und entschuldigt sich

  • Abgesehen davon habe ich es aber auch schon immer für fraglich gehalten, dass Nicht-Betroffene über solche Themen schreiben und meinen, sie hätten eine Ahnung davon.

    Ergo: Nur noch Autobiografien. Erteilen wir der fiktionalen Literatur, der fiktionalen Kultur eine Generalabsage. Das macht alles einfacher, weil alles andere faschistische Aneignung wäre. Verneinen wir zudem grundsätzlich, dass Empathie überhaupt existiert, und erklären, dass die Unterscheidung von Menschen nach äußerlichen, ethnischen, sexualpräferentiellen, religiösen oder ähnlichen Merkmalen zugleich eine kategorische Unterscheidung darstellt; solche Menschen haben mit anderen Menschen nichts gemein, aber auch rein gar nichts. Homosexueller Liebeskummer etwa ist in nichts vergleichbar mit heterosexuellem. Korrekt?


    Nicht zu fassen, dass Leute, die irgendwas mit dem Schreiben zu tun haben wollen, so argumentieren.

  • Zweieinhalb Ergänzungen.


    1. Nicht jeder Mensch, der irgendeiner "Gruppe" angehört, sei das nun eine unterdrückte Ethnie oder nur Leute, die Bierdeckel sammeln, ist zugleich ein Experte für seine Gruppe. Ganz im Gegenteil befinden sich Menschen, die sich mit dem Wesen, dem Agieren und der kulturellen Wahrnehmung einer Gruppe befassen, oft sogar außerhalb. Die emotionalen Implikationen oder Komplikationen von Gruppenzugehörigkeiten und Gruppenengagement sind aber oft ähnlich, nur die Gründe sind unterschiedlich. Und über die kann man sich informieren, denn:


    2. Kaum jemand würde heutzutage dahergehen und das tun, was Karl May vor plusminus 150 Jahren getan hat, sich nämlich auf Basis kultureller Fragmente einen kulturellen Hintergrund komplett selbst bauen (jedenfalls keinen, der geografisch oder sprachlich so dicht am Original bleibt). Der Mann hat Märchen erzählt, wie Tolkien oder Eddison. Heute tritt man, wenn man über etwas oder jemanden schreiben möchte, das oder der nicht unmittelbar zum eigenen Erleben gehört, in Kontakt. Man führt Gespräche, man recherchiert, man besucht, man sucht auf, man verarbeitet direktes und indirektes Erleben. Am Rande bemerkt: Viele Nationalhelden verdanken ihren späten Ruhm einer mehrfach verklärten und mit hoher Wahrscheinlichkeit vollständig unrealistischen Überlieferung ihrer Geschichte. Die oft sogar unterrichtet wird. BTW - wie soll das mit historischen Romanen gehen? Diese Leute sind schließlich alle tot, können also nichts Fiktionales mehr über ihre Zeit schreiben.


    2 1/2. Der Ansatz, alles als "kulturelle Aneignung" zu bezeichnen, was kulturell verarbeitet wird, ohne dass die Wurzeln der Verarbeitenden damit verbunden sind, also kategorischer kultureller Tribalismus, führte perspektivisch zu einer vollständigen Entlaubung der kulturellen Landschaft, denn das eigene Erleben selbst der schillerndsten Künstler und -innen ist in aller Regel nicht der Rede oder der Erzählung wert. Sich diesem Paradigma zu beugen, im soziologischen Gehorsam sich also dem Erfahren der gesamten Welt durch empathische Kunst zu verweigern, bedeutet, die Basis des gemeinschaftlichen Menschseins zu verneinen. Dieser Ansatz ist so unfassbar verkehrt, dass es mir schwerfällt, Worte dafür zu finden. Nicht in diese Richtung weiterdenken! Das ist ein kampfrhetorisches Mittel und argumentativ kaum haltbar.


    Übrigens wird J. K. Rowling inzwischen von nicht wenigen gemieden, darf nicht einmal an Jubiläumsfeiern zu ihrem eigenen Werk teilnehmen, und wäre sie nicht die eierlegende Wollmilchsau für ihre Verlage, wären ihre Bücher auch längst vom Markt.


    All das hat mit dem Thema des Threads aber nur am Rande zu tun.

  • Und wieder stellt sich die massenpsychologische Frage, wieso sich ein Millionenvolk von einer Handvoll Schreihälsen wie Schafe vor sich her treiben läßt. Wieso sich politische Parteien den Partikularinteressen einer winzigen Bevölkerungsminderheit widmen, statt Politik für die Massen zu machen. Und wieso es derlei Manifestationen nur in bestimmten Gesellschaften gib. Ist das eine Degenerationserscheinung von überalterten, wohlstandsverwahrlosten Völkern, die sich am Ende ihres Lebenszyklus befinden? Denn soweit ich das überblicken kann, scheint sich dieses Phänomen fast ausschließlich auf die USA und Westeuropa zu beschränken.

    "Im Internet weiss keiner, dass du eine Katze bist." =^.^=

  • Nicht zu fassen, dass Leute, die irgendwas mit dem Schreiben zu tun haben wollen, so argumentieren.

    1. Danke für deinen professionellen Umgang mit meiner Ansicht. Du hättest auch schreiben können "Ich sehe das nicht so, weil ...", dann hätte ich vielleicht gesagt "Ah, stimmt, das habe ich so gar nicht bedacht. Da hast du Recht."

    2. Bezog sich mein Kommentar nicht auf Fiktion, sondern auf Menschen, die - wie in dem Shitstorm - für andere über ihre Diskriminierung sprechen. Das mag gut recherchiert und geschrieben sein, aber in diesem speziellen Fall, finde ich das eben schwierig. Und ich persönlich finde das unglaubwürdig. Dazu wollte ich ein Beispiel geben. Mir ging es nicht darum, dass man unter keinen Umständen über etwas schreiben kann, dass man nicht selbst erlebt hat, schließlich machen wir das ständig. Vielleicht kam das falsch rüber.

  • Vielleicht kam das falsch rüber.

    Mmh.


    Ich denke, niemand, der selbst nicht diese Wurzeln hat, würde sich anmaßen oder zutrauen, ein Buch über etwa das Erleben des Antisemitismus' aus persönlicher Sicht eines jüdischen Menschen zu erzählen, weder fiktional, noch als fiktive Biografie. Aber schon die Beispiele, die Du (in Deiner leider gelöschten Nachricht) genannt hast, betreten Bereiche, die, wie ich finde, zulässig sind, die sogar, mehr noch, Herausforderungen darstellen. Wenn ich es schaffe, eine Perspektive einzunehmen, die historisch und biografisch nicht meine ist, dann bin ich ein guter Schriftsteller. Wenn mir Leute, die das lesen, dann begeistert mitteilen, dass mir das gelungen ist, bin ich ein sehr guter Schriftsteller. Und wenn ich scheitere, dann scheitere ich eben - so what? Was mir an Deiner Mitteilung so (sehr) missfallen hat, war die Unterstellung, man könne keine Ahnung haben, wenn man nicht betroffen ist, und man solle deshalb auch die Finger davon lassen. Ich sehe das - von wenigen Problemstellungen abgesehen - komplett anders, und ich meine, dass genau das die Herausforderung von Kunst ist. Denn genau das geschieht auch auf Konsumentenseite: Man nimmt eine Figur, eine Identität an, die man nicht ist - man identifiziert sich mit Leuten, die mit der eigenen Biografie nichts zu tun haben. Wir können das. Wir dürfen das. Wir müssen das. Es hat auch am Rande damit zu tun, dass die Betroffenen manchmal überhaupt nicht selbst können.


    Das Argument, das damit einhergeht, ist eine Fortsetzung der Identitätspolitik. Es geht m.E. um Propaganda.

  • Ich denke, niemand, der selbst nicht diese Wurzeln hat, würde sich anmaßen oder zutrauen, ein Buch über etwa das Erleben des Antisemitismus' aus persönlicher Sicht eines jüdischen Menschen zu erzählen, weder fiktional, noch als fiktive Biografie.

    Die Frage ist, wo ziehst du dann die Grenze? Ich stimme dir ja zu, aber wenn ich mir nicht anmaße, ohne entsprechende Wurzeln über Antisemitismus zu schreiben, darf ich mir dann anmaßen, ohne afrikanische, amerikanische oder asiatische Wurzeln über Rassismus zu schreiben? Letztendlich muss jeder für sich entscheiden, was er sich zutraut. Ich kann mich in Viele/-s hineinversetzen, aber nicht in jemanden, dem jeder Zehnte wünscht, er wäre mit seinem Gummiboot ersoffen. Ich habe einen syrischen Freund, der mir erzählt hat, dass noch ein Bombensplitter in seinem Bein steckt. Ich kann noch so viel recherchieren und werde das trotzdem niemals nachvollziehen können.

    Und meine Beispiele waren auch nicht in Stein gemeißelt, das diente mehr der Veranschaulichung, damit etwas klarer wird, was ich meine und warum. Hoffentlich ist das jetzt etwas verständlicher.

  • Sicher kann ein guter Autor auch über Dinge und Erlebnisse schreiben, die er nicht aus eigener Anschauung kennt. Die Frage ist aber, warum er das tut. Leider gibt es heute viele Autoren, die das nicht unbedingt aus einer künstlerischen Motivation heraus tun, sondern weil sie auf einer woken Betroffenheitswelle mitschwimmen wollen, oder, fast noch schlimmer, aus einer volkserzieherischen Motivation heraus.

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  • Und wieder stellt sich die massenpsychologische Frage, wieso sich ein Millionenvolk von einer Handvoll Schreihälsen wie Schafe vor sich her treiben läßt. Wieso sich politische Parteien den Partikularinteressen einer winzigen Bevölkerungsminderheit widmen, statt Politik für die Massen zu machen. Und wieso es derlei Manifestationen nur in bestimmten Gesellschaften gib. Ist das eine Degenerationserscheinung von überalterten, wohlstandsverwahrlosten Völkern, die sich am Ende ihres Lebenszyklus befinden? Denn soweit ich das überblicken kann, scheint sich dieses Phänomen fast ausschließlich auf die USA und Westeuropa zu beschränken.

    Wie dramatisch. Gleich mal bei Amazon einen Bunker ordern.

  • Und wieder stellt sich die massenpsychologische Frage, wieso sich ein Millionenvolk von einer Handvoll Schreihälsen wie Schafe vor sich her treiben läßt. Wieso sich politische Parteien den Partikularinteressen einer winzigen Bevölkerungsminderheit widmen, statt Politik für die Massen zu machen. Und wieso es derlei Manifestationen nur in bestimmten Gesellschaften gib. Ist das eine Degenerationserscheinung von überalterten, wohlstandsverwahrlosten Völkern, die sich am Ende ihres Lebenszyklus befinden? Denn soweit ich das überblicken kann, scheint sich dieses Phänomen fast ausschließlich auf die USA und Westeuropa zu beschränken.


    So, ich möchte mal einhaken, weil es doch auch ein bisschen um Shitstorms geht: Derzeit sind nicht wirklich die "linksgrünversifften" Empörungswellen irgendwelcher Minderheiten-Stellvertreter das große gesellschaftliche Problem, sondern die von toxischen rechten Trollfabriken, Verschwörungsheinis, Retweet-Verteiler-Bots und Telegram-Mobbing-Gruppen inszenierten und recht professionell choerografierten Haterstorms, die in den Dunkelkammern stattfinden, auf schieren Lügen basieren und ihr Klientel maximal anstacheln. Da geht es um die Abschaffung des öffentlichen Rundfunks, sämtlicher staatlicher Institutionen, um Mordaufrufe und andere Nettigkeiten, kein Vergleich zur sogenannten Cancel Culture. Und diese Demokratiefeinde sind sicher keine Schreihälse, die machen einfach, schießen Ladenbesitzer mit Migränehintergrund über den Haufen, schießen Walter Lübke ab, legen einen Tankstellenjobber wegen Maskenpflicht um, etc.


    Nur, um die Dinge bisschen vom Kopf auf die Füße zu stellen und so: Jene echten "Degenerationserscheinungen" gibt es besonders in Diktaturen, da sind mir überalterte Demokratien dann doch lieber ;)

  • Eine Randbemerkung noch: Beim Vorwurf der kulturellen Aneignung geht es nicht um ein „Du solltest das nicht tun, weil Du dem niemals gerecht werden kannst“, sondern um ein „Du darfst nicht, weil es nicht Deins ist.“ Die Frage also, ob und wie gut es gelingen kann, sich in jemanden hinzuversetzen, der einen anderen Erfahrungshorizont, andere Neigungen hat, einem anderen Kulturkreis entstammt oder schlicht an etwas ganz Anderes glaubt, steht überhaupt nicht im Raum, sie ist bestenfalls nebensächlich, meistens aber unerheblich. Schon der Versuch ist strafbar.

  • So ist es bei Karl May gewesen. Er behauptete dann auch noch, dass er das wirklich selbst erlebt hatte.

    Ja, das hat er eine Zeitlang gemacht, angestiftet durch die Leser, die das glauben wollten. Er konnte in dieser Zeit nicht wirklich differenzieren zwischen seiner erfundenen und der realen Welt. Als er sich dann endlich aufmachte, den Orient tatsächlich kennen zu lernen, erlitt er auf dieser Reise (1899/1900) einen Zusammenbruch und schrieb fortan anderes, das aber nicht mehr so gern gelesen wurde. Arno Schmitt zählte dieses "Alterswerk" zu dem wirklich bedeutsamen, das May geschrieben habe. Tatsächlich hat May aber lange seinen Auftraggebern und auch seinen Freunden gegenüber seine Texte als das ausgegeben, was sie waren: erfundende Geschichten.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Kuhlen, Kohlen und Geklimper

    ASIN/ISBN: 3947848994


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • In dieser Diskussion wurde mehrmals darauf hingewiesen, dass die Verlage deswegen sofort zurückzucken würden, sobald etwas Gegenwind aus der Ecke der Erwachten kommt, weil sie ansonsten Umsatzeinbußen riskieren. Frage: Gibt es dazu belastbare Zahlen? Und falls es solche Zahlen nicht gibt, könnte es dann nicht sein, dass es sich genau umgekehrt verhält, dass Menschen, die genug haben von dieser Zensur durch die Hintertür, diese Tatsache bei der nächsten anstehenden Kaufentscheidung berücksichtigen werden? Schaue ich mir die Zahlen von Umfragen zu diesen Themen an, würde es mich nicht überraschen, in Kürze zu lesen, dass sich Entscheidungen wie die von Ravensburger umsatzmäßig als Bumerang erwiesen hätten.


    Wobei sich mir sofort ein anderer Gedanke aufdrängt. Mich wundert immer wieder, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit von besorgten Bürgern angezeigter, weil in ihrem Verständnis unkoscherer Content in den Printmedien ebenso wie in digitalen Medien zu einem Thema hochgejazzt wird, neben dem der Klimawandel, die Kriege in Syrien und der Ukraine sowie das Hungern und Sterben im Jemen und am Horn von Afrika wie nebensächliche Faits divers erscheinen. Was also, wenn einige woke Ghostbuster nicht nur maximal Radau in den Medien machen, sondern Mitglieder derselben Blase bereits in immer größerer Zahl die Redaktionsstuben bevölkern? Dass Erstere also als Stichwortgeber fungieren, damit Letztere die gewünschten Reaktionen provozieren und gleichzeitig der Mehrheit unwoker Schlafschafe verklickern können, was sie gefälligst zu denken und zu meinen haben, und die zu schlechter Letzt die Kunst zum Schoßhündchen eines moralinaffinen neuen Spießbürgertums abzurichten versuchen.


    Ich vermische mit voller Absicht Termini der Aluhütefraktion mit solchen der moralisch Dauereregten, weil ich glaube, dass sich beide aus einer ähnlichen, wenn nicht gar identischen Persönlichkeitsstruktur speisen, die einen tiefsitzenden Minderwertigkeitskomplex vermittels eines elitären Absolutheitsanspruchs zu kompensieren versucht.


    Ich würde gerne über all das lachen, wenn es nicht so traurig wäre und, ehrlich gesagt, macht mir diese Entwicklung auch Angst. Aber dann, hin und wieder, frage ich mich, ob wir diese Leute vielleicht nicht doch zu ernst nehmen? Stattdessen ihrer Realsatire mit echter Satire begegnen sollten, auch und gerade, weil Satire seit geraumer Zeit eben wegen dieser Leute einen so schweren Stand hat. Spontan fallen mir ein paar Überschriften zu entsprechenden Texten ein:


    - Darf man das? Heute: Die Kunst der Aneignung

    - Summer Challenge – Kampf der Titanen: „Der Duden“ versus „Das Lexikon der Tabuwörter“ – Wer hat mehr Seiten?

    - Der Shitstorm: Eine unerschöpfliche Energiequelle für die Windmühlen der Kunst

    - Der Krieg der Knöpfe oder: Das Königreich der himmlischen Moral gegen die Hölle der künstlerischen Freiheit


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

    "Bibbidi-Bobbidi-Boo!" (Die Gute Fee in Cinderella)

  • Hallo, Jürgen.


    Ich hatte weiter oben die noch immer nicht vergessenen Neunzigerjahregerüchteskandale um Müllermilch, Warsteinerbier und Beckersaft erwähnt, die krasse wirtschaftliche Folgen für die Betriebe hatten, teilweise existentieller Art. Und Ravensburger ist keine Brauerei, die sowieso Zeug herstellt, das mindestens die Gesundheit ruiniert, sondern in einem wesentlichen Geschäftsbereich ein verdammter Kinderbuchverlag, also ein Laden, dessen Kernkompetenz im pädagogischen Segment in besonderer Weise erwartet wird. Da der Winnetou-Vorfall sogar die Primetime-Nachrichten erreicht hat (vorgestern zweiter Beitrag in der Zwanzigfünfzehn-Tagesschau), ist davon auszugehen, dass, wie in den sozialen Medien auch von vielen Leuten angekündigt wurde, ein gewisser Boykotteffekt entstehen wird, dessen indirekte langfristige Wirkung (Imageschaden, Einfluss auf das unbewusste Kaufverhalten) nicht abzuschätzen ist. Die Frage ist, ob umgekehrt diejenigen, denen es gefällt, wenn ein Konzern einem solchen woken Shitstorm weicht, verstärkt zu den Produkten greifen. Aber "belastbare" Zahlen gibt es zu beidem nicht und wird es vermutlich auch nicht geben. Negative Effekte dürften sich aber ohne Frage einstellen, und es hätte sie auch gegeben, hätte Ravensburger anders reagiert - das ist das Fatale an diesen Vorgängen: Du kommst da nicht unbeschadet raus.


    Es wäre tatsächlich zu einfach, das auf die soziopolitische Mordlust einzelner zu reduzieren, auf den Spaß an der Wirkung des Klickprotests. Ich würde zwar nicht so weit gehen, eine flächendeckende Verschwörung zu vermuten, aber es gibt ein Klientel, dem der Erfolg dieser Maßnahmen sehr gut gefällt (nicht nur in den soziologischen Fakultäten der Großstadtunis), und ich muss zu meiner Schande gestehen, dass auch ich zwischen Grusel und Euphorie pendle, denn es ist in gewisser Weise begeisternd, dass heutzutage jeder Mensch die Macht hat, die digitale Meinungskeule zu schwingen, und zwar mit sichtbarem Erfolg. Die Begeisterung erreicht allerdings ein jähes Ende, wenn man selbst ins Fadenkreuz gerät, und wenn man sich damit auseinandersetzen muss, mit Vorwürfen konfrontiert zu sein, gegen die man sich längst nicht mehr erfolgreich wehren kann, weil die Dynamik diese Ebene ungeheuer schnell verlässt; vor allem auf Twitter hat man null Chancen zur Gegenwehr. Mehr noch, die Qualität des Vorwurfsmoments spielt keine Rolle mehr, also die Frage, ob ein Vorwurf intellektuell, kulturell, politisch überhaupt als ein solcher zu werten wäre. Wenn genügend Leute mitschreien, hast Du keine Chance. Du wirst aus dieser Sache nicht unbeschadet herauskommen. An dieser Stelle gesellt sich ein drittes Gefühl dazu, nämlich Wut - die Wut darüber, wie wenig es den Initiatoren und -innen auszumachen scheint, welchen Schaden sie anrichten. Mehr noch. Wie großen Spaß es ihnen zu machen scheint, das zu erreichen. Wenn es Künstler und -innen beispielsweise aus der Comedyszene trifft, darf man sich dann irgendwann das Argument anhören, dass die- oder derjenige ja sowieso so erfolgreich war, dass der jetzt entstandene Schaden leicht auszuhalten ist. Man hat ja noch eine zweite Niere, sozusagen. <X

  • Ich möchte hier noch den Mechanismus der Aufmerksamkeit im Digitalen anfügen:


    Nach oben gespült wird, in den Timelines, Feeds und persönlichen Vorschlägen, das, was viel kommentiert, geliked, gedisliked usw. wird, kurz, was Interaktion verspricht, die Währung der sozialen Medien eben.


    Die von den sozialen Medien bedrohten, klassischen Medien haben sich diesem Mechanismus längst angepasst und schreiben daher nicht nur Clickbait-Artikel ("DIESES Problem hätte J-Lo bei ihrer Hochzeit nicht erwartet!"), sondern schreiben Artikel in der vollen Absicht, eine solche virale Auseinandersetzung auszulösen, da nur das ihnen noch Klicks garantiert und die Nutzer von dem hermetisch abgeriegelten System (Instagram und Tiktok lassen schon gar keine externen Links mehr zu) zu ihnen hinüberspült.


    Und was verspricht mehr Interaktion als moralische Themen (streng zu unterscheiden von politischen)? Deshalb erhalten Twitter-Fanatiker Aufmerksamkeit in den klassischen Medien, deshalb gibt es Artikel über die vielleicht doch anzustrebende Absage der Wiesen wegen einem drohenden Superspreader-Event (Süddeutsche seit Wochen) usw.


    Einen Ausweg daraus sehe ich erstmal nicht, auch wenn die großen Digitalunternehmen natürlich längst zerschlagen gehören (so links bin ich dann schon hehe), da sie zentrale Bereiche des ehemals öffentlichen und damit der Allgemeinheit gehörenden Lebens kapitalisiert und dabei Mono- bis Oligopole errichtet haben.

  • Die oft kritiklose Aufwertung/Adelung all dessen, was digital geschieht, dadurch, dass es in den Qualitätsmedien aufgegriffen und wiederholt wird, ist tatsächlich problematisch. Das beginnt bei Magazinsendungen, in denen nicht immer glücklich formulierte social-media-Kommentare zu Alltagsereignissen wiedergekäut werden, und endet noch längst nicht bei einem Ereignis wie diesem hier, das an einer Quelle begonnen hat, deren Hintergrund so gut wie keine Rolle spielt. Die Demokratisierung der Meinungskultur geht leider mit qualitativen Verlusten einher, die zuweilen dramatisch sind; letztlich ist es der vielerwähnte Stammtisch, der plötzlich mitten im Salon steht.

    Aber ich habe auch ein gewisses Vertrauen darin, dass Gesellschaften lernfähig bleiben und das auch an dieser Stelle mittelfristig unter Beweis stellen. Davon abgesehen wird es die anonyme Kommentarkultur in dieser Form vermutlich nicht mehr lange geben. Wir eumeln letztlich mit einer frühen Alphaversion dessen herum, was aus der globalen Vernetzung werden wird.

  • Geht hier nicht einiges durcheinander? Die neuen in Rede stehenden Romane, der Film, Karl May … und manchmal auch die Argumente. Auf der einen Seite kann man ja durchaus das Recht eines Autors hochhalten, das zu schreiben, was er möchte, auch über Lebenswirklichkeiten, die ihm persönlich ferner nicht sein könnten, und auch die Befähigung dazu darf man ihm durchaus zutrauen - auf der anderen Seite geht es hier aber ausgerechnet um ein Buch (oder mehrere), die nun gerade nicht von besonderer Lebensnähe geprägt sind. Das Recht eines Autors, Märchen zu erzählen, wird demnach höher geschätzt als die Interessen Angehöriger einer Minderheit, die - verallgemeinernd gesprochen - sich womöglich ja aus gutem Grund nicht immerzu als Klischeefigur dargestellt sehen möchte. Wobei hier erschwerend hinzukommt, dass ihre Familien womöglich schon schlimmer behandelt worden sind als die Schriftsteller, deren Werk nun verpönt ist, was aber sooo bekannt nicht ist, vielleicht ja auch deshalb, weil es dieses Bild vom „edlen Wilden“ gibt, das sich vielen von uns eingeprägt hat.


    Ja, die Autoren dieser vom Verlag nun zurückgezogener Bücher haben die A-Karte gezogen. Der Verlag hätte zu seinem offenbar im Buch vorhandenen Disclaimer, wonach es sich um eine romantisierende Darstellung handelt, fester stehen können - oder es von vornherein lassen können.


    Ja, es ist ein Unterhaltungsstoff. Weil diese Art Fiktion natürlich weit angenehmer zu lesen ist als die Wirklichkeit. Diskreditiert diese Erzählung? Wahrscheinlich nicht. Außer vielleicht, man zementiert so ein geschöntes Bild, das die Realität konstant unterdrückt. Wie (einst) ganze Volksgruppen an sich. Dann wird nämlich auch Romantisierung und Heroisierung problematisch. Solange es keine Unterdrückten gibt, gibt’s auch keine Unterdrücker.


    Ich bin mir uneins: Da sind auf der anderen Seite die unsäglichen Shitstorms, denen sich ein Verlag besser erwehren können sollte (wünschen darf man sich das ja), und auf der anderen Seite: siehe oben. Wenn man das eine Recht hochhält, spricht man dem anderen - sich in Film, Literatur etc. nicht als ausgedachte Fantasiefigur, die jeder Realität entbehrt wiederzufinden - die Berechtigung ab.

    PS: C. H. Beck hat gerade auch ein ähnlich gelagertes (?) Problem - deren „Glück“ ist vielleicht, dass Winnetou deutlich populärer ist als irgendein trockener Rechtskommentar.